12 - Der ungekrönte König

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„Nach einer alten Legende gilt der ungekrönte König als der Hüter des Schicksals des Volkes der Dämmerung." Naoràn verteilte Schüsseln mit dampfendem Eintopf während sie sprach. „Natürlich ist das in unserer Zeit mehr ein formeller Titel. Und wie der Name sagt, wird der König der Tannarí niemals gekrönt. Aber es heißt, dass er in Zeiten der Not das Volk zu einem neuen Morgen führen werde."

„Ich glaube nicht, dass ich dieser Verantwortung gewachsen bin." He'sha rührte mit gesenktem Kopf in seiner Schüssel.

Senai legte ihm ihre knotige Hand auf den Arm. „Wenn du es nicht bist, wirst hineinwachsen, He'sha, und du wirst diese Aufgabe meistern."

Dánirah räusperte sich. „Wenn du jetzt der offizielle Anführer des Volkes bist, He'sha, habe ich eine wichtige Nachricht für dich." Sie zog Katim's Brief aus ihrer Tasche und reichte sie dem verblüfften Reisegefährten .

He'sha setzte seine Schüssel beiseite und studierte mit einem Stirnrunzeln das blutrote Siegel. „Ist dies das Siegel des Königs von Kelèn, mit diesem Sonnensymbol ?"

Dánirah nickte. „Ich habe den Brief von seinem Berater erhalten. Er bat mich, dies dem Anführer der Tannarí zu übergeben. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass wir keinen einzelnen Anführer haben, aber er hat mich wohl nicht verstanden. Deshalb dachte ich, ich würde den Brief zu meiner Mutter bringen. Ich glaubte, sie würde wissen, was damit anzufangen ist. Aber nun weiß ich, dass er die ganze Zeit für dich bestimmt war, He'sha."

Orinai beugte sich vor, um das Siegel zu studieren. „Also war unser Zusammentreffen am Fluss doch kein Zufall."

Senai schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, dass es so etwas wie Zufall nicht gibt."

„Das habe ich Dánirah damals auch gesagt." Orinai nahm He'sha den Brief aus der Hand und legte ihn beiseite. „Aber es gibt für alles eine Zeit. Eine Zeit für Politik und eine Zeit fürs Essen. Zuerst essen wir."

Mit einem Lächeln setzte Senai ihre Mahlzeit fort. Die anderen folgten ihrem Beispiel, aber Dánirah merkte, wie die Stimmung sich verändert hatte. Die Gespräche verstummten und Naoràns Eintopf verschwand in Rekordzeit. Sie war froh, als Senai die Schüsseln einsammelte und He'sha endlich das königliche Siegel zerbrach.

Er hielt den Brief nahe ans Feuerbecken, um in dessen schwachem Licht die kantige Schrift zu entziffern. Alle anderen warteten schweigend bis er das Pergament an Senai weiterreichte. „Davon sollten alle Lager der Tannarí erfahren."

Senai studierte den Brief und reichte ihn an ihre Tochter weiter. „Bitte, lies ihn mir vor. Meine alten Augen kommen mit diesen Schnörkeln nicht mehr zurecht."

Naoràn holte tief Luft bevor sie den Text laut vorlas.

„An den Anführer der Tannarí, die im Land Kelèn leben. In diesen vergangenen Monden haben uns besorgniserregende Nachrichten aus dem Norden erreicht. Banden von Söldners streifen durch die nördlichen Provinzen um zu rauben und zu töten. Zudem hat der Rat von Lelai begonnen, ein Heer zusammenzuziehen. Während wir alles zu tun gedenken, um das Land Kelèn zu verteidigen und seine Grenzen zu halten, können wir die Sicherheit der wandernden Stämmen nicht gewährleisten. Wir glauben, dass die Tannarí ihre Freiheit genauso schätzen wie die anderen Bürger dieses Landes. Deshalb laden wir sie ein, sich unserem Feldzug anzuschließen. Nur zusammen kann es uns gelingen, den bevorstehenden Krieg zu gewinnen. Gezeichnet von Mirim-isha-Kerim aus dem Hause Diun, König von Kelèn."

Senai strich sich mit der Hand über die Augen. „Du hast recht, He'sha, das sind wichtige Neuigkeiten. Lass uns den Rat zusammenrufen."

~ ~ ~

Kurz darauf saß Dánirah zwischen Senai und Naoràn im größten Zelt des Lagers. Außer ihnen hörten rund zwanzig Tannarí gespannt zu, während He'sha den Brief des Königs vorlas. Sobald er geendet hatte, herrschte Schweigen.

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWhere stories live. Discover now