Blaue Stunde

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Das nicht zu bändigende Grübchen zeigt sich flüchtig. „Ja, ich habe verstanden."

„Gut so." Ich setze mich neben sie, greife das Schreibmaterial und zeichne ein großes ,A' auf ein Blatt Papier. „Das hier ist ein A", erkläre ich Anemone.

„A?" Sie runzelt die Brauen und eine senkrechte Falte erscheint zwischen ihnen. „Was ist ein A?"

„Ein Buchstabe und ein Laut. So schreibt man es, wenn jemand ‚A' sagt. Und dieses ‚A' ist auch der Laut, mit dem dein Name beginnt."

„Oh. Ich glaube, ich verstehe. Es ist auch der Laut, mit dem Euer Name endet, nicht wahr?" Ihr Gesicht erhellt sich bei dieser Erkenntnis.

„Ja, genau. Das hast du sehr schnell begriffen." Ich habe inzwischen ein weiteres Ballt mit einigen Linien versehen und reiche es ihr zusammen mit dem Kohlestift. „Mach es mal auf dieser Linie nach."

Zögernd nimmt Anemone den Stift entgegen und setzt ihn aufs Papier. „Oh!" Sie reißt die Augen auf, als sie den Kringel sieht, welchen sie fabriziert hat. „Das – habe ich das gemacht?"

Eindeutig hat sie noch nie ein Schreibwerkzeug in den Händen gehabt. Sie handhabt den Stift zwar sicher, auch wenn sie ihn hält wie eine große Nähnadel, aber dass ihr Tun Spuren auf dem Papier hinterlässt, hat sie überrascht. Es ist wie ein Sinnbild für ihr ganzes Leben. Selbst ein zweiter Prinz wie ich wird in den Geschichtsbüchern der späteren Jahre Erwähnung finden, aber das Leben der Paria ist flüchtig wie über Nacht gefallener Schnee, der in der Morgensonne schmilzt. Wenn sie entlassen werden, erinnert sich der Haushofmeister eine Woche später nicht einmal mehr an ihre Namen oder an ihre Gesichter und die Adlige, der eine Zofe jahrelang gedient hat, bemerkt es nicht einmal, wenn diese ausgewechselt wird. Stirbt ein Paria, ist er innerhalb weniger Wochen vergessen. Diejenigen, für die er gearbeitet hat, haben keinen Anlass, seiner zu gedenken und seine Familie keine Zeit dafür. Paria hinterlassen keine Spuren in den Geschicken des Landes und in den Herzen ihrer Mitmenschen.

Aber Anemones Spuren sind tief und unauslöschbar in meinem Herzen. Und nun auch auf diesem Papier.

Meine Leibmagd betrachtet den fabrizierten Kringel

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Meine Leibmagd betrachtet den fabrizierten Kringel. „Der ist völlig falsch", verkündet sie ernsthaft.

Ich kann nicht anders, ich muss über ihre Enttäuschung lachen. „Du bist ja auch gleich zurückgezuckt, als du gemerkt hast, dass der Stift aufs Papier abfärbt. Aber Schreiben funktioniert nun einmal so."

„Darf ich es noch einmal probieren?", fragt sie. Sie ist jetzt ganz bei der Sache und hat endlich die dämliche Hoheit abgelegt. Ich hasse es ohnehin, mit diesem Titel angesprochen zu werden und gerade von ihr würde ich lieber meinen Namen hören. Aber das wird ein langer, schwerer Weg und ich weiß nicht einmal, ob sie ihn jemals beschreiten wird.

„Du kannst es so oft probieren wie du willst. Darum habe ich diese Linien gemacht, du kannst sie ganz mit As füllen. Du musst es ja üben, wenn du es können willst." Mir geht auf, dass ich sie gar nicht gefragt habe, ob sie überhaupt Lesen und Schreiben lernen will. Jetzt ist es zu spät für eine solche Frage und ihre glänzenden Augen, die vor Feuereifer funkeln, geben mir ohnehin schon die Antwort.

Das blaue Leuchten der PariaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt