Nach einiger Überzeugungsarbeit und „bitte bitte bitte" mit Hundeblick von Julia, konnte Colin seiner Freundin den geplanten Bar-Besuch nicht mehr abschlagen, auch wenn er insgeheim wusste, dass sie auch nur wegen ihm in diese Bar gehen wollte.

Als sie am Abend die Bar betraten, leuchteten erstmals seit seiner Ankunft in Köln Colins Augen wieder etwas auf. Sie bestellten sich alkoholfreie Cocktails, tanzten zu der für beide neuen Musik und kamen sogar mit drei anderen Jugendlichen ins Gespräch, die zuerst Julia angesprochen hatten, da diese durch ihr buntes Outfit unter den schwarzen Klamotten der anderen doch sehr auffiel. Als sie sich am Ende des Abends voneinander verabschiedeten und vor der Bar in verschiedene Richtungen zur Straßenbahn mussten, drückten die drei Colin und Julia noch einen Flyer eines alternativen Jugendtreffs in die Hand, in dem sie sich engagierten und wo auch regelmäßig Konzerte veranstaltet wurden.

Auch wenn Julia mit ihren Ablenkungsversuchen wirklich ihr Bestes gegeben hatte, aber das nächsten Samstag im Jugendtreff stattfindende Konzert war Colins erster wirklicher Lichtblick seit seiner Ankunft in Köln. Er freute sich schon die ganze nächste Schulwoche darauf und wurde vor dem Konzert schon von seinen neuen Bekannten zum Vorglühen eingeladen. Auf den ersten Blick hatten diese überhaupt nichts mit seinen alten Freund*innen aus Erfurt zu tun, alle trugen fast ausschließlich Bandshirts, mache waren sogar schon tätowiert oder trugen Piercings im Gesicht, aber trotzdem fühlte sich Colin von ihnen schnell so verstanden, dass er bald fast seine ganze Freizeit im Jugendtreff und auf den Konzerten verbrachte. Manche der anderen Jugendlichen dort wunderten sich aber eher über ihn, da er irgendwie anders war als die meisten dort. Während die meisten dort Bier oder Cola tranken, brachte sich Colin meistens eine Pastinaken-Limo mit, die ein Freund von ihm selbst zubereitete. Außerdem trug er während der Konzerte häufig große Overear-Kopfhörer, da er sein Gehör schützen wollte und kam bei vielen Gesprächen nicht ganz mit, da er von den besprochenen Filmen und Büchern noch nie gehört hatte. Immerhin klappte mit etwas Übung und Make-Up-Nachhilfe von Julia das Eyeliner ziehen und Nägel lackieren immer besser und Colin sprach nach ein paar Wochen auch immer weniger von einem gewissen „Noah". Er ging sogar mit einem anderen Jungen aus dem Jugendtreff auf einige Dates, merkte jedoch, dass jeder Körperkontakt und jeder Blick in seine Richtung sich falsch anfühlten.

Eines Nachmittags war Colin im Jugendtreff gerade dabei den Veranstaltungskalender für den nächsten Monat in sein Handy zu übertragen, als plötzlich Noahs Bild auf seinem Bildschirm erschien und darunter „eingehender Anruf" stand. Ohne zu zögern, tippte Colin auf das grüne Symbol und fragte „Noah?", während er ganz blass wurde. Nach einigen Sekunden Stille am anderen Ende der Leitung wurde der Anruf beendet, ohne dass Noah auch nur ein Wort gesagt hatte. Den anderen Anwesenden waren Colins veränderte Gesichtsfarbe und sein verwirrter Blick gleich aufgefallen, sodass sie ihn erstmal zu den Sofas im Nebenraum brachten, seine Beine hochlegten und ihn zwangen ein Glas Wasser zu trinken. Als er die anderen darum bat, ihn allein zu lassen, griff er instinktiv zu seinem Handy, um nochmal nachzuschauen, ob er das gerade geträumt hatte, oder ob Noah ihn wirklich angerufen hatte.

