Zart streicht er mir eine Haarsträhne vom Rücken, fährt ruhig fort. Seine Finger sind wie der magnetische Gegenpol meiner Magie - ich muss sie nicht von den Fingerspitzen verlagern, sondern überlasse ihr die Kontrolle. Ashs Finger kreist bedacht über einen Bluterguss, während ich mich darauf konzentriere, nicht erneut den Schmerz auf mich zu übertragen, so wie es mir bei Kalian passiert ist.

"Das reicht", höre ich ihn sagen. Es ist wie atmen, rufe ich mir in Erinnerung. Also atme ich tief ein, aus, versuche meine Magie zu bremsen. Keine Chance. Sie jagt durch meine Adern, will den Schmerz in seinem Keim ersticken. "Talia."
Noch einmal tief einatmen. Wieder aus. Der Schmerz gleitet auf mich über, bohrt sich mir in den Rücken. Ein Schrei entfährt mir, Tränen schießen mir in die Augen.

Dann ist es weg, Ash mehrere Schritte zurückgetreten. Entsetzen füllt die Stille zwischen uns. Eilig wische ich mir die einzelne, verlorene Träne weg, presse meine Lippen aufeinander, um jeden Ton zu ersticken.
"Was war das?"
"Ich weiß nicht", flüstere ich und schlüpfe wieder in das Shirt. "Ich kann nicht aufhören."

Meine Beine zittern noch immer. Ich schaffe es auf den nächstbesten Stuhl, bevor sie unter mir wegklappen können. Ash tritt näher, kniet sich vor mich, doch meidet jede Berührung.
"Du kannst es kontrollieren."
"Es ist wie atmen, ich weiß", murmele ich.
"Vergiss Simons Trick." Er legt den Kopf schief und für einen Moment zuckt seine Hand in meine Richtung, doch dann scheint er sich eines Besseren zu belehren. "Das bringt dir nichts mehr, wenn dich deine Magie im Griff hat."
"Was dann?"
"Willst du es ausprobieren?"

Unschlüssig zucke ich mit den Schultern. "Wenn es hilft."
"Du weißt, dass das bedeutet-"
"Ich weiß." Auch wenn ich es lieber vermeiden würde, kann ich nur lernen, wenn er mich nochmals an den Punkt bringt, an dem ich die Kontrolle verloren habe.
"Dann schließ die Augen."
Er nickt mir aufmunternd zu, dann folge ich seiner Anweisung.
"Wenn wir die Kontrolle über unsere Magie haben, herrscht in uns ein Gleichgewicht. Je abgelenkter dein Geist, desto stärker wird deine Magie. Das Atmen beschäftigt dich nur noch mehr."

"Also war das Ganze kontraproduktiv?"
"Nur, wenn dein Geist nicht ganz bei der Sache ist. Wir müssen ihn also wieder in das Hier und Jetzt bringen." Ich nicke. "Du musst dir deines Körpers bewusst werden."
"Das bedeutet?"
"Dass du weißt, wo jeder Teil deines Körpers ist."
"Lenkt das nicht auch ab?"
"Es lenkt deine Gedanken auf diesen Moment." Wie aus dem Nichts finden seine Hände den Weg in meine, schlingen sich um meine Finger. Die Wucht des Schmerzes trifft mich schlagartig, raubt mir den Atem. Ich kralle meine Nägel in seine Handfläche, hinterlasse dort vermutlich meine Spuren, doch Ash lässt nicht locker. "Fang bei den Fingern an. Einen nach