Sie sagt nichts. Einen, zwei, drei ganze Atemzüge lang starrt sie mich nur an und ich weiß nicht, ob ich mich nicht gerade zum größten Narr ganz Sonelems gemacht habe. Das war es wert. Ich habe ausgesprochen, was mir schon lange auf der Zunge brennt. Umso schlimmer ist ihr Schweigen. Ihre Regungslosigkeit. Als hätte ich gerade über das Wetter gesprochen, über etwas absolut Belangloses, das keine Reaktion verdient hat.
"Sag etwas. Bitte."

Noch immer keine Regung, nichts. Sie hat sich mir verschlossen. Das fühlt sich beinahe schlimmer an, als ihren enttäuschten Blick ertragen zu müssen, nachdem ich Luan als Druckmittel eingesetzt hatte. Nein, nicht nur beinahe. Es ist schlimmer.
"Geh."

Überrumpelt öffne ich den Mund. "Talia-"
"Geh, Ash!"
Sie stößt mich nach hinten, blinzelt mehrere Male und ich weiß, sie versucht krampfhaft die Tränen zurückzuhalten. Nein, bitte nicht wegen mir. So kann ich sie definitiv nicht zurücklassen. Mein Blick schnellt plötzlich zur Hauswand hinter ihr, ein Schatten huscht über die bröckelige Fassade. Wer würde versuchen, sich an uns heranzuschleichen, wenn nicht einer von Lucius' Handlangern?
"Lass uns-"
"Es gibt kein uns!"

Ihre belegte Stimme setzt mir mehr zu als die Brutalität ihrer Worte. Weil ich sie verletzt habe. Weil sie mir nicht glaubt. Weil sie denkt, dass ich rücksichtslos auf ihren Gefühlen herumtrampele, mich genüsslich in ihrem Vertrauen suhle und mich darüber lustig mache.
"Es gibt definitiv kein uns. Ich hasse deine Lügen, deinen Egoismus, deine Art noch immer so zu tun, als wäre ich dir wichtig - ich hasse dich, okay? Ich hasse alles an dir!"

Die Wucht ihrer Worte beschäftigt mich so sehr, dass ich den Schatten beinahe vergessen hätte. Doch ich kann mich nicht ablenken lassen, muss wachsam bleiben, auch wenn das Johanniskraut meine Sinne lahmlegt. Hätte sie doch nur den Zettel gelesen, wüsste sie, dass es alles andere als sicher ist, mitten auf Siras Gassen zu verharren. Dennoch kann ich es ihr nicht vorwerfen - sie handelt nach ihrem Kopf, nach den Erinnerungen, die Kaya ihr überlassen hat. Wer würde es nicht auch an ihrer Stelle machen?

"Sie sind uns gefolgt."
Fassungslos wirft Talia die Hände in die Höhe. "Du hörst mir nicht einmal zu!"
Mein Blick fixiert den ruhigen Schatten. Was würde ich nun dafür geben, meine Sinne zu haben, meine Kräfte. Ich bin gerade nichts weiter als ein Haufen Schwäche, kann mich nur auf mein Training von klein auf verlassen.
"Du hasst mich also? Beweise es. Geh. Lass mich hier alleine."

Sie beißt sich auf ihre Unterlippe, spielt wahrhaftig mit dem Gedanken. Doch sie weiß, wie meine Chancen stehen, nachdem ich das Johanniskraut getrunken habe. Ist auch nur ein Magier unter ihnen, habe ich verloren. Zumal ich nicht einmal mehr mein Schwert habe. "Du hast keine Magie."
"Ändert das etwas daran, dass du mich hasst?" Ich lege den Kopf schief. "Das ist deine Gelegenheit mich loszuwerden. Für immer."

Lucius wird mir keine Freiheiten mehr erlauben, mich nicht mehr aus dem Palast lassen. Schritte im zertretenen Schnee auf den Pflastersteinen. Wenn ich sie nun höre, dann auch Talia. Sie weicht zurück, meidet meinen Blick, als würde es ihr die Entscheidung erleichtern, wenn sie mich nicht anschauen muss.
"Weniger hast du nicht verdient."

Dann dreht sie sich um. Geht. Blickt nicht einmal zurück. Ich schlucke die Enttäuschung in mich hinab, rede mir ein, dass ich das Zucken ihres Augenlids nur durch die Finsternis der Nacht übersehen habe, bekomme keine Luft mehr, als es mir die Brust zuschnürt. Ich schaffe es gerade noch, mich rechtzeitig wieder auf die Gefahr zu besinnen, um der ersten Faust zu entgehen.

Er strauchelt, fängt sich jedoch problemlos. Das Mädchen aus der Bar ist nicht unter den Dreien. Dennoch macht es das umso schwerer. Sie sind stark, trainiert, wissen, wie sie sich bewegen müssen. Eine Faust links, einmal bücken, ein Tritt. So gut ich kann, weiche ich ihren Angriffen aus, muss dennoch nach wenigen Momenten bereits den ersten Hieb in die Seite einstecken. Der Stoß lässt mich zusammenzucken, krümmen, gibt ihnen Raum für mehr.

Nein, verdammt, nicht so einfach. Ich muss Talia Zeit herausholen, das Beste von meinem magielosen Körper fordern. Als ich einem weiteren Schlag ausweiche, stelle ich einem Anderen das Bein, zwinge ihn vornüber in den Schnee. Zu spät sehe ich das Schwert des Dritten, spüre seine Klinge tief in meinem Oberschenkel. Fluchend taumele ich zurück, greife nach der Hauswand, um nicht einzuknicken, doch mein Bein zittert. Komm schon.

Ich schnelle vor, bekomme ihn zu fassen, ehe er erneut ausholen kann, reiße uns beide zu Boden, schlage ihm das Schwert aus der Hand, bevor er zustechen kann. Es schlittert im Schnee, direkt vor die Füße des Anderen. Vor Schmerzen keuchend springe ich auf, werde sogleich am Knöchel wieder zurückgezogen. Ich greife hinter mich, verpasse ihm einen gezielten Schlag auf den seitlichen Hals. Der Griff lockert sich, sein Oberkörper sinkt ohnmächtig in den Schnee. Noch ehe ich mich in die Höhe gezogen habe, spüre ich die Schwertspitze auf meiner Brust, direkt dort, wo mein Herz pocht, wage keine weitere Bewegung. Das war es also.

Hoffentlich hat es Talia gereicht. Hoffentlich- eine Hand schnellt nach vorne, reißt seinen Kopf zur Seite, lässt ein lautes Knacken ertönen, dann kippt er neben dem Anderen in den Schnee. Tot, nicht ohnmächtig.

Der Dritte zwingt sich hoch, blickt auf seine Gefährten, stolpert weg von uns, geradewegs Talia hinterher.
"Hey." Ich pfeife, ziehe seine Aufmerksamkeit auf mich. "Andere Richtung. Sofort."

Er passiert uns mit reichlich Abstand, vermischt sich mit der Schwärze der Nacht, bevor es sich einer von uns beiden Magiern anders überlegt.

Simon greift nach dem Schwert. "Ich war mir sicher, dass ich auf meinen Knien um mein Leben betteln müsste, wenn wir uns wiedersehen. Umgekehrt gefällt es mir aber um einiges besser."

Ungläubig lasse ich mich in den Schnee sinken, strecke mein Bein aus und blicke zwischen den Hausdächern auf den Sternenhimmel. Wie viele Überraschungen hält diese Nacht noch bereit?

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