Mir fiel nichts ein, das ich sagen konnte, um ihn davon zu überzeugen, dass Markus kein guter Umgang war. Ich hatte weder Beweise noch irgendwelche Anhaltspunkte. Dass er mir nicht einfach so beim ersten Treffen von der wahrscheinlich schlimmsten Zeit seines Lebens erzählt hatte, war nicht unbedingt ein Grund, ihn zu verteufeln.

Rational wusste ich das. Es fühlte sich nur ganz anders an. Was tatsächlich auch ganz gut zu erklären war. Zumindest hatte Damian das behauptet: Mein schlechtes Gefühl Markus gegenüber galt in Wahrheit nicht ihm, sondern dem Trauma und Verlust, die ich mit ihm verband.

Markus zu sehen bedeutete auf die Personifizierung meines schlimmsten Momentes zu blicken, der mich seit 14 Jahren verfolgte.

Nach der Klinik hatte ich geglaubt, ich hätte so weit damit abgeschlossen, es als etwas zu akzeptieren, das passiert war und an dem ich nichts mehr ändern konnte. Aber vor Markus zu stehen, holte all das aus der Vergangenheit direkt in die Gegenwart. 14 Jahre des Verdrängens und Davonlaufens. 14 Jahre der Bilder und der Flucht davor. Nur, um jetzt davon eingeholt zu werden. Immer und immer wieder. In Form meines Bruders. Jemandem, den ich vermisst hatte. Von dem ich gedacht hatte, dass bei ihm zu sein, alles besser machen würde. Stattdessen machte es alles nur schlimmer. Es machte es real.

„Mein Gott, hast du es echt so nötig, dass du deinen Arsch für ein Statussymbol hinhalten musst?" Alisha boxte Finn die Seite. „Du bist mehr wert als das! Reiß dich zusammen!"

Finn krümmte sich hustend. „Das sagst du nur, weil du selbst feucht im Höschen bist."

Dafür erntete er einen weiteren Schlag, diesmal auf den Rücken. Finn schrie auf und schleppte sich an mir vorbei zu Damian, um sich hinter ihm vor Alisha zu verstecken. Sie deutete an, ihm zu folgen, stoppte aber aufgrund eines Rufes aus der Richtung des Schulgebäudes.

„Hey, schaut euch die jammernde Tunte an!"

Lachen ertönte. Ich musste gar nicht erst hinsehen, um zu wissen, von wem die Stimmen kamen.

Stattdessen richtete ich mich an meine Freunde. „Lasst uns gehen."

Wir liefen los und ich warf Finn einen besorgten Blick zu. Er lief wieder aufrecht, schien sein großes Leid nach Alishas Schlägen also vorgetäuscht zu haben oder, und das hielt ich für viel wahrscheinlicher, er war verdammt gut darin, Schmerzen zu überspielen.

Mir entging ebenso wenig, dass Damian einen Schritt hinter uns allen lief. Ich wusste, warum er das machte. Er wollte uns genauso vor Ricos Gruppe abschirmen, wie ich Finn vor Markus abschotten wollte. Nur, dass wir jetzt direkt auf ihn zuliefen. In diesem Fall, aber, war er das kleinere Übel.

Als er sah, dass wir auf ihn zukamen, nahm er seine Sonnenbrille ab und steckte sie in den Kragen seines Oberteils. Er hatte eine Hand in der Hosentasche und hob die andere, um uns zu winken.

Finn winkte zurück und meinte dabei: „Von weiter weg sah er besser aus."

Er tat so als wäre er enttäuscht, aber ich glaubte ihm nicht. Selbst, wenn er vorgehabt hätte, sich an Markus ranzumachen, hätte er kein ernsthaftes Interesse an ihm gehabt. Dazu hing er noch zu sehr an Nick. Auch ohne seinen Herzschlag zu hören oder ihn zu riechen, merkte ich das.

Wir blieben knapp vor Markus stehen. Ich sah Unsicherheit in seinem Blick, aber er lächelte mich an.

„Hey."

