Kapitel 6 - Ghost of Yesterday - Teil 1

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„Ich brauche Informationen und deinen Rat, muss aber etwas ausholen. Hast du ein bisschen Zeit?"

„In einer halben Stunde habe ich Mittagspause. Es kommt wahrscheinlich sowieso keiner mehr, da kann ich auch jetzt schon zumachen." Mary hatte den Satz kaum beendet, da war sie schon in den Laden geeilt, um das Schild im Schaufenster auf ‚Geschlossen' zu drehen und den Eingang abzuschließen.

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„Entspann dich und gib nichts auf die alten Geschichten!"

Mit diesen Worten wurde Kitty von ihrer mütterlichen Freundin verabschiedet. Es hätte sie erleichtern müssen, dass Mary ihr von Mauds Demenzerkrankung erzählt und erklärt hatte, dass die alte Dame sämtliche Gerüchte, die sich um Crow House rankten, durch die Krankheit für wahr hielt und für noch viel dramatischer, als die mündlich überlieferten Geschichten tatsächlich waren. Es klang logisch, und doch konnte Kitty den Rest des Unbehagens, das sie seit Mauds unheilvoller Warnung verfolgte, nicht abschütteln. Es lungerte wie ein Schatten am Rande ihres Sichtfeldes herum und ließ sie sich immer wieder umsehen, nur damit sie feststellte, dass dort nichts war als die noch wärmenden Strahlen einer schwindenden Herbstsonne.

Während sie dem angeblich verfluchten Haus entgegen strampelte und die sanfte, aber lange Steigung verwünschte, versuchte sie Marys nüchternem Tonfall mehr Gewicht zu verleihen als dem Inhalt der verschiedenen Gerüchte. Eines war jedoch allen gemeinsam. So war irgendwann im 18. Jahrhundert eine junge Frau aus einem unbedeutenden Zweig des Clan McRae von ihrem Liebhaber aus dem Hochadel in dem Haus erstochen worden, weil er ihrer überdrüssig geworden war. In einer anderen Version war sie schwanger und hatte gedroht, es seiner zukünftigen Braut zu erzählen und so die gewinnbringende Hochzeit zu sabotieren.

Es war ihr Geist, der das Haus heimsuchen sollte. Mal wurde sie dort als weiße Frau gesichtet, mal hörte man nachts ihr Weinen und Wehklagen. Wiederum andere Geschichten erzählten von unerklärlichen Todesfällen unter den nachfolgenden Besitzern oder Spuk, der sich wie dämonische Besessenheit auch körperlich in den Bewohnern manifestierte. Kitty hatte längst nicht mehr alle Gruselgeschichten im Kopf - nur Marys Beteuerung, dass keiner der Handwerker, die mit dem Umbau zu einer einfachen Ferienunterkunft beauftragt waren, je über ein übernatürliches Erlebnis gesprochen hatte.

Die Anstrengung des Bergauffahrens, sowie die kühle Herbstluft hatten Kittys Beklemmung weiter zerstreut. Und als sie ihr Fahrrad durch das noch offen stehende Gartentor schob, war sie entschlossen, die Gespenstergeschichten im tiefsten Brunnenschacht ihrer Seele zu versenken. Sie war ein rationaler Mensch und überdies einer, der auf diese eine Bleibe angewiesen war und sich dort eigentlich ganz wohl fühlte. ‚Außerdem ist seit Mauds Auftritt nichts Komisches mehr passiert', dachte sie, wie um sich selbst gut zuzureden. Am besten räumte sie den Schuppen aus und schleppte die dort gelagerten Schränke vorerst in den Dachboden. Sie brauchte den Platz für das Brennholz, das Scott ihr später am Nachmittag vorbeibringen wollte.

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Ächzend schleppte Kitty die letzten Bretter ins Dach und legte sie ordentlich auf die schon aufgeschichteten Stapel. Sie hatte nicht vorgehabt, die Möbel zu zerlegen, doch komplett waren sie zu schwer gewesen, um sie allein zwölf unregelmäßig durchgetretene Stufen und eine wackelige Auszugsleiter hoch zu tragen. Die ganze Aktion hatte sie noch viel mehr Zeit gekostet, weil sie nur über verschiedene Schraubendreher, Hammer und eine Zange verfügte. Als Nächstes musste sie sich dringend einen Akkuschrauber besorgen.

Nach einem Blick auf die Armbanduhr hastete sie ins Bad, um sich vor einem fast blinden Spiegel Spinnweben vom Kopf zu zupfen. Staub und Schweiß hatten sich zudem zu verschmierten Flecken auf Stirn und Nase vereint. Eigentlich sollte Scott schon vor zwanzig Minuten hier sein, aber es war ihr ganz recht, dass noch Zeit war, sich wieder vorzeigbar zu machen.

Home Sweet HomeWhere stories live. Discover now