Wie Severus Snape auf ein Rätsel stößt

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Dunkle Wolken hingen über den Türmen von Hogwarts, als Severus Snape das Schloss auf Geheiß des Dunklen Lords verließ. Die wenigen Schüler, die sich bei diesem Wetter nach draußen gewagt hatten, machten einen großen Bogen um ihn und flüsterten ängstlich in seinem Rücken. Minerva McGonagall winkte die Schüler zu sich und sie scharrten sich schutzsuchend um sie. Das knappe Nicken, mit dem sie ihn bedachte, reichte um den Hass in ihren Augen zu erkennen. Snapes Lippen kräuselten sich abfällig. Darüber hinaus gestattete er sich nicht den Hauch einer Regung. Das war, was er war. Gefürchteter Todesser, Verbündeter Voldemorts und der Schulleiter von Hogwarts. Er konnte nicht zulassen, dass die Welt ihn anders sah. Und manchmal erschreckte ihn selbst, wie einfach es war, diese Rolle zu spielen. Ohne die Gruppe eines weiteren Blickes zu würdigen, kehrte er ihnen mit wehendem Umhang den Rücken zu. Sein Lord hatte gerufen. Und Lord Voldemort ließ man nicht warten.

Der Dunkle Lord hatte sein Domizil in der Villa der Familie Malfoy errichtet. Kletterrosen rankten über den grünlichen Marmor der Fassade und Dämonen blickten aus steinernen Augen auf jeden Eindringling herab, der sich dem Anwesen durch den sorgsam gepflegten Garten näherte. Ohne Umschweife trat Snape in die spärlich beleuchtete Eingangshalle. Ein luxuriöser Teppich dämpfte seine Schritte. Es waren keine anderen Todesser zugegen. Ein persönliches Treffen also? Severus wappnete sich innerlich.
Bellatrix trat auf ihn zu, die dunklen Augen waren verengt vor Misstrauen. „Warum will er dich sehen?", fragte sie ohne Umschweife.
„Das wirst du den Dunklen Lord fragen müssen", antwortete Snape glatt. „Er erwies mir bisher nicht die Ehre, mich in sein Ansinnen einzuweihen."
Bellatrix volle Lippen verzogen sich spöttisch. „Nie bist du um eine Antwort verlegen, Severus. Doch frage ich mich manchmal, wie es in deinen Gedanken aussieht?"
Snape hob eine Augenbraue. „Wenn du erlaubst, würde ich unseren Herrn ungern warten lassen."
Bellatrix schnaubte. Mit wehendem Haar fuhr sie herum und führte ihn über die glänzenden Stufen einer Wendeltreppe hinauf in den zweiten Stock. Vor einer Tür blieb die schwarzhaarige Hexe stehen und warf ihm einen warnenden Blick zu. „Ich bleibe in der Nähe. Sollte irgendetwas passieren, dann ..." Sie deutete mit ihrem Zauberstab einen Kehlschnitt an und lächelte drohend. „Ich traue dir nicht, Severus Snape."
„Aber ich genieße sein Vertrauen", erwiderte der Tränkemeister ruhig und deutete in Richtung Tür.
Severus sah, wie ihre Kiefer aufeinander malten. Unter ihrem wachsamen Blick öffnete er die Tür und schloss sie hinter sich.

Der Raum dahinter war prunkvoll tapeziert, eine silbergrüne Seidentapete schimmerte geschmackvoll, das dunkle Holz des Schreibtisches war aufwendig verziert. Samtene Vorhänge waren zurückgeschlagen und ließen dämmriges Licht herein. Nagini hatte sich auf dem Tisch zusammengerollt. Die Schlange war so groß, dass sie beinah den gesamten Tisch mit ihren glänzenden Schuppen bedeckte. Die kalten Reptilienaugen folgten jeder seiner Bewegungen.
Voldemort stand am Fenster, ein dunkler Schemen gegen das fahle Licht. Die langen, blassen Hände waren hinter dem Rücken verschränkt und die Robe aus schwarzer Seide raschelte in dem leichten Wind, der zum Fenster hereindrang.
Severus müsste sich im Laufe der Jahre an die pure Präsenz Lord Voldemorts gewöhnt haben, doch sie überraschte ihn immer wieder auf neue. Genau wie die Macht, die dieser Mann selbst dann ausstrahlte, wenn er Severus den Rücken zuwandte. Der Hass, den er gegenüber Lillys Mörder empfand, drohte ihn zu ersticken. Und wie immer verbannte er dieses Gefühl in den hintersten Winkel seines Geistes und sank ehrerbietig auf die Knie.
„Wir werden uns auf eine längere Reise begeben,", erklang die hohe und kalte Stimme seines Herren. „Heute Abend werden wir aufbrechen."
Der Tränkemeister verneigte sich noch ein wenig tiefer. „Natürlich, Herr."
Auch wenn er seine Gesichtszüge sorgfältig neutral hielt, rasten seine Gedanken. Als Todesser des inneren Kreises wusste Severus, dass Voldemort nach einem mächtigen Zauberstab suchte, der nicht mit dem des Potter-Jungen verbunden war. Doch wie weit sein Lord bei seiner Suche vorangekommen war, entzog sich auch seiner Kenntnis. Warum sollte ausgerechnet Severus ihn begleiten? Als Schulleiter und Tränkemeister war er ihm an anderer Stelle deutlich nützlicher.
Er zögerte. Dann wagte er es doch, die Frage zu stellen „Wohin werden wir gehen, mein Lord?"
Voldemort stand eine Weile unbewegt im Raum, bis der Blick seiner roten Augen auf Severus fiel.
„Zu Schauplätzen des Todes, Severus. Ich bitte dich, einige Stärkungstränke mit dir zu bringen. Ich werde sie benötigen."
Severus runzelte kaum merklich die Stirn. Welche Bedrohung mochte es geben, dass ihm der mächtigste Zauberer seiner Zeit befahl, Stärkungstränke einzupacken? Und was bedeutete das für Severus, der ihn offensichtlich auf dieser Mission begleiten würde? Dazu kam das seltsame Eingeständnis von Schwäche. Lord Voldemort zeigte keine Schwäche vor seinen Dienern ... Warum dann ausgerechnet jetzt?
Doch der Dunkle Lord fuhr fort, als wäre nichts gewesen. „Wir werden einige Tage, wenn nicht Wochen, unterwegs sein. Besser du triffst in Hogwarts entsprechende Vorkehrungen. Ich bin mir sicher, du findest eine angemessene Vertretung."
Severus neigte den Kopf. „Wer wird uns begleiten, Herr?"
Voldemorts lippenloser Mund zuckte. „Was bringt dich auf den Gedanken, dass uns noch jemand begleiten wird?"
Ohne es zu wollen, glitt Severus Blick in Richtung Tür.
Voldemort erriet seine Gedanken. „Bellatrix wird in meiner Abwesenheit ein Auge auf meine Diener haben."
Snape verbeugte sich und wandte sich zur Tür, als ihn die Stimme des Dunklen Lords noch einmal inne halten ließ.
„Und Severus? Nimm einen Besen mit."
Ein Besen? Was für eine Reise sollte das sein, dass sie nicht apparieren konnten?
Was, bei Salazar, war nur los?
Er holte tief Luft, um eine weitere Frage zu stellen. Fragen waren beim Dunklen Lord stets ein riskantes Unterfangen. „Gibt es ... Anlass zur Sorge, Herr?"
Lange Zeit herrschte Stille. Severus befürchtete schon, der Dunkle Lord würde nicht antworten. Draußen setzte Regen ein und prasselte gegen das Fenster.
Als Voldemort schließlich sprach, war seine Stimme leise und zischend. „Ich habe etwas verloren. Und ich habe vor, es mir zurückzunehmen."
An dieser Stelle hätte Snape schweigen sollen. Das Zischen in der Stimme seines Herrn hätte ihm eine Warnung sein müssen. Doch sein Verstand, der stets mit dem Finden von Lösungen und Auswegen beschäftigt war, konnte sich mit diesen wenigen Informationen nicht abfinden. Und so fragte er nach. „Was habt Ihr verloren, Herr?"
Severus bemerkte seinen Fehler, als eine weiße Hand in Richtung ihres Zauberstabs zuckte. Er wusste, was nun kommen würde. Er spannte den Körper an und machte sich bereit für den Cruciatus-Fluch.

Keinen Moment zu früh.

