42 • Talia

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"Du kannst mir alles erzählen, wenn du willst. Wenn du bereit dafür bist, Lia, okay?"
Er kämmt meine Haare, inspiziert skeptisch sein Werk. Nochmals nicke ich. Er weiß nichts von dem Löwen, ahnt nichts von den Qualen im Palast. Bezüglich Ash wird er sich einiges zusammenreimen können, doch er spricht mich nicht darauf an. Weil er mir ansieht, dass ich mit diesem Verrat kämpfe. Weil ich Ash alles gab, was ich habe, und es ihm noch immer nicht genug war. Weil ich Angst habe.

"Fertig." Luan dreht meinen Kopf von links nach rechts, lässt mich meine eigenen Haare begutachten.
"Furchtbar", murmele ich.
"Furchtbar schön", widerspricht Luan, entlockt mir ein Lächeln. Immerhin plagen die Blutergüsse nicht mehr sein Gesicht, nachdem ich ihn beiläufig geheilt habe. Immerhin sieht er so aus wie immer. "Du musst dich nur daran gewöhnen."
Ich will mich nicht daran gewöhnen. Auch er sollte sich nicht daran gewöhnen müssen.

Mein Bruder merkt, dass er vergeblich auf eine Antwort wartet und wechselt schleunigst das Thema. "Wo sind denn deine ganzen Klamotten?"
Bei ihm. Ich schnappe mir den Rucksack, laufe zu meinem Schrank und schleudere die restlichen Kleider völlig durcheinander hinein. Ash würde in dieser Unordnung vermutlich einen Herzinfarkt bekommen - soll er doch. Was denke ich überhaupt so viel über ihn nach?

"In Riyak", erkläre ich knapp, möchte seinen Namen nicht in den Mund nehmen.
"Willst du ein paar meiner Oberteile?"
Ich schüttele den Kopf. "Danke. Das genügt."
"Und wie wäre es mit etwas Proviant? Du wirst nicht vor Mittag ankommen." Die zweite Absage bereits auf den Lippen, drehe ich mich zu Luan um und sehe, dass das keine Frage war. "Zu bieten hätte ich blau geflecktes Brot mit besonders würzigem Käse."
Mein Mundwinkel zuckt in die Höhe. "Eine wahrhaftige Delikatesse", schmunzele ich, greife nach meinem letzten Umhang und werfe ihn mir über.

Luan quält sich an einem zuversichtlichen Lächeln ab und doch misslingt es ihm kläglich. Ich versuche es gar nicht erst, ziehe ihn in eine Umarmung. Verzweifelt rede ich mir ein, dass das kein Abschied, sondern nur für wenige Wochen ist. Wäre da nicht der grauenvolle Gedanke, was passiert, wenn Ash Luan findet. Zu viele offene Fragen, zu viel Raum für böse Erwartungen und doch müssen wir mit all dem rechnen. Nicht ohne Grund habe ich Luan geraten immer die Mundharmonika unseres Vaters bei sich zu tragen. Je schiefer die Töne, umso besser. Vielleicht hält das Ash im Notfall ein wenig ab. Vielleicht versuche ich mir aber auch nur, alles schön zu reden, weil ich weiß, dass Luan keine Chance hätte.

"Pass auf dich auf, ja?"
Luan packt mich am Unterarm, schaut mir tief in die Augen.
"Das gilt für dich genauso", erwidere ich, bevor ich mich abwende, um das Unvermeidliche nicht noch länger hinauszuzögern. Schnell noch in die warmen Handschuhe geschlüpft, schon verlasse ich das Haus. Zu wissen, dass ich nie wieder hierher zurückkehren werde, macht es mir beinahe schwerer von einem Konstrukt aus Holz Abschied zu nehmen als von Luan. So viele Erinnerungen, meine Kindheit, ein normales Leben. Es fühlt sich an als würde ich einen Teil hinter mir verriegeln.

