"Warum verwendet er aber dann seine Magie in einem Dorf, in dem er keinerlei Geschäfte hat? In dem er sich gar nicht erst aufhalten müsste?"
Ich frage nicht, woher er das weiß. Vielleicht hat ihm Will das persönlich verraten, vielleicht hat Magie nachgeholfen - es ist nicht von Belangen. Einzig und allein zählt, dass duzende Gründe dafür und genauso viele dagegen sprechen.
"Das hört sich so an, als würden wir einen Ausflug machen", murmele ich, bereit, jede Spur nachzuverfolgen.
"Morgen, Talia." Ich kann Ashs Grinsen regelrecht hören. "Wie wäre es denn damit, wenn wir zuerst zu einer vernünftigen Zeit schlafen gehen?"
Ich schmunzele. "Es wäre ungewohnt." Kalte Luft dringt an meine Füße, als ich die Decke zusammenfalte, der Wind über meine nackten Zehen kriecht. "Ungewohnt gut."

Ash ist aufgestanden, bevor ich ihn darum bitten kann, greift nach dem Buch und hält inmitten der Bewegung inne. Beunruhigt drehe ich den Kopf, versuche zu erkennen, was ihn wachsam werden lässt, doch die Bäume entlang des Seeufers versperren mir jegliche Sicht. Zumal das Mondlicht nicht mehr als Umrisse erahnen lässt. "Was ist?"
Er blättert das Buch durch, da trifft es mich wie ein Schlag. Simons Zettel. Er riecht ihn, anders kann ich mir das nicht erklären.
"Was ist das?"
Nur der Klang der Neugierde in seiner Stimme, keinerlei Vorwurf darüber, dass ich ihm davon nicht erzählt habe.

"Was ich brauche, um die Magie zu vernichten."
Ash faltet den Zettel nicht auseinander, dreht ihn nur zwischen seinen Fingern. Er vertraut mir, vollkommen. Es könnte alles Mögliche darin stehen und doch würde er ihn niemals öffnen, wenn ich es nicht wollen würde.
"Lass es uns holen. Morgen."
"Aber du sagtest..."
"Ich weiß." Er bietet mir seine Hand an, doch ich stehe nicht auf. Nicht, bevor ich weiß, was ihn dazu verleitet. "Aber nicht wir haben den Tod im Griff, sondern er uns."

"Das sind bittere Worte."
"Ich versuche nur, der Realität ins Auge zu sehen."
Meine Lippen formen ein Grinsen, meine Hand legt sich in seine. "Was auch immer dir zu dieser Rationalität verhilft, hör bloß nicht auf damit."

"Dann sieht es so aus, als dürfte ich dich nie wieder gehen lassen." Ash erwidert das Grinsen, streift mit seinen Lippen fast beiläufig mein Ohr, als er mich an sich zieht. "Erst recht nicht, wenn das Einzige, was aus deinem süßen Mund kommt, mein Name ist."
"Ash!" Am liebsten hätte ich das Gesicht in meinen Händen vergraben, doch er lässt sie nicht los.
"Habe ich es nicht gesagt?" Er zieht eine Augenbraue in die Höhe. "An was hattest du denn gedacht?"

Noch bevor wir nach Niraka aufbrechen, dort, wo Will sich aufgehalten haben soll, überredet mich Ash, die Zutaten zu holen. Gut, überreden trifft es vielleicht nicht ganz, nachdem ich sofort einsehe, dass er Recht hat, auch wenn ich es mir anders wünsche. Ich werde weder Luan noch ihn aus meinem Leben stoßen, aber über den Tod habe ich keine Macht. Also besuchen wir beim Aufblitzen der ersten Sonnenstrahlen Riyaks am Rand gelegene Apotheke. 

"Eine kleine Warnung vorab", raunt Ash mir zu, als wir vor der kleinen Hütte stehen, die mit ihren vom Staub trüben Fenstern und dem löchrigen Dach weniger einladend wirkt. "Der Mann ist ein wenig mürrisch." 
"Das sind mir die Liebsten", murmele ich voller Ironie, blicke mich einmal um. Die Apotheke ist das letzte Haus der verwahrlosten Straße, die über mehr leerstehende als bewohnte Häuser verfügt. Direkt dahinter türmen sich Bäume auf, dicht und dunkel, teils morsch. 

Ash schmunzelt, will nach dem Türgriff greifen und zögert. Sofort zucke ich zu ihm herum, doch er winkt ab. "Ich dachte, ich hätte etwas gerochen."
Er lässt mir den Vortritt und dennoch entgeht mir nicht, wie er einen kurzen Blick über die Schulter wirft. Seine Wachsamkeit beunruhigt mich, gefällt mir ganz und gar nicht. Bevor ich jedoch zu einer Frage ansetzen kann, tritt ein gebrechlicher Mann aus dem Hinterzimmer. "Tag."

Zugegeben, mürrisch beschreibt ihn ausgezeichnet. Er rückt die Brille durch einen Finger mitten auf dem Glas zurecht und schaut nicht einmal zu uns auf, derweil er in einem Buch stöbert. 
"Morgen", erwidert Ash, schließt die Türe hinter sich. Der Blick des Mannes schnellt kurz zu ihm, beachtet mich kein Stück. 
"Ah, du."
Keine Freude, keine Abneigung, fast so, als wüsste er nicht ganz, was er von Ash halten sollte. Als er jedoch das Buch auf die Tara legt und sein Blick neugierig von Ash zu mir wandert, offenbart sich mir der Respekt. "Wie kann ich behilflich sein?"

"Wir würden gerne etwas zusammenbrauen", begründet Ash unseren Besuch, derweil ich dem Mann Simons Zettel reiche. Seine Finger zittern, die Nägel sind vergilbt und die Haut runzelig und trocken. Erst jetzt fällt mir auf, dass er vermutlich der älteste Mensch ist, dem ich je begegnet bin - zumindest, wenn ich mir die Spuren der Zeit auf seinem Körper anschaue. Er überfliegt die Zutaten, dann schnellt sein Blick zwischen uns hin und her. 
"Außergewöhnlich. Wofür soll das sein?"
"Eine seltene Krankheit", lügt Ash ohne mit der Wimper zu zucken. 
"Ah." Der Mann nickt. "Ich bin zu alt für solche Sachen. Komm, Bursche, deine junge Nase erleichtert uns die Suche."

Verwirrt öffne ich den Mund, da beugt sich Ash zu mir. "Er weiß nichts von meiner Magie. Ich habe ihm nur eingeredet, dass er mittlerweile zu wenig riecht", flüstert er mir zu, kaum hat sich der Mann abgewandt und verschwindet im Hinterzimmer. 
"Mädel, du kannst schon einmal Mörser und Stößel aus dem Regal holen. Granit, wenn du den Unterschied zu Marmor erkennst", ruft er.
"Sympathisch", wispere ich, verziehe den Mund.
"Er ist auch nicht mein bester Freund, aber er weiß, wovon er spricht und was er zu tun hat." Ash haucht mir einen Kuss auf die Stirn, dann folgt er rückwärts dem Mann. "Granit ist übrigens-"
"Körnig", falle ich ihm ins Wort, erwidere sein würdigendes Grinsen. "Ich weiß."
"Warum habe ich es überhaupt angezweifelt?"

Mörser und Stößel habe ich sofort gefunden, stelle sie auf die Tara und blicke mich um, derweil hin und wieder ein Poltern aus dem Hinterraum dringt. Die Regale sind brechend voll, präsentieren farbenprächtige Mischungen in verschiedenen Gefäßen. Nur wenig Tageslicht dringt durch die Fenster und doch würde es mir selbst mit mehr Licht nicht gelingen, die krakeligen Beschriftungen darauf zu entziffern. Ich beuge mich gerade zu einer blutroten Mischung, da schwingt die Tür auf. Kurz werfe ich einen Blick über die Schulter, schenke dem Mädchen ein knappes Lächeln und wende mich ab, um das Glas nochmals zu inspizieren - Moment.

Das kann nicht sein.
Hektisch wirbele ich zu ihr herum, betrachte das schulterlange, dunkle Haar, die bernsteinfarbenen Augen, die hohen Wangenknochen, das kleine Muttermal auf ihrer linken Nasenseite. Wir starren einander an, nein, ich starre sie an. Sie weiß vermutlich nicht, was sie von meinem Antlitz der Überraschung halten soll. 
"Kaya?"

Sie verengt die Augen, ist für einen winzigen Moment wie erstarrt, dann stürmt sie aus dem Raum. Ich weiß, Ash hat jemanden kommen hören, ich weiß, dass er seitdem gelauscht hat - dazu kenne ich ihn einfach zu gut. Also mache ich das Einzige, was mir übrig bleibt, bevor die Tür hinter ihr zufällt und ich sie aus den Augen verliere - ich folge ihr.

InhumanityWhere stories live. Discover now