Die Umrisse vor seinen Augen verschwammen und für einen Moment gab es nichts als grenzenlosen Schmerz. Wie war es nur möglich, dass dieser Fluch ,nach all der Zeit, immer noch genauso schmerzte, wie am ersten Tag? Endlich endete die Folter und Severus fand sich schwach und zittrig am Boden wieder. Voldemort blickte auf ihn herab. Der Dunkle Zauberer atmete schwer und aus irgendeinem Grund wirkte er noch erzürnter als zuvor. Aber dieser Zorn galt nicht länger Severus ... etwa ihm selbst? Seit wann bereute der Dunkle Lord, einen seiner Diener gefoltert zu haben? War es das überhaupt? Oder schätzte Severus die Lage vollkommen falsch ein? Er selbst hatte sich immer für einen guten Kenner von Voldemorts Stimmungen gehalten. Man überlebte nicht lang als Spion in den Reihen des Dunklen Lords, wenn man es nicht wahr. Und doch gab ihm das heutige Verhalten Voldemorts Rätsel auf.

Dann bemerkte er ein weiteres Detail. Der Zauberstab in Voldemorts Hand war nicht aus Stechpalme. Er war aus Eichenholz. Der Stab war vollständig mit rauer Rinde bedeckt und verjüngte sich an der Spitze zu einem kunstvollen Knoten aus Wurzelwerk. Voldemort bemerkte seinen Blick und erneut flammte Wut in den roten Augen. Einen Hauch zu schnell ließ er den Zauberstab in die Tasche seines Umhangs gleiten. Als seine Hand wieder hervorkam, hielt er darin den bereits bekannten Zauberstab aus Stechpalme.
Sekunden verstrichen. Severus Herz schlug wie wild gegen seine Brust. Es bedurfte seiner ganzen Willenskraft, um äußerlich ruhig zu wirken. Er war sich sicher, etwas gesehen zu haben, was nicht für seine Augen bestimmt war. Um ihn her herrschte Stille. Severus wagte es nicht, sich zu rühren.
Rote Augen bohrten sich in die seinen. „Kein Wort zu niemandem."
Bleierne Stille folgte auf diese Worte.
Severus befeuchtete seine trockenen Lippen. „Wie Ihr befehlt, Herr."
Voldemort hatte einen neuen Zauberstab gefunden. Doch aus irgendeinem Grund hielt er diesen Fund geheim und agierte, als wäre er weiterhin auf der Suche. Aber wenn nicht einen Zauberstab, was suchten er dann? Was war das Ziel dieser Reise, auf die Severus ihn begleiten sollte?
Langsam beruhigte sich Voldemorts Atem und die zerstörerische Wut in seinen Augen wich einem ruhigerem Glimmen.
„Fragt man dich nach dem Grund deines Ausbleibens, kümmerst du dich persönlich um die Prüfung einiger hochsensibler Trankzutaten. Ist Bella noch vor der Tür?"
Der Themenwechsel überraschte ihn so sehr, dass ein Hauch von Ironie in seiner Stimme lag, als er antwortete. „Sie ist keinen Moment von Eurer Seite gewichen."
Das Echo eines Lächelns spielte um Voldemorts lippenlosen Mund. „Hol sie herein."
Snape verneigte sich und beeilte sich dann, die Tür zu öffnen und Bellatrix herein zu bitten.
„Herr!" Bellatrix sank vor dem Dunklen Lord zu Boden und umfasste den Saum seines Umhangs.
„Bella, ich habe eine Bitte an dich."
Unter dunklen Wimpern schaute Bellatrix zum Dunklen Lord empor. „Was immer Ihr wünscht, mein Lord", hauchte sie.
„Erinnerst du dich an den goldenen Trinkpokal, den ich dir anvertraute? Ich benötige ihn. So schnell wie möglich."
Ehrerbietig hauchte Bellatrix einen Kuss auf den Saum seines Mantels. „Ich bin Eure ergebene Dienerin."
Sie erhob sich, verbeugte sich tief und schritt mit wiegenden Hüften aus dem Raum.

XXX

Die Porträts der Schulleiter schliefen friedlich. Nur ein paar hellblauer Augen betrachtete Severus aufmerksam und mitfühlend. „Willkommen zurück, Severus", sagte Dumbledores Porträt leise.
Rasch wob Snape einige Schweige und Anti-Abhörzauber, bevor er sich gestattete, einen Teil seiner Erschöpfung zu zeigen. Müde setzte er sich an den Schreibtisch, der einst Dumbledore gehört hatte, und massierte seine Schläfen.
„Hat Voldemort bekommen, was er wollte?", fragte sein einstiger Vorgesetzter ruhig.
Snape lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Er trägt einen neuen Zauberstab mit sich. Es war nicht seine Absicht, ihn mir zu zeigen. Und als es geschah, verpflichtete er mich zum Schweigen."
Die Züge des ehemaligen Schulleiters wurden ungewöhnlich ernst. „Also hat er mein Grab geöffnet?"
„Ihr Grab, Albus?", fragte Severus überrascht. „Ich versichere Ihnen, das niemand Hand daran gelegt hat."
Dumbledore musterte ihn aufmerksam über die Ränder seiner Halbmondbrille. „Ist das so? Dann frage ich mich wirklich, welchen Zauberstab er gefunden hat."
„Der Dunkle Lord ...", murmelte Snape. „Etwas stimmte nicht mit ihm."
Dumbledore neigte sich so weit vor, wie die Leinwand es erlaubte. „Was genau meinst du, Severus?"
„Er hat mir befohlen, ihn auf eine Reise zu begleiten, ich allein. Kein anderer Todesser wird mit uns kommen."
Blaue Augen begegneten seinem Blick. „Eine seltsame Wahl ... wo du ihm an anderer Stelle so viel nützlicher wärest."
„In der Tat. Und das ist noch nicht alles. Ich werde mehrere Wochen fort sein. Und er hat mich gebeten, Stärkungstränke einzupacken." Eindringlich blickte Severus in das blaue Augenpaar seines Gesprächspartners. „Er sagte, er würde sie brauchen."
Der einstige Schulleiter verstand sogleich, worauf er hinauswollte. „Aber Voldemort zeigt keine Schwäche."
Severus neigte den Kopf. Er würde eher sterben, als es zuzugeben, aber manchmal war es angenehm jemanden zu haben, der den eigenen Gedanken folgen und seine Bedenken nachvollziehen konnte. Selbst wenn dieser Jemand nur ein Porträt war und damit nicht mehr als das Echo des Mannes, den er gekannt hatte.
Severus stand auf, um mit dem Packen zu beginnen. Während er akribisch Kleidung und Gebrauchsgegenstände in einen Koffer fliegen ließ, verfielen sie in nachdenkliches Schweigen. „Irgendeine Spur von Harry?", fragte Dumbledore, als die metallenen Schnallen des Koffers zuschnappten.
„Zum Glück nicht", knurrte Snape. „Man kann viel gegen den Jungen sagen, doch er weiß zumindest, wie er sich versteckt."
„Gut", sagte Dumbledore ruhig. Mit einem traurigen Lächeln beobachtete der silberhaarige Zauberer, wie Severus seinen Koffer schrumpfte und in die Tasche seines Umhangs steckte. „Ich wünschte, ich hätte euch mehr helfen können. Euch beiden."
Snape wischte die Worte mit einer harschen Handbewegung beiseite. Er war nicht gut darin, über Gefühle zu reden. „Ich komme zurecht. Und der Junge wohl auch, wenn er den Greifern nicht in die Hände gefallen ist."
Dumbledores Augen glänzten feucht. „Versprich mir, dass du auf dich acht gibst, Severus."
„Genug mit den Sentimentalitäten, alter Mann", schnarrte Snape mit einer Ungeduld, die er nicht empfand. Wenn er ehrlich war, tat es gut, die Anerkennung in Dumbledores Blick zu sehen. Es half ihm, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Als er das Büro des Schulleiters verließ, fühlte er sich etwas weniger einsam.

Wenig später stand Severus vor dem Büro von Minerva McGonagall. Er holte tief Luft, besann sich auf seine Okklumentik-Schilde und verbarrikadierte seine Gefühle in den hintersten Winkel seines Geistes. Er musste wahnsinnig sein. Sein Vertreter war Amycus Carrow. Aber die ganze Situation war schierer Wahnsinn. Eine womöglich wochenlange Reise mit den Dunklen Lord – per Besen und mit ungewissen Ausgang. Und dann dessen seltsames Verhalten. Was hatte es mit Voldemorts neuem Zauberstab auf sich? Und warum hatte der Dunkle Lord nach Severus Bestrafung für einen Moment so gewirkt, als kämpfe er mit sich selbst? Severus wusste nicht mehr, was er denken sollte. Zum ersten Mal seit langem konnte er die Situation, in der er sich befand, nicht mehr überschauen. Doch wenn er die Bewegungen des Feindes nicht mehr voraussehen konnte, dann konnte er zumindest eines tun: das Richtige.

Die Züge der Verwandlungslehrerin verhärteten sich, als sie ihn hereinkommen sah. Sofort sank die Temperatur um einige Grade. „Schulleiter? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
Äußerlich regungslos besah sich Snape seine langjährige Kollegin. Er schätzte und respektierte die ältere Hexe. Der Kampf um den Quidditch- und Hauspokal war dank ihres Ehrgeizes stets eine Herausforderung gewesen. Auch jetzt hielt sie, trotz aller Gefahr, an ihren Idealen fest. Mit einem innerlichen Seufzen bedachte er sie mit einem neutralen Kopfnicken. „Ich werde für einige Tage verreisen. Ich möchte dass Sie in der Zeit meiner Abwesenheit die Schulgeschäfte leiten."
McGonagalls Augenbrauen kletterten nach oben. „Ist Carrow verhindert? Oder was verschafft mir die plötzliche Ehre?"
Sorgsam hielt Snape seine Stimme bar aller Emotionen. „Ich denke, aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrung als Stellvertreterin sind Sie die bessere Wahl."
Mit einem Ausdruck ehrlicher Überraschung hielt sich die Hauslehrerin Gryffindors eine Hand vor den Mund. „Sie sind sich sicher?"
Snape hob eine Augenbraue. „Es sei denn, Sie sähen lieber Amycus Carrow in dieser Position?"
Der Tränkemeister wartete ihre Antwort nicht ab. Er griff nach Tinte und Pergament und schrieb eine kurze Erklärung nieder, mit der er Minerva zu seiner Stellvertreterin ernannte. Die Feder kratzte, als er, ein wenig zu fest, seine Unterschrift darunter setzte. "Dies sollte genügen, um Ihre neue Stellung zu verdeutlichen."
Für einen Moment schauten sich die beiden an. Snape konnte die unbeantworteten Fragen, die zwischen ihnen im Raum standen, förmlich hören. Er verabschiedete sich knapp und schritt zu seinem Büro. Im Umgang mit Albus Dumbledore, hatte Minerva ein erstaunliches Talent dafür besessen, zwischen den Zeilen zu lesen. Er konnte nur hoffen, das das auch für ihn galt.

Der Dunkle Lord war aufbruchsbereit, als Snape zurückkehrte. Er stand gerade und aufgerichtet am Fenster, die schmalen, bleichen Hände vor dem Gesicht gefaltet, während sein Blick sich in der Dämmerung verlor. Nagini hatte sich um seine Gestalt geschlungen und den Kopf auf seine Schulter gelegt. Was er als nächstes bemerkte, waren die zahllosen Schutz- und Anti-Abhörzauber, die über den Raum und den Dunklen Lord selbst gelegt worden waren. Lord Voldemort war kein Zauberer, der sich irgendeinem Risiko aussetzte. Aber gerade wirkte es, als zöge er in den Krieg. Severus hatte von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt, was diese Reise betraf. Aber langsam begann er, ernsthaft um sein Leben zu fürchten.
Eine blasse Hand winkte ihn näher zu sich heran. Er gehorchte und trat an die Seite Voldemorts.
Der Dunkle Lord sprach mit leiser Stimme, wie zu sich selbst, während vor dem Fenster die Wipfel des nächtlichen Gartens rauschten. „Unser Ziel ist Albanien, Severus. Diese Nacht werden wir über das Meer fliegen."
Der Tränkemeister musste sich zusammen reißen, um nicht zusammen zu zucken, als sich die Gestalt Voldemorts neben ihm unvermittelt in die Luft erhob. Voldemort fliegen zu sehen war jedes Mal ein erstaunlicher Anblick. Seine Beine und Arme verloren einen Teil ihrer menschlichen Kontur, es war, als beständen sie als nichts als Nacht und Dunst. Mit einem Kopfnicken bedeutete der Dunkle Lord Severus, ihm zu folgen. Etwas ungelenk stieg der derzeitige Schulleiter von Hogwarts auf seinen Besen und folgte seinem vermeintlichen Herrn hinein in die Nacht.

Erst lag noch das nächtliche England unter ihnen. Aus der Dunkelheit der Felder und Wälder leuchteten Dörfer und Städte wie Kokons aus Licht gegen die Nacht.
Schließlich wich das Land zurück und es war nichts als Gischt und Wogen unter ihnen. Über den dunklen, schäumenden Wellen des Meeres flogen sie mehrere Stunden. Als die Landmassen Europas unter ihnen kamen und gingen, drückte der Besen längst unbequem. Und Severus schmerzte jede Stelle seines Körper von der ungewohnten Haltung, als der Dunkle Lord endlich auf eine Küste zuhielt. Mondlicht drang spärlich durch graue Wolken, während sie auf einer unwirtlichen Küste, inmitten von rauem Fels, niedersanken

Unauffällig schüttelte Severus die steifen Glieder. Er schaute hinunter auf ein tiefblaues Meer, dessen Farbe sich in den Schleiern der Nacht verlor. Sie standen auf einer Klippe. Flechten und vertrocknetes Gras zogen sich über das raue Gestein. Zwischen den Silhouetten einiger Bäume konnte er in der Ferne die Lichter einer Ortschaft erahnen. In der Nähe befand sich jedoch nur ein einziges Haus. Schon vor Urzeiten schien es aus dem Gestein der Klippen erbaut, doch nun waren die Fenster dunkel und Ranken überwucherten die abweisende Fassade. Voldemort trat näher an den Rand der Klippen. Weit unter ihnen konnte man die Wellen gegen den Stein schlagen hören.
„Hier war es", sagte Voldemort leise. „Hier tötete ich Bertha Jorkins und erschuf meinen sechsten Horkrux."
Snape verschaffte sich hastig einen Überblick über das Gelände. Die feuchtschwüle Luft war durch die Brise des Meeres erträglich. Mücken summten und Zikaden zirpten im vertrockneten Gras. Er wusste, dass Voldemort nur eine Antwort wollte, wenn er jemanden direkt fragte und so verhielt er sich still und blieb im Hintergrund.
Er beobachtete, wie Voldemort einige weitere Schutz- und Stillezauber um sie sprach. Dabei waren sie bereits mehr als gut geschützt. Kein Beobachter, und wäre er noch so talentiert oder gerissen, würde bemerken, was auf der Klippe vor sich ging.
Nagini schlängelte sich von Voldemort herab, als dieser mit seinem neuen Zauberstab einen wortlosen Kreis in der Luft beschrieb. Ein Kranz aus weißen Lilien erschien in seiner Hand und er legte ihn an den Rand der Klippen.
Snape starrte ihn ungläubig an. Sein Unglaube verwandelte sich in Fassungslosigkeit, als der Dunkle Lord neben dem Kranz in die Knie sank. „Ich bereue." Fast riss der Wind die leise geraunten Worte von seinen Lippen, aber Snape konnte sie verstehen. Als wären diese Worte ein Zauberspruch, begann Naginis Körper zu leuchten. Der Dunkle Lord tippte sacht an den Kopf der Schlange und ein Strang, silbrig wie Mondlicht, löste sich von dem Körper des Tieres. Für einen Moment fühlte sich Snape an ein Denkarium erinnert, doch der Strang wirkte fester, gleichzeitig realer und seltsam anderweltlich, wie er immer stärker in seinem eigenen Licht zu glühen begann. Voldemort tippte auf seine eigene Stirn und das Licht floss in ihn herein, als wäre er eine Karaffe, die sich mit Mondlicht füllte. Ein Zittern erfasste Voldemorts Körper, während das Licht in ihn einflutete und die Maske kühler Selbstbeherrschung von seinem Gesicht riss. Was blieb, war pure Agonie. Voldemorts Züge verzerrten sich vor Pein. Es dauerte nicht lange und seine Schreie hallten über das Rauschen der Wellen. Snape hatte schon vielen Folterungen beigewohnt. Er war es gewohnt, unbeteiligt zu wirken und die Eindrücke des Grauens mit Okklumentik tief in seinem Innern zu verschließen. Doch nun? Welche Reaktion wäre angemessen? Was erwartete man von einem treuen Anhänger Voldemorts? Und was, bei Merlin und Salazar sollte das alles? Erst langsam verblasste das Leuchten und Voldemort sackte zusammen. Der mächtigste Zauberer ihrer Zeit blieb regungslos vor Snapes Füßen liegen, sein Atem ging flach und unregelmäßig. Nagini ringelte sich schützend um den geschundenen Leib ihres Herrn, doch das wäre kein Hindernis. Snapes Herz begann zu klopfen. Das war die Gelegenheit. Niemand würde dem Dunklen Lord zu Hilfe kommen. Ein winziger Stoß und Voldemort würde an den Klippen unter ihnen zerschellen. Natürlich würde das das Problem nur aufschieben. Voldemort konnte nicht sterben. Aber es könnte ihnen Zeit erkaufen, Zeit, die die geschwächte Seite des Lichts so dringend benötigte. Außerdem wäre es unendlich befriedigend, das unheilige Licht in diesen roten Augen erlöschen zu sehen. Endlich würde er für das Rache üben können, was dieses Scheusal Lily angetan hatte. Entschlossen trat er einen Schritt vor, der Zauberstab lag in seiner Hand, bereit, Nagini wegzuschnippen, sie mit ihrem Herrn den gierigen Wellen zu übergeben.
Da öffnete Voldemort die Augen und blickte ihn an. Sie waren nicht blutrot, wie zuvor, auch die Pupillen waren nicht länger geschlitzt. Sie waren schwarz, so schwarz wie die Nacht ringsum und doch waren es menschliche Augen, die ihm entgegen blickten und in denen Müdigkeit und Erschöpfung zu sehen war. Doch das seltsamste daran war das Gefühl des plötzlichen Erkennens, das Severus bei diesem Anblick durchzuckte. Dann blinzelte Voldemort und seine Augen waren so rot wie zuvor. Der Eindruck verschwand und Severus konnte nicht sagen, welcher Sinnestäuschung er für einen Moment erlegen war. „Und Severus?", ertönte die heisere Stimme des Dunklen Lords. „Wirst du mich die Klippen herabstürzten?"
Severus war so überrascht, dass er in der Bewegung erstarrte. Er wusste nicht, wie der Dunkle Lord es herausgefunden hatte, gerade konnte er nicht einmal erahnen, was in diesem Mann vor sich ging, doch er wusste, dass sein Leben auf dem Spiel stand, wenn er enttarnt war. Voldemort war geschwächt. Er musste es tun, jetzt, bevor es zu spät war. Er zwang seine versteinerten Glieder zur Bewegung, hob den Zauberstab. Er hatte den Todesfluch bereits auf den Lippen. Voldemort hatte sich nicht geregt. Er sah Severus in die Augen und wartete ab. Seine Hand lag beruhigend auf der unruhig zischenden Riesenschlange, schien sie aus irgend einem Grund von einem Angriff abhalten zu wollen. Doch das war nicht das, was Severus inne halten ließ. Es waren Voldemorts Worte, geraunt von der hohen, klaren und kalten Stimme, die so viel Angst und Tod unter Muggeln und Zauberern gesät hatte. „Du musst sie sehr geliebt haben."
Die Worte waren effektiver als ein Fluch. Snape taumelte zurück. Voldemort konnte nicht wissen, durfte nicht wissen, warum er in jener Nacht die Seiten gewechselt hatte. Lilys Andenken war heilig, es war nicht für einen Geist wie Voldemort bestimmt, Severus würde nicht zulassen, dass er ihr Andenken beschmutzte. „Woher wisst Ihr...", brachte er hervor, dann erlosch seine Stimme. Es gab kein Geheimnis, das er besser beschützt, keine Gedanken, die er besser behütet hatte, als jene an Lily. Es sollte vollkommen unmöglich sein. Und doch hatte Voldemort seine Tarnung durchschaut. Wie nur konnte das möglich sein?
Voldemort hatte sich noch immer nicht erhoben. Er lag so, wie er zu Boden gesunken war, nur den Kopf drehte er schwerfällig, um Snape im Blick zu behalten.
„Woher ich weiß, was sie dir bedeutet hat? Ich würde sagen, manchmal hilft es, die Ereignisse aus einer anderen Perspektive zu betrachten."
Für einen Moment herrschte Stille. Der Wind fuhr rauschend in die Gräser und mischte sich zu dem Klang der Wellen.
Snape wollte diesen Mann tot sehen. Er hatte so viele Jahre dafür gelitten und geopfert. So viele Leben waren genommen worden, um dieses Ziel zu erreichen. Und doch ... er wollte es begreifen. Er wollte wissen, was hier geschah, bevor er den Dingen ein Ende setzte. Er brauchte Erklärungen. Er war sich sicher, er würde wahnsinnig werden, wenn er noch weiter im Dunklen tappte. „Beantwortet mir diese Frage", forderte er und schritt auf den Dunklen Lord zu. „Was ist geschehen?"
Voldemorts Gesicht verzog sich zu einer Regung, die Genugtuung nahe kam. „Deswegen schätze ich das Haus Slytherin. Immer wollen sie alle Beweggründe verstehen. Selbst jetzt, selbst hier, wo die Dinge so klar scheinen."
„Das ist keine Antwort", schnarrte Snape.
„Wie recht du hast", erwiderte Voldemort ruhig. „Ich habe den Horkrux, den ich in Nagini erschaffen habe, wieder mit meiner Seele verbunden."
„Aber der Kranz...?"
„Ein Horkrux kann nur durch einen Mord geschaffen werden. Um die Seelenstücke wieder zusammen zu fügen, ist es wichtig, aufrichtig zu bereuen. Außerdem ist es ein sehr schmerzhafter Prozess, der mitunter tödlich enden kann."
Dieses eine Mal konnte Snape nicht verhindern, dass seine Gesichtszüge entgleisten. Der Dunkle Lord bereute? Die Erschaffung eines Horkruxes? Eines Mordes? Er setzte sein Leben aufs Spiel, um einen Horkrux ungeschehen zu machen? Sein Weltbild drohte in sich zusammen zu sinken. Mühsam klammerte er sich mit einer Hand an den Felsen fest. Er hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. Genauso wenig konnte er erahnen, was zu dem Sinneswandel Voldemorts geführt haben mochte. Innerhalb weniger Sekunden hatten sich seine Fragen vervielfacht. Doch noch ehe er noch eine davon stellen konnte, sah er einen Schlangenkörper heran schnellen und sein Zauberstab wurde ihm aus der Hand gerissen. Ohne ihn auch nur zu berühren, brachte Nagini ihre Beute zu ihrem Herrn. Voldemort nahm Snapes Zauberstab entgegen und erhob sich schwerfällig. Snape wusste, dass die Gelegenheit für seine Fragen verstrichen war. „Reime dir deine Antworten zusammen, Severus Snape. Deine Suche nach der Wahrheit wird mein Leben besser sichern, als es jeder Spruch vermag. Reichst du mir nun einen Stärkungstrank?"
Düster blickte Severus dem Dunklen Lord entgegen. Es war schwer, es sich einzugestehen, doch er musste zugeben, dass sein Gegenüber recht hatte. Also griff er in seine Tasche und reichte dem Dunklen Lord die gewünschte Phiole. Voldemort nickte und stürzte den Inhalt herunter. Dann verharrten sie schweigend, bis sich der Atem Voldemorts langsam beruhigte.
Schließlich erhob sich der Dunkle Lord und bedeutete Severus, ihm zu folgen. Sie schritten zur Ruine herüber, in der Voldemort mit wenigen Schlenkern seines Zauberstabes ein Nachtlager für sie herrichtete.
Die Gelegenheit war vorüber. Voldemort war wieder genug Herr seiner Sinne, um Snape in einem Duell schlagen zu können. Außerdem hatte er seinen Zauberstab. Schwer ließ sich Severus auf seinen Schlafsack sinken. Währenddessen schwirrten seine Gedanken unstet wie ein Mückenschwarm durch die Nacht.

Als Snape am nächsten Morgen erwachte, wurde er sich seiner befremdlichen Situation umso intensiver bewusst. Erste Lichtstrahlen sickerten durch die Fenster und beleuchteten das poröse Gestein der Ruine, in der sie genächtigt hatten. Von Voldemort war keine Spur zu sehen. Snape raffte sich auf und entdeckte den Dunklen Lord unter der Baumansammlung, die er bereits am Vorabend entdeckt hatte. Nagini döste neben ihm im Gras. Der Anblick war ... beinah friedlich. Wüsste er es nicht besser, würde er denken, dass Voldemort meditierte.
Doch kaum blickte er in dessen Richtung, fingen rotglühende Augen seinen Blick ein. „Du solltest etwas frühstücken. Wir werden gleich aufbrechen."
Severus neigte den Kopf. Er bemerkte, dass bereits ein Feuer auf den Klippen vor sich hin prasselte.
Während er Tee aufsetzte, kam ihm die gesamte Situation mehr als unwirklich vor. Der Dunkle Lord hatte ihn als Verräter enttarnt und ihn dennoch am Leben gelassen. Gab es eine Verbindung zu dem neuen Zauberstab, dessen Existenz der Dunkle Lord aus irgendeinem Grund geheim hielt? Konnte es sein, dass ihn der Zauberstab beeinflusste? War so etwas möglich? Oder verfolgte der Dunkle Lord schon länger einen Plan und hatte beschlossen, diesen nach Erhalt des Stabes in die Tat umzusetzen?
Severus aß sein Frühstück ohne irgendetwas zu schmecken.
„Was ist?", fragte Voldemort, nachdem Severus Teller leer war. „Wollen wir aufbrechen?"
„Wohin werden wir gehen?", fragte Snape.
Der Dunkle Lord lächelte kalt und sogleich kehrten alle von Severus Befürchtungen zurück. „Wir werden Harry Potter einen Besuch abstatten."

Nebel und EichenhainWhere stories live. Discover now