40 • Talia

Beginne am Anfang
                                    

"Kaya-"
"Sei ruhig!" Sie fährt zu Ash herum, unterbricht ihn fauchend. "Sei bloß ruhig! Glaubst du nicht, sie hat die Wahrheit verdient? Nachdem sie sich dir anvertraut hat? Nachdem sie dich hat Sachen mit ihr machen lassen, von denen wir ihm lieber nicht erzählen."

Sie deutet auf Luan, der sofort hellhörig wird. "Wir müssen wohl reden, Talia. Danach."
Mein ganzer Name, verflucht. Er nutzt ihn nur, wenn er wütend oder enttäuscht ist. Oder beides. Panisch suche ich nach den passenden Worten, bringe sie einfach nicht sortiert. Wie soll ich mich auch für etwas entschuldigen, das ich nicht bereue? Für das ich mich bei ihm nicht entschuldigen muss? Aber kann ich ihm sein Entsetzen verübeln? Er war Wochen gefangen - ich mag mir nicht erst vorstellen, wie - und erfährt dann das. "Luan, ... ich kann das erklären."

Kaya lacht auf. "Die Erklärung ist ganz einfach. Er hat dich um seinen Finger gewickelt. Und ja, sicherlich weiß mein Bruder, wie er eine Frau gut fühlen lässt - ich meine, es war nicht zu übersehen - aber-"
"Wie bitte?" Mein Blick zuckt entrüstet zu Ash, der Kaya unentwegt fixiert, als würde er sich jeden Moment auf sie stürzen. Sie hat es gesehen?

"Glaub mir, ich wünschte, ich könnte diese Bilder aus meinem Kopf verbannen."
"Können wir verdammt nochmal das Thema wechseln?" Luan reißt den Kopf zu ihr herum, renkt sich dabei fast die Schulter aus. "Bitte."

Kaya seufzt. "Gut, wir wollen deinen lieben Bruder nicht traumatisieren." Sie zuckt mit den Schultern. "Wie auch immer, Talia, du weißt doch sicherlich von Simon und mir, nicht wahr?" Sie wartet keine Antwort ab, fährt ununterbrochen fort. "Ich habe auch Simon geliebt und da kommt das Problem - Ash kann nicht teilen. Er braucht einen für sich. Nur für sich. Was war also seine Lösung? Dienende Magier auf Simon zu jagen."

"Das ist eine Lüge", wirft Ash ein.
"Oh wirklich, ist es?" Ihre Stimme sprüht voller Verachtung. "Wie sollen sie denn sonst gewusst haben, wo wir sind?"

Wie benebelt blicke ich zu Ash. Ich öffne den Mund, will ihn fragen, was stimmt, was die Wahrheit ist, doch woher weiß ich, dass er ehrlich zu mir ist?
"Talia", redet er auf mich ein, will nach meiner Hand greifen, doch ich weiche ihm aus. "Ich hätte sie niemals solch einer Gefahr ausgesetzt, das weißt du. Simon hat das inszeniert, um die Schuld auf mich zu schieben."

Kaya schnaubt. "Er versucht, dich zu manipulieren. Lass mich dir ein wenig die Augen öffnen, Talia. Du scheinst ein gutes Mädchen zu sein. Du hast Besseres verdient, auch die skrupellose Wahrheit über meinen Bruder."

Ich blicke gerade wieder zu ihr, da sticht sie zu. Ein Ruck, das schmatzende Fleisch, ein gellender Schrei, mein Schrei. Ich starre auf die Messerspitze, die aus seiner Brust ragt, das Blut, das von der Klinge tropft, bekomme keine Luft. Ash greift nach mir, zieht mich an sich, steckt meine wilden Tritte, Schläge wortlos ein.

Die Magie in mir explodiert, bringt mich beinahe um den Verstand, will eingreifen, muss eingreifen.
Lass mich los, denke ich, schreie ich - ich weiß es nicht. Ash lässt nicht locker. Luans Körper zuckt unkontrolliert, versucht sich an das Leben zu klammern. Ein geöffneter Mund, ein stummes Ich liebe dich, Lia. Keine Luft zum Atmen, zum Schreien, zum Leben, nur das Brennen meiner Magie in meinen Adern. Er kämpft, leidet und ich kann nur zusehen.

Es tut mir leid.
Meine Magie klingt ab und ich weiß, es ist zu spät. Der Glanz weicht aus seinen Augen, die Hoffnung aus mir. Ein unverständlicher Ton entfährt mir, ein Ausdruck meiner Qual. Ich sacke kraftlos zusammen, rutsche tiefer in Ashs Griff. Für einen Moment ist alles still - keiner atmet, keiner glaubt, was passiert ist. Keiner, außer ihr.
"Luan", röchele ich ungläubig, bringe nicht mehr zwischen meinen stockenden Atemzügen hervor. Ash löst seine Hände von mir, endlich, zu spät.

Ich krieche zu Luan, bette seinen Kopf in meinen Schoß. Seine leeren Augen treffen meine, starren geradewegs durch mich hindurch, sind kaum zwischen meinen Tränen zu erkennen. Ich sehe es, weiß es und kann es nicht akzeptieren. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Meine Finger tasten über seine Wange, spüren die noch warme Haut, versuchen sie festzuhalten, haben Angst loszulassen. Ich zwinge die Magie herbei, doch sie ebbt augenblicklich wieder ab.

Nein, nein, nein.
Tausende Erinnerungen brechen über mir ein, tausende Male, in denen sich seine Brust ruhig hob und senkte, zugleich zerrt die bittere Realität an mir. Das ist für immer. Luan ist der, der meine Vergangenheit bereichert hat und in Zukunft nur eine Erinnerung sein wird. Mein Körper zittert unter dem Schock, ächzt verzweifelt nach Luft, die meine Lunge nicht fassen kann. Ich ziehe das Messer aus seinem Rücken, kann den Anblick nicht ertragen.

Ashs Hand auf meiner Schulter, ruhig, viel zu ruhig. Ich entwinde mich seiner Berührung, angewidert, ernüchtert. Ich hätte ihn heilen können, ich hätte sein Leben retten können, wäre Ash nicht gewesen. Hätte er mich nicht festgehalten und mich dazu gezwungen, den Tod zu begrüßen. Nur am Rande bemerke ich das Gefäß in seiner Hand, weiß intuitiv, dass es das ist, was die Magie vernichtet. Das, warum er länger hierher brauchte. Das, warum er mich nicht zu Luan gelassen hat.

Ash kann nicht teilen.

Er hätte sie mit seiner Magie aufhalten können. Er hätte mich zu ihm lassen können. Er hat keines davon getan. Ich greife nach dem zarten Glas, blicke nicht einmal auf die Flüssigkeit darin.

"Was zur Hölle ist falsch mit dir?", wispere ich, bringe nicht mehr hervor. Ashs Augen sind ein Spiegel seines Schmerzes, als ihn meine Worte wie ein Schlag treffen. Du hast keinerlei Recht dazu, verletzt zu sein!

Es ist mir egal, wie sehr ihn meine Worte treffen, egal, was er von mir denkt, als ich das Glas gegen die Wand schleudere und sich die duzenden Scherben zu denen in mir gesellen. Was ist denn auch das wert, wenn ich gerade alles verloren habe?

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt