"Nach Meral?"
"Wohin du willst."
Dann ist das keine Frage mehr. Ich lege meine Hand in seine dargebotene, wage einen kurzen Blick über die Schulter, doch keiner sieht uns. Und wenn - wir sind weg, bevor sie begreifen, was sich vor ihren Augen zuträgt. "Nach Hause, bitte."

Ich war mir sicher, dass ich die kleine Hafenstadt erst erreichen würde, wenn die aufgehende Sonne den Nebel in einen leuchtenden Schleier verwandelt. Wenn ich denn überhaupt in dieser Nacht noch irgendwo ein Pferd aufgetrieben hätte. Mit Simon ist Zeit kein Maß mehr. Kaum schlingen sich meine Finger zwischen die seine, wird es Schwarz um mich, ein leeres Schwarz, jedoch nur so kurz, dass ich glaube, es mir eingebildet zu haben. Im nächsten Moment empfängt mich der Anblick eines dunklen Hauses, das tausende Erinnerungen in sich birgt. Luan hat das kleine Tor und die Fensterklappen geschlossen, so, als würden diese Wände tatsächlich darauf warten, dass Leben in sie einkehrt.

Ich drehe mich zu Simon um, habe bereits das Danke auf der Zunge liegen, doch er ist schneller.
"Nichts zu danken, Talia."

Er drückt meine Hand, als wollte er damit mehr ausdrücken, als er in Worten über die Lippen bringt. Ist es eine stummes Zeichen dafür, dass ich nun endlich seine Hand loslassen soll, nachdem ich aus Respekt vor dem Ungewissen seiner Magie mehr gequetscht habe als nötig und ihm damit das Blut abdrücke?

"Oh, tut mir leid."
Eilig entwinde ich meine Finger und entnehme seinem entglittenem Lächeln schlagartig, dass das nicht die verborgene Nachricht war.
"Du musst dich für nichts entschuldigen." Sein Gesicht ziert eine enttäuschte, herzzerreißend traurige Grimasse. "So ist das Leben nun einmal."
"Simon, ..."
"Es ist okay." Das Zucken seiner Schultern ist vielmehr niedergeschlagen als gleichgültig. "Man kann nicht immer haben, was man möchte."

"Von was redest du denn bitte?"
"Ist das nicht offensichtlich?"
Nein. Ganz und gar nicht. Er könnte über alles Mögliche sprechen - darüber, dass Torin und die Anderen ihm keine Essensreste übrig gelassen haben, wenn er in wenigen Augenblicken dort eintrifft, oder dass ihm seine Hand doch mehr schmerzt, als er aus reiner Freundlichkeit mir gegenüber zugeben möchte. Ich schüttele den Kopf. Wenn er nicht konkret wird, kann ich ihm nicht helfen.

"Ich rede von dir."
Das Blut sackt mir aus dem Kopf, so unvorbereitet treffen mich seine Worte. Dieses Gespräch hat eine Wendung genommen, mit der ich nicht gerechnet habe. Eine Wendung, die mich maßlos überfordert. Er möchte ... mich haben?
Während meine Gedanken nur darum kreisen, was mit Ash passiert ist?

Eigentlich war ich drauf und dran, Simon nach ihm zu fragen, vielleicht sind sie einander zufällig begegnet, doch das bringe ich nicht über mich. Weil es Simon nur noch mehr vor den Kopf stoßen würde.

Simon nickt träge, als wollte er sagen Wirklich, es ist okay. Nur dass das wirklich genauso gelogen wäre wie meines in Sira - wir beide wissen es. Nichts ist okay. Ich bin Hals über Kopf in den größten Lügner - oder vielleicht auch nicht - Sonelems verliebt und schaffe es selbst, einen Anderen zu verletzen. Keiner von uns ist glücklich, keiner ist okay.

Er lässt ein kurzes Lächeln aufblitzen, ein Lächeln, das uns beide trösten soll. Dann führt er meine Hand an seinen Mund, haucht einen Kuss darauf, derweil ich nur stocksteif dastehe, nicht weiß, was ich tun kann. Tun soll. "Gute Nacht, Talia."

Einen eigentlich nur winzigen Moment lang wartet er auf eine Reaktion. Ein Moment, der sich anfühlt wie eine Ewigkeit. Ein Moment, indem mir tausende Gedanken durch den Kopf schießen und sich doch keiner greifen lässt. Also trete ich zurück und rücke meinen Rucksack zurecht. "Gute Nacht."

Simon ist weg, bevor ich blinzeln kann. Und mit ihm nimmt er das Gefühl, dass ich richtig gehandelt habe. Das Gewissen bohrt sich in meine Brust - ich bin genauso wie Ash. Enttäusche. Verletze. Aber Simon vorzuheucheln, dass da mehr ist als Freundschaft, wäre nur eine bittere Verweigerung der Realität, die uns früher oder später einholen wird.

InhumanityWhere stories live. Discover now