Als nach einer halben Stunde einer seiner neuen Freunde nach ihm sehen wollte, saß Colin schon wieder gemütlich auf dem Sofa und starrte nur glücklich in sein Handy: „Noah hat mir geschrieben!", berichtete er und grinste von einem Ohr bis zum Anderen. Seine neuen Freund*innen waren nun noch mehr verwirrt von Colin als zuvor, wollte er Noah nicht eigentlich vergessen?

Zuhause im Internat musste er natürlich sofort Julia von den Ereignissen des Nachmittags berichten. Die traute ihren Ohren nicht und wollte sofort den Chatverlauf mit Noah sehen. Colin kramte sein Handy aus der Tasche und streckte es ihr entgegen: „Hier, kann aber sein dass du etwas scrollen musst..." Während Julia also begann zu lesen und immer wieder abwechselnd den Kopf schüttelte und Sachen sagte wie „hab Noah solche Nachrichten ja gar nicht zugetraut, mir hat er immer nur mit einem Wort geantwortet", starrte Colin die ganze Zeit glücklich an die Wand. Noch bevor Julia fertig damit war, alle Nachrichten zu lesen, fragte Colin nach Julias Laptop und suchte nach Zugverbindungen nach Erfurt für das nächste Wochenende. Als Julia sich neugierig zu Colin beugte und auf den Bildschirm sah, sagte sie: „okay, also ich muss schon zugeben, dass Noah vielleicht doch nicht so ein Arschloch ist, für das ich ihn gehalten habe... Aber glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, jetzt nach Erfurt zu fahren? Ich meine, du hast so lange gebraucht, um halbwegs über ihn hinweg zu kommen und wenn du ihn jetzt wieder siehst und er dich doch wieder abweist, weiß ich nicht, wie lange ich dann brauchen würde, um dich wieder aufzupäppeln." Colin musste einen Moment lang überlegen, Julia hatte ja irgendwo recht, aber dieses Mal konnte ihn sein Bauchgefühl doch nicht schon wieder betrügen, oder? „Julia, ich muss dahin, ich muss zu Noah. ... Und außerdem muss ich mir von Joel Nachschub von der Pastinakenlimo besorgen." Julia wusste, dass sie Colin diese Idee nicht mehr aus dem Kopf schlagen konnte, konnte sich aber gleichzeitig ein gespieltes Lächeln nicht verkneifen. Colin klickte auf „Jetzt buchen!" und bastelte noch am selben Abend einen Countdown bis zu seiner Abreise in fünf Tagen, den er an seiner Zimmertüre aufhing.

Am Freitagnachmittag nach der Schule begleitete Julia Colin schließlich noch zum Hauptbahnhof, und half ihm den richtigen Gleisabschnitt für seine Sitzplatzreservierung zu suchen. (Wobei der Zug natürlich mit verkehrter Wagenreihung einfuhr und Colin am Ende doch den ganzen Bahnsteig entlang sprinten musste) Als Colin einstieg und der Zug abfuhr, stand Julia noch einige Sekunden am Gleis und hoffte inständig, dass sie Colin in zwei Tagen nicht schon wieder mit einem gebrochenen Herzen in Empfang nehmen muss.

Nach fast über einer Stunde Verspätung wurde Colin von der Durchsage „Wir erreichen in Kürze Erfurt Hauptbahnhof" aus seinen Gedanken gerissen. Er packte also seine Sachen zusammen und wollte sich in seinen langen schwarzen Mantel werfen, den er in einem Second-Hand-Laden in Köln günstig ergattert hatte, doch irgendetwas fühlte sich nicht richtig daran an ihn in Erfurt und ganz besonders bei Noah zu tragen. Er zog hastig seinen bunten Pullover, den er eigentlich nur eingepackt hatte, um ihn auf der Kleidertauschparty einzutauschen, aus dem Rucksack, zog ihn sich über, betrachtete sein Spiegelbild im Zugfenster und lächelte zufrieden. Da der Zug schon dabei war in den Bahnhof einzufahren, machte er sich auf den Weg zur Tür des Zugs und atmete noch einmal tief durch bevor er ausstieg, um sich innerlich auf die bevorstehende Begegnung mit Noah vorzubereiten.


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