65 • Talia

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Der bloße Klang seiner Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich wirbele zu Lucius herum, springe auf die Beine und wäre beinahe gestürzt, als mein rechter Fuß unter mir nachgibt und mich schmerzlich daran erinnert, dass ich zwar überlebt haben mag, aber mein Knöchel dennoch dicker ist, als er sein sollte.

Lucius' zusammengekniffene Augen verraten, dass ihm dieser erstaunliche Anblick gehörig gegen den Strich geht. Dabei interessiert es ihn nicht, dass ich mein Leben hätte verlieren können, sondern dass ich es eben nicht getan habe. Und somit unmittelbar Zugriff auf das Johanniskraut habe, das den Beratern die Treue der dienenden Magier sichert. Ausdruck seiner noch immer dominierenden Macht ist jedoch die Magierin, die von niemand Geringerem als Nele, deren Haare mittlerweile bis zum Kinn reichen, in Schach gehalten wird - Kaya.

Ich war mir sicher, dass Kaya ausschließlich mein Hass gebühren würde, nach dem, wie sie meine Erinnerungen zerstückelt hat, doch so wie sie im Griff von Nele zappelt, abgemagert und ergeben, keimt doch ein Hauch von Mitleid in mir auf. Nur dass sie das genauso wenig verdient hat wie ich Ashs Besorgnis.

"Komm heraus und wir können darüber verhandeln, was dein-"
"Du bist nicht in der Position zu verhandeln", warnt Ash ihn und lenkt nicht nur Lucius', sondern auch Neles und Kalians Blick auf sich. Er schwenkt bedrohlich das Schwert, rückt einen Schritt näher an Luan und strotzt solch ein Selbstbewusstsein aus, dass man meinen könnte, er wüsste nicht, wozu Lucius fähig ist. Dabei hat sich Lucius auf unserer beider Körper verewigt.

Ich nutze den absichtlich von Ash provozierten Moment aus, greife nach einem Stein und zermalme meine Unterlippe, als ich mir rigoros die Hand daran verbrenne. Falls ich es bis jetzt noch nicht glauben konnte, so ist meine glühend rote Haut Beweis genug: ich habe meine Magie verloren. Warum lebe ich dann aber noch?

"Nein, Ash, ihr seid euch wohl der Konsequenzen nicht bewusst", widerspricht Lucius, lässt seinen Blick zurück zu mir schweifen. "Mit Payla in unseren eigenen Wänden wäre es unser aller Ruin, wenn es keinen Anreiz für dienende Magier mehr gibt."
"Du meinst wohl: keine Tortur", werfe ich ein. Das Kraut als Anreiz zu bezeichnen, ist eine Verharmlosung, die an Dreistigkeit kaum zu überbieten ist.

"Wir können ein andermal über die Maßnahmen diskutieren", weicht Lucius aus, winkelt die Finger an und zeigt auf Kaya. "Zumal ich weiß, dass ich in der Position bin, um zu verhandeln."
"Meine Schwester ist kein gutes Druckmittel. Du willst sie? Soll sie doch dein Problem sein", zischt Ash.

Kaya verzieht das Gesicht, als hätten seine Worte sie mitten ins Herz getroffen, und wimmert seinen Namen. Ich verenge die Augen. Das ist nicht die Kaya, die ich kennengelernt habe. Gerade wirkt sie so nahbar, verletzlich, als würde sie die schützenden Arme ihres Bruders dringend gebrauchen.

"Es tut mir so leid, Ash."
Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, scheint so gebrechlich wie ihre gesamte Erscheinung. Doch Ash schüttelt nur unerbittlich den Kopf. "Für Reue ist es zu spät."

"Vielleicht für Reue, aber nicht für die Wahrheit." Ein überhebliches Grinsen gleitet über Lucius' Lippen. Er suhlt sich in dem Wissen, um welches wir betteln müssen.
Ash schlingt seine Finger so fest um das Gehilz, dass seine Knöchel weiß hervortreten. "Welche Wahrheit?"

Als wäre er nicht zahlenmäßig unterlegen, schreitet Lucius am Rand des Todeskreises auf und ab. Er liebt die Macht. Zu wissen, dass keiner von uns einen Schritt wagt, solange wir nicht wissen, was es mit Kaya auf sich hat. Denn auch wenn sie unser aller Leben zur Hölle gemacht hat, ist sie noch immer Ashs Zwilling. Und gerade gibt sie sowohl Ash als auch Will einen Hoffnungsschimmer.

"Es wird dir nicht gefallen, Ash, aber ich habe meine Wege, um ihre Erinnerungen zu manipulieren. Es ist wie das Brandmal auf ihrer Haut-" Lucius deutet beiläufig zu mir, doch das Entsetzen trifft Luan schlagartig.

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