Ich erwiderte weder sein Lächeln noch seine Begrüßung. „Was willst du hier?"

Sowohl Finn als auch Alisha schauten mich verdutzt an. Sie mussten davon ausgegangen sein, einem Bekannten oder vielleicht sogar Freund von mir gegenüberzustehen. Naja, zu einem Fremden wäre ich wohl netter gewesen als zu ihm.

„Ich habe Damian geschrieben, aber er liest meine Nachrichten nicht. Deshalb musste ich euch hier überfallen."

Ich schaute fragend zu Damian. Mein Freund zuckte mit den Schultern. Er hatte die Nachrichten also zur Kenntnis genommen, aber beschlossen, sie zu ignorieren. In dem Fall wunderte es mich auch nicht, dass er mir nichts davon erzählt hatte. Es war nach wie vor ein heikles Thema.

Ich nahm es Damian nicht übel. Er hatte nicht damit rechnen können, dass Markus hier auftauchen würde.

Woher wusste er überhaupt, wo ich zur Schule ging?

„Wir haben dir nichts mehr zu sagen. Du kennst meine Bedingungen."

Ich wollte Antworten. Nach dieser Aktion umso mehr.

Erst durch Damians Hand in meinem Nacken merkte ich, wie angespannt ich war. Ich saugte seine Präsenz durch die kleine Fläche unseres Hautkontakts auf, atmete durch und merkte, wie das Gefühl zu zerreißen langsam verschwand. Damian hielt mich zusammen.

„Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber es geht gerade ausnahmsweise nicht um dich, Bruderherz."

Ich ignorierte Finns Frage: „Bruderherz?" und stellte mich näher an Markus heran.

Das letzte, was ich jetzt wollte, war erklären zu müssen, aus welchem Loch er gekrochen war und warum er mich Bruderherz nannte. Auch, weil ich es nicht erklären konnte.

Markus war vier Jahre älter als ich, aber ich war größer. Er musste zu mir hochsehen, um weiter in meine Augen schauen zu können und irgendwie gab mir das ein klein wenig Genugtuung. Einen Funken Überlegenheit. Selbst, wenn sie nicht echt war.

„Was willst du sonst von meinem Freund, mh? Du bist bestimmt nicht so dämlich, ihn um ein Date zu bitten."

Markus und ich starrten einander in die Augen. Er hatte dieselbe Augenfarbe wie ich. Die selbe wie meine Tante. Die selbe wie mein Vater.

14 Jahre lang hatte ich mit dem Tod und vor allem der Art des Todes meiner Eltern gekämpft, gewusst, dass ich einen Bruder hatte und gedacht, er wäre der einzige Mensch auf der Welt, der verstehen könnte, wie ich mich fühlte. Der einzige, in dessen Augen ich vielleicht normal sein würde oder der zumindest verstehen konnte, warum ich es nicht war. Jetzt stand ich ihm gegenüber und statt mich ihm verbunden zu fühlen, kam er mir vor wie ein nerviger Tinitus. Er schien harmlos zu sein und man glaubte, man müsste seine Anwesenheit nur überstehen und könnte dann weitermachen wie bisher. Dabei ahnte man nicht, dass dem eigentlich ein zellfressender Tumor zugrunde lag, der einen Stück für Stück weiter auffraß.

„Kein Grund, eifersüchtig zu werden." Markus wirkte doch tatsächlich amüsiert. „Du kannst deinen Freund behalten. Ich muss nur mit ihm reden. Über einen gemeinsamen Bekannten."

„Seb?"

Markus nickte.

„Was ist mit ihm?"

Er zog die Augenbrauen nach oben. „Ich denke, wir wissen beide, dass wir das nicht in der Öffentlichkeit besprechen sollten."

Nein, wussten wir nicht. Ich ahne es, doch wirklich sicher sein konnte ich mir erst, wenn er es aussprach. Wenn er aussprach, dass er von Gestaltwandlern wusste. Wenn er aussprach, dass er wusste, dass Seb und Damian Gestaltwandler waren. Und, wenn er zugab, dass er womöglich dazugehörte.


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