Ich schwinge mich auf das Pferd, blinzele die verzweifelten Tränen weg, bevor sie sich aus meinem Auge stehlen können und winke Luan. So einsam, so gebrochen steht er an der Schwelle und zwingt sich zu einem Lächeln. Natürlich - er hat immer versucht das Positive in jeder Lage zu sehen. Hat immer versucht mir keine Schwäche zu zeigen. Und selbst jetzt, da keiner von uns weiß, ob wir das Richtige tun oder nicht gerade schnurstracks auf unser Verderben zusteuern, gibt er sich alle Mühe mir der hoffnungsvolle, große Bruder zu sein.

Dabei wird er erst zurück in das Haus kehren, wenn ich außer Sichtweite bin, wenn er sich sicher ist, dass nichts passiert ist, was er noch hätte mitbekommen können. Der Schnee knirscht unter den Hufen des Pferdes, hinterlässt unsere Spuren, doch die vom Himmel tanzenden Flocken werden sie bis zur Dämmerung verwischt haben. Keiner wird ahnen, dass ich jemals wieder hier war. Keiner bis auf Simon und die anderen Magier. Ich weiß, ich habe Luan etwas versprochen. Ich weiß, ich widersetze mich ihm und doch bin ich es ihnen schuldig. Kaum kann Luan mich nicht mehr in der Finsternis der Nacht wahrnehmen, steuere ich die kleine Hütte am Rande Merals an. Die sternenlose Nacht macht es mir schwerer die Orientierung zu behalten. Keine Abdrücke im Schnee verraten mir die Richtung, das Band am Baum hätte ich beinahe übersehen. Umso erleichterter bin ich, als ich vom Hang auf den tiefschwarzen Umriss des Hauses blicke.

Das Pferd binde ich an einer Tanne an, um zu vermeiden, dass ich einen der Magier aufwecke, falls es wiehern sollte. Ich fummele den Briefumschlag aus meinem Umhang, schleiche auf die Tür zu und werde im nächsten Moment mit solch einer Wucht nach hinten geschleudert, dass mir der Sturz die Luft aus den Lungen presst. Ich keuche auf, greife nach dem Brief, der mir aus der Hand gefallen ist, und rappele mich auf.
Was war denn das?

Vorsichtig nähere ich mich Schritt für Schritt, taste in der Luft nach einer Grenze, einem Schutz, irgendetwas, das mich nicht an das Haus erlaubt.
Noch ehe ich es gefunden habe, geht ein Licht an, dann wird die Türe aufgerissen. Ein rothaariges Mädchen, das ich noch nie gesehen habe, steht da, in der linken Hand ein Schwert, das bedrohlich auf mich zeigt.

"Wer bist du?"
Ihre Augen fixieren mich wie eine Katze ihre Beute, bringen mich dazu, in meiner Bewegung augenblicklich inne zu halten.
"Das ist Talia." Torin steht auf einmal hinter ihr, legt eine Hand auf das Schwert und deutet ihr an, es zu senken. Dann tritt er in den Schnee hinaus, barfuß als habe ich ihn gerade aus dem Bett gezogen. Vermutlich ist dem so. "Schön dich wiederzusehen. Auch wenn sich deine Aura deutlich verändert hat."

Wundert es ihn? Ich bin nicht mehr das Mädchen, das er vor Wochen kennengelernt hat. Ich habe Lucius erlebt. Ash. Ich weiß nicht, was schlimmer davon war. Man kann es nur schwer miteinander vergleichen. Lucius hat sich an meinem Körper verausgabt, Ash hingegen hat es in mein Herz geschafft - vielleicht schmerzt der Verrat genau deswegen umso mehr.

