"Ist der etwa lebensmüde? So nah an Sonelis und dem Palast?"
Simon nicht, Will schon.
"Wer würde denn dort mit ihm rechnen?", entgegne ich.
"Wahre Worte." Runa zuckt mit den Schultern. "Lucius erwartet mich nicht so schnell. Soll ich dich begleiten?"
Kommt nicht in Frage. "Danke, aber es kann gefährlich werden."
"Ich kann mich vert-"
"Nein."
"Okay, okay, war nur ein Angebot." Beschwichtigend reißt sie die Hände in die Höhe. "Du weißt, ich bin jederzeit für dich da."
Und ich weiß ganz genau, dass sie damit nicht nur Niraka meint, doch ich schüttele beharrlich den Kopf. "Danke für deine Hilfe."
"Selbstverständlich."

Als ich in Riyak ankomme, dämmert es wieder - ein Ausflug nach Niraka wäre heute nicht mehr drin gewesen. Nachdem der Besitzer der Pferde heute Morgen nicht zu Hause war, musste ich sie mit zu Runa nehmen und habe damit bereits einiges an Zeit vergeudet. Umso besser, dass ich nun seine Frau angetroffen habe und wenig später vor meinem Haus stehe. Kaum habe ich die Türe aufgeschlossen, merke ich jedoch, dass etwas nicht stimmt. Ich rieche ihn. Überall. In der Luft, auf dem Stuhl, selbst der Duft des frisch geputzten Bodens kann seine Spuren nicht verwischen.

Der Schock sitzt tief, als ich lausche und keinen weiteren Herzschlag vernehme als den meinen. Nicht darüber, dass Simon hier war, sich eigenmächtig Zutritt verschafft hat, sondern die Tatsache, dass er wegen ihr eingedrungen ist. Dass sie nicht mehr hier ist. Das Schwert landet achtlos in der Ecke, dann registriere ich die Scherben auf dem Tisch, rieche sowohl Simon als auch Talia an ihnen. War er das oder schlimmer - war sie das? Was muss er ihr gesagt haben, dass sie so reagiert hat? Warum würde sie sich aber die Mühe machen, jede Scherbe aufzusammeln? Mein Blick zuckt wild umher, meine Sinne wachsam, versuchen kein Detail zu übergehen. Kayas Lieblingsbuch ist aufgeschlagen, Simons Geruch an seinem Umschlag - ich habe es nicht verstaut, nachdem es auch Talia geholfen hat. Meine Notiz an sie liegt schief, der Stuhl ist ebenso verrückt. Dann vernehme ich die Bewegung aus dem Augenwinkel.

Sie sitzt auf dem Steg, streift mit ihren Zehenspitzen die Wasseroberfläche und bricht die glühend rote Spiegelung des Himmels. Ich atme erleichtert auf, deute es als ein gutes Zeichen, dass sie nicht zurück nach Meral gegangen ist. Dass er ihr das Angebot gemacht hat, wage ich nicht zu bezweifeln. Leise trete ich auf die Terrasse, über die Wiese bis zum Steg, möchte sie beim Lesen nicht stören, doch meine Neugierde zerfrisst mich.

"Du solltest auf deine Augen Acht geben."
Sie zuckt zusammen, spannt den Rücken an. "Verdammt, Ash!"
"Seit wann fluchen wir denn?", tadele ich sie, kann mich an ihrem Grinsen nicht sattsehen.
"Wenn du wüsstest...", murmelt sie, breitet die Decke weiter aus und deutet auf den freien Platz. "Ich fürchte, du hast die Vase schon bemerkt?" Ich nicke. "Es tut mir leid."

Ich gleite neben sie, in die Ruhe, die sie umgibt, und registriere nebenbei das Buch in ihrem Schoß. Paylische Zeichen strahlen mir entgegen - das Buch, das ich auf dem Wochenmarkt aufgetrieben habe. Doch viel zu abgelenkt bin ich von Simons Geruch an ihr. Auf ihren Fingern, in ihren Haaren, vermischt mit dem frischen Geruch nach Seife. Gott, wäre er hier, würde ich ihm seine übergriffigen Hände abhacken. Sie meidet meinen Blick und für einen Moment durchzuckt mich ein grausamer Gedanke. Was, wenn sie es wollte?
"Warum entschuldigst du dich für die Taten Anderer?"
"Ich weiß nicht." Sie klappt das Buch zu und legt es zur Seite. "Ich fürchte, weil ich ihn nicht aufhalten konnte."

Ihre Füße spielen mit dem Wasser, kreisen über die Wasseroberfläche. Nachdenklich, viel zu in sich gekehrt, kaut sie auf ihrer Unterlippe, trommelt mit den Fingern gegen das Holz unter uns. "Hat er dir etwas getan?"
"Nein." Die Antwort kam eine Spur zu schnell, um wahr zu sein. "Nein, er wollte sich nur selbst davon überzeugen, dass es mir gut geht. Mehr nicht."
Sie versucht so angestrengt ihren Puls unter Kontrolle zu halten, dass sie das verräterische Zucken ihres linken Auges nicht bemerkt. Ich nicke enttäuscht, versuche das mulmige Gefühl in mir zu verdrängen. Er war einmal hier, hat nur einmal mit ihr gesprochen und schon bröckelt das Vertrauen zwischen uns.

"Um ehrlich zu sein, stimmt das nicht." Als sich unsere Blicke kreuzen, schaut sie eilig weg, dreht unruhig die Perlen. "Ich weiß nur nicht... ich will nur nicht, dass sich etwas zwischen uns ändert."
Ich auch nicht, Talia. Ich auch nicht.
Aufmerksam betrachte ich sie von der Seite, die feinen Sommersprossen um ihre Nase, der Wind, der mit ihren Haaren spielt, ihre nervösen Finger am Armband. Was auch immer er ihr gesagt hat, kann nicht gut sein. Das Letzte, was ich wollen würde, ist, dass sie mich wieder so niedergeschlagen und ohnmächtig anschaut, wie in dem Moment, als ich sie mit Luan erpresst habe. Dieser Moment, der mir bewusst gemacht hat, dass ich ein Idiot war. Dass mir der verletzte Schimmer in ihren Augen die Kehle zuschnürt, mich selbst ungemein getroffen hat.

"Nichts kann etwas daran ändern, dass ich am liebsten nie wieder schlafen würde, weil mein Leben gerade besser ist als jeder Traum."
Talias Mundwinkel zucken ein wenig. "Wie treffend. Heute Mittag noch habe ich gedacht, dass unsere Schlafrhythmen eine Katastrophe sind."
"Ich will es nicht anders haben." Selbst wenn ich bis in die frühen Morgenstunden ihre Wunden säubern oder ihr vorlesen würde, wäre mir das lieber als die Gewissheit, dass sie im Begriff ist, dies zu ändern.
"Er hat einen Weg gefunden, um Magie loszuwerden."

Natürlich wusste er von ihrem Wunsch. Sie hat selbst mich gefragt und das, obwohl sie anfangs nicht sonderlich viel von mir hielt - zugegeben, das ist noch milde ausgedrückt, wenn ich daran denke, dass sie mich ein Arschloch nannte. Ich hatte es nicht anders verdient.

"Was ist die Schattenseite daran?"
Der Wind trägt das Schleifen der Perlen aneinander bis zu mir. Ich greife nach ihrer Hand, um ihre Nervosität einzudämmen und achte zugleich darauf, dass sie ihre Magie nicht auf mich überträgt. "Das geht nur, wenn man vorher jemanden verliert, der einem viel bedeutet. Sehr viel bedeutet."
Vorsichtig fahre ich mit meinem Daumen über ihren Handrücken, spüre die weiche, warme Haut. "Ein Verlust für einen Verlust."

"Genau", stimmt sie leise zu und schlängelt ihre Finger zwischen meine. "Das ist kein Ausweg."
"Nein." Sie hat schon ihre Eltern verloren, ihr normales Leben - sie kann nicht auch noch Luan verlieren. "Wir werden einen anderen Weg finden. Luan wird nichts passieren."
Sie wendet den Kopf, ihre blauen Iriden funkeln amüsiert und ungläubig zugleich. "Ich hoffe doch nicht nur Luan."
"Auch mir nicht." Ich lächele. "Und über meine Intentionen hatten wir es doch schon, oder?"
Neckisch spitzt sie die Lippen, legt scheinbar nachdenklich den Kopf schief. "Ich bin mir nicht sicher."
Ich grinse, möchte ihr einen spielerischen Stoß gegen die Schulter geben - wäre da nicht die Wucht meiner Magie, die ich völlig vergessen habe, und der Moment der Überraschung auf ihrer Seite.

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