7 - Getrennte Wege

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Als ob sie seinen Blick im Rücken spüren könnte, wandte Dánirah sich um und winkte ihm zu. Liha grüßte zurück und glaubte, ihr strahlendes Lächeln zu erkennen. Dann wendete sie sich um und verschwand leichtfüßig in der Menge. Nein, es gab einen Unterschied zu der Geschichte mit seinem Bruder. Dánirah lebte, und selbst wenn er sie niemals wiedersehen sollte, konnte er sich immer vorstellen, dass sie irgendwo dort oben im Norden an ihn dachte und dabei diese Lächeln auf dem Gesicht trug.

Mit einem etwas leichteren Herz verließ Liha die Stadtmauer und stieg hinauf zur königlichen Zitadelle. Heute war Vollmond und damit der langersehnte Rekrutierungstag.

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Der nahtlose Übergang von Fels zu Mauer trug das seine zur imposanten Wirkung der königlichen Festung bei. Liha fühlte sich beim Anblick dieses Baus winzig und unwichtig. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er den Wachposten am Fuß der Rampe erreichte, die zum Haupteingang der Residenz des Sonnenkönigs hinaufführte. Nahezu zwei Dutzend junger Männer und auch einige Frauen warteten bereits auf den Rekrutierungstag. Unter ihren kritischen Blicken wäre er am liebsten in Naiins kleine Dachwohnung zurückgekehrt. Aber er gab sich einen Ruck und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine sonnenwarme Mauer. Dies war der Weg, den er gewählt hatte. Er würde ihn zu Ende gehen, genauso wie Dánirah nun in den unsicheren Norden reiste, weil es ihre Bestimmung war.

Die meisten der anderen Bewerber waren wohl einen Sommer oder zwei älter als er und mit einem Schwert bewaffnet. Ihre Kleidung war sehr unterschiedlich und bestand wahlweise aus grobem Tuch, ähnlich demjenigen, das er selbst trug, oder kostbaren und fein gewirkten Geweben in den Farben der einflussreichen Häuser von Kelèn.

Einige der besser ausstaffierten jungen Männer stolzierten auf und ab, während sie mit lauten Stimmen die politische Lage im Norden diskutierten und über die übrigen Kandidaten geflissentlich hinwegsahen. Die meisten anderen hielten sich zurück wie er selbst. Zumindest sah es aus, als ob einige von ihnen auch weder einen edlen Namen noch eine wichtige Familie besaßen, die ihnen den Weg in den Dienst des Sonnenkönigs ebnen würden.

Fünf weitere Bewerber gesellten sich zu ihnen, bevor ein Wächter das hölzerne Tor öffnete und die jungen Leute hereinwinkte. Sie folgten ihm die mit Steinplatten gepflasterte Rampe hinauf und durch ein weiteres Tor in einen großen Hof, der von Pferdeställen umgeben war. Liha hielt einen Moment inne. Nun befand er sich innerhalb der Königsburg, dem Herz des Reichs Kelèn. Was hätten seine Schwestern dafür gegeben, heute an seiner Stelle zu sein.

Aber er fand nicht die Zeit, sich genauer an diesem Ort umzusehen. Ein alter Krieger in der Uniform der königlichen Wache räusperte sich laut, klopfte mit seinem Schwert auf einen Schild und wandte sich an die Ankömmlinge.

„Bürger von Kelèn. Ihr habt euch heute hier versammelt, um euch für einen Platz in der königlichen Garde zu bewerben. Dafür habt ihr alle hart trainiert und seid begierig, uns eure Kunst zu zeigen. Das ist sehr gut. Nun, bevor wir beginnen, stellt euch da drüben in einer ordentlichen Reihe auf."

Während Liha den anderen folgte, spürte er kalten Schweiß auf der Stirn. Er hatte niemals einen Gedanken daran verschwendet, dass er trainieren sollte. Der vergangene Mond war in seiner Erinnerung ein Nebel. Darin tauchten immer wieder abgerissene Bilder vom Angriff der Söldner auf oder vom vergeblichen Versuch, seinen Bruder zu retten. Über allem hing der unbändige Wunsch nach Rache. Selbst seine Begegnung mit Dánirahs Peinigern konnte er nicht wirklich als Kampfübung werten, besonders nachdem er dabei so hoffnungslos versagt hatte.

Der Wachoffizier folgte der unordentlichen Linie der Rekruten und musterte jeden einzelnen genau, bevor er fortfuhr.

„Für die kommenden Übungen gibt es strenge Regeln. Es ist nicht erlaubt, einen Gegner zu verletzten. Zurückhaltung ist genauso eine Tugend eines Kriegers wie seine Unerschrockenheit im Kampf. Außerdem will ich keine Schadenfreude sehen. Und keine unerlaubten Tricks. Ihr seid hier, um uns euer Potential zu zeigen. Wir sind hier, um euer kämpferisches Können und eure Begabung zu beurteilen."

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWhere stories live. Discover now