"Lange Geschichte", murmele ich.
"Ich höre dir gerne zu, wenn du möchtest." Torin macht eine einladende Bewegung in das Haus, doch ich schüttele den Kopf. "Ariane würde selbstverständlich den nächtlichen Schutz aufheben."
"Danke", wehre ich sein Angebot ab, verhindere ein Abschweifen meiner Gedanken zu diesen verfluchten bernsteinfarbenen Augen. "Ich wollte eigentlich nur diesen Brief vorbeibringen, aber da ich euch nun eh geweckt habe..."

Seine Zehenspitzen werden immer blasser. Er muss frieren und doch spricht Torin mit einer Geduld, die ich bewundere. "Wenn du Simon etwas sagen möchtest-"
"Nein." Es ist gut so, dass er nicht hier ist. "Ich wollte euch nur Bescheid geben, dass Kaya lebt. Dass es ihr gut geht."
Torin legt neugierig den Kopf schief. "Und Ash?"
Mein Herz schmerzt allein beim Klang seines Namens und doch zögere ich keine Sekunde. "Er ist jetzt mein Problem."

Ariane betrachtet mich mit einem Blick, den ich nur als pures Mitleid deuten kann. Das habe ich nicht verdient - ich war naiv. Dumm. Habe Ash mit mir spielen lassen, habe geglaubt, dass er mir Luan gibt. Wäre Kaya nicht gewesen, wäre ich noch immer in diesem Trug gefangen.
"Wie meinst du das?"
"Wie ich sagte, lange Geschichte. Es ist besser, wenn ich nicht mehr hier aufkreuze. Daher vielen Dank für eure Hilfe."
"Das ist doch selbstverständlich, Talia."
Ist es nicht. Ich war nichts weiter als eine Belastung für sie, kann das nicht noch länger sein. "Ich bin mir sicher, dass ich für jeden hier spreche, wenn ich sage, dass du jederzeit willkommen bist."

Nickend zünde ich den Brief an, schaue zu, wie die Flammen das Papier zerfressen. "Das wollt ihr gerade wirklich nicht, nachdem ihr nun endlich Ruhe habt."
Torin lächelt träge. "Wir haben erst wieder Ruhe, wenn wir wissen, wie es um Will steht."
Ich senke den Blick, habe mit meinem Gewissen zu kämpfen. Ihn in Riyak zurückzulassen, war egoistisch, nachdem er und Kaya mir geholfen haben, doch ich musste Luan so schnell wie nur möglich von dort fortbringen. "Ich weiß leider nicht, wo er gerade ist, aber ich bin mir sicher, dass sich Kaya gut um ihn kümmert."

Immerhin waren die Beiden ein perfekt eingespieltes Duo - warum also sollte sie ihn Ash überlassen?
"Er ist bei Kaya?"
"Zumindest war er das", stelle ich klar, nicke langsam.
"Dann werden wir sicherlich bald wieder von ihm hören."
Hoffentlich. Ich mag mir nicht ausmalen, was Ash mit den Beiden angestellt haben könnte, nachdem sie mir Luan gebracht haben und mich somit aus seinem Lügennetz befreit haben.

"Bestimmt."
Torin nickt dankend, weißt Ariane mit einer knappen Handbewegung zurück ins Haus. "Mach es gut, Talia. Unsere Tür ist immer offen für dich."
"Außer nachts", murmele ich, entlocke ihm ein Schmunzeln.
"Auch nachts."

Dann drehe ich mich um, um zu verbergen, dass mir ganz und gar nicht nach Lachen ist. Vielmehr bin ich froh, dass ich kein Wort mehr sprechen muss. Meine Stimme würde brechen, den Versuch, die Tränen krampfhaft zurückzuhalten, offenbaren. Tränen der Wut über meine Naivität. Tränen der Angst vor dem, was kommen mag. Tränen der Hilflosigkeit, weil ich nicht weiß, ob Ash über meine Vorkehrungen nur lachen wird, wenn er sich Luan krallt. Tränen der Verzweiflung, weil ich ihm niemals entkommen kann - warum zur Hölle musste aber auch ausgerechnet er damals Phantasia betreten?

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