Es ist keine Frage und doch wartet er auf meine Bestätigung. Ich zögere - nicht, weil ich nicht bereit bin, ihm die Wahrheit darüber zu sagen, doch weil ich ahne, welche Fragen daraufhin folgen werden. Fragen, auf die ein großer Bruder lieber keine wahren Antworten hören möchte, insbesondere, wenn man sich für seine Schwester verantwortlich fühlt. Wenn man alles an Familie ist, was sie noch hat.

"Ihre Erinnerungen, ja."
Luan reagiert kein wenig. Er nickt nicht, er schaut mich nicht an, er sitzt einfach da und verarbeitet die Bedeutung meiner Worte.
"Das heißt, Lia hasst dich nur, weil deine Schwester es so wollte? Seit dieses, was auch immer von mir da ein Messer durch das Herz gebohrt bekommen hat, gestorben ist?"

"Genau." Die unangenehmen Fragen sind zum Greifen nahe. "Was dem Mann passiert ist - das war wie ein Duplikat. Es hat dir nicht im Geringsten geschadet."

Er dreht die Mundharmonika zwischen den Fingern, immer wieder in schnellen Kreisen, verwischt Talias Spuren auf den Edelstahlplatten mit jeder Bewegung. "Also habe ich doch richtig gesehen. Ihre ... Erleichterung als du da warst."
Obwohl ich mir alle Mühe gebe, nicht zu sehr über sie nachzudenken, gelingt es mir einfach nicht. Verdammt, ich vermisse sie. Jede einzelne Sekunde, jeden einzelnen Atemzug. Luan hier sitzen zu sehen, ihn über sie sprechen zu hören, ist eine Qual.

"Ich weiß nicht, wie viel du von mir hören möchtest", gebe ich zu. Reicht ihm, was er nun in Erfahrung gebracht hat? Oder will er ihr zuliebe alles wissen?
"Die Wahrheit. Nicht weniger, nicht mehr." Er lehnt sich zurück, scheint sich auf ein längeres Gespräch einzustimmen. "Lia hätte sicherlich ganz Sonelem auf den Kopf gestellt, damit sie mich findet, aber sie hätte sich niemals in ihren Erpresser verliebt."

Ich gebe mir reichlich Mühe, keine erkennbare Regung zu zeigen. Gewissermaßen war ich ihr Erpresser - nicht so, wie sie nun von mir denkt, aber doch viel zu ähnlich. Das wiederum werde ich Luan nicht unter die Nase reiben, nicht wieder alles mit meinen Worten ruinieren, nicht, wenn gerade eine halbwegs friedliche Atmosphäre vorherrscht. Also ziehe ich mir stattdessen einen Stuhl heran und lasse mich darauf nieder.
"Dafür hat sie einen zu wachen Verstand."
"Definitiv", bestätigt Luan meine Worte. "Also - was können wir dagegen machen?"

Erleichtert atme ich auf. Er will nicht wissen, was uns verbunden hat, wie viel uns verbunden hat. Er will...was denn genau? Ihm könnte es herzlich egal sein, ob Talia mich hasst oder nicht. Aufmerksam beobachte ich ihn, doch er ist ein Meister darin, sich seine Intentionen nicht anmerken zu lassen. Oder ich kenne ihn schlicht und ergreifend zu wenig.
"Mit Verlaub - warum sollte dich das interessieren? Du hast nichts verloren."

Luan legt den Kopf schief. "Ich habe sie an die Magie verloren. Ich möchte nicht eine Schwester wieder, die vergessen hat, wer sie in der Zeit ohne mich geworden ist. Ich möchte meine Schwester wieder. Und wenn ich akzeptieren muss, dass ich nicht mehr der einzige Mann in ihrem Leben bin, dann soll es wohl so sein." Das meinte Talia also, als sie sagte, ihrem Bruder war es stets wichtig, dass sie glücklich ist. Egal wie, egal mit wem. Dass Luan nicht viel von mir hält, das entnehme ich bereits seinen verengten Pupillen und dem unentwegt zurückgelehnten Oberkörper - das ist nicht Entspannung, sondern Abneigung. "Auch wenn mir persönlich ein normaler Mensch lieber gewesen wäre, muss sie irgendetwas in dir gesehen haben. Oder du lügst wie gedruckt und hast sie doch erpresst."

"Gefühle kann man nicht erzwingen."
"Guter Punkt." Luan nickt nachdenklich. "Dann ist es wohl in unser beider Interesse, dass sie wieder sie selbst ist."
"In der Tat", stimme ich zu. "Leider bin ich bislang noch nicht schlauer geworden. Es gab kleinere Komplikationen."

"Kleinere?" Talias Bruder kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er auf die Scherben auf dem Boden deutet. "Was sind denn dann größere?"
In Lucius' Händen zu sein, aber da ich nicht weiß, wie viel Talia ihm über den Berater berichtet hat, werde ich mich zurückzuhalten. Sie wird ihre Gründe haben, warum sie ihn im Unwissen lässt - vermutlich würde Luan an die Decke gehen, wenn er von dem Brandmal wüsste. Wenn er wüsste, wie sie zugerichtet wurde.

InhumanityWhere stories live. Discover now