Damit hebt er die Mappe an, als wäre dies Erklärung genug und tritt über die knarzenden Bretter des Steges auf den Wachturm zu. Bürokratie hat ihn aus dem Rathaus getrieben, wenig verwunderlich. Dennoch nimmt er sich die Zeit, mit meinem Bruder zu reden und ihn aufzubauen.

"Luan, warte." Verzweifelt stemme ich mich mit aller Kraft gegen ihn, dennoch peilt er mit zügigen Schritten die Promenade an, als wäre ich nicht einmal ein Windhauch. Ich will ihn aufhalten vor dem, was passieren wird, dabei weiß ich nicht einmal, was das sein soll. Panisch irrt mein Blick umher, doch nichts Besonderes rückt in meinen Fokus. Sir Cortaz spricht bereits mit einem Mann am Wachturm, unweit davon legt ein mit Händlern und Durchreisenden dicht gefülltes Boot an und kreischende Möwen tanzen über den Himmel.

"Ich weiß, du kannst mich nicht hören oder sehen, aber bitte, mach irgendetwas anders", flehe ich ihn an, stelle ihm das Bein, doch er taumelt noch nicht einmal. Unbeirrt setzt er seinen Weg fort.

"Luan."
Er schreckt so abrupt vor mir zurück, dass ich beinahe glaube, er nimmt mich plötzlich doch wahr. Würde nicht auch mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich starre in Luans emotionslose Augen, das aschfahle Gesicht und bin mir sicher, dass meines nicht weniger überrascht aussieht. Nein, schockiert, nicht überrascht.

Zögernd blicke ich über die Schulter. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Diesen Anblick werde ich nicht wieder vergessen. Dieses Bild frisst sich in meine Erinnerung, bleibt dort für immer verankert.

Sie steht dort, das Haar noch immer in dem satten Braunton, Sommersprossen um ihre Nase, ein schüchternes Lächeln auf ihren Lippen - und neben ihr ein kleines Mädchen, das sich an ihre Hand klammert.

Ein Mädchen, das genauso aussieht wie die junge Version meiner selbst auf der Malerei, die mein Vater vor etlichen Jahren von mir und Luan hat anfertigen lassen. Ein Kunstwerk, das mich widerspiegelt, als ich drei Jahre alt war. Als wir noch eine Familie waren. Es ist unverkennbar, was sich uns offenbart und doch kann es keiner von uns Beiden in Worten fassen.

"Wer ist das?"
Luan deutet auf das Mädchen, deren strahlend blaue Augen den forschenden Blick seiner erwidern.
Unsere Mutter tritt einen Schritt vor, das Mädchen wird unfreiwillig mitgezogen. "Es ist so schön, dich wiederzusehen."
"Wer. Ist. Das?"

Mein Bruder strauchelt, als er versucht Distanz zu gewinnen. Aus Reflex packe ich ihn am Arm, doch er entgleitet geradewegs meinem Griff. Fassungslos schnellt mein Blick zwischen ihnen hin und her. Luan strauchelt nicht. Nie. Wie sehr muss ihn das getroffen haben?
"Meine Tochter. Talitha."

Die Wahrheit zu hören, ist ein schmerzhafter Schlag der Realität gegen unser beider Hoffnung. Er öffnet den Mund, klappt ihn wieder zu, bringt keine Worte hervor und sieht so verloren aus, dass ich meine Arme um ihn schlingen muss, weil ich den Schmerz in seinen Augen nicht ertragen kann. Das Beben seines Körpers ist fast noch schlimmer.
"Deine Tochter?" Ich höre die Frage nur, weil ich das Vibrieren der Worte in seiner Brust spüre. "Deine Tochter? Wie kannst du noch ein Kind in die Welt setzen, wenn du bereits zwei im Stich gelassen hast?"

"Luan, lass uns reden", fleht sie, doch mein Bruder schüttelt unerbittlich den Kopf.
"Kein Interesse."
Ein Schritt ihrerseits vor, zwei seinerseits zurück. "Ich habe dich vermisst. Euch Beide."
"Das sehe ich", grummelt Luan. "So sehr, dass du eine neue Familie gegründet hast."

Trüb sind ihre Augen, als kämpfe sie darum, die Tränen zurückzuhalten. Für einen Moment hätte ich Luan am liebsten einen Tritt verpasst, dass er ihr doch einfach zuhören soll. Nur solange, bis mir die Taubheit in meiner Brust bewusst macht, dass ich immer die falschen Entscheidungen treffe. Ash, Lucia, sicherlich reiht sich meine Mutter auch noch in diese Reihe an Verrat und Trug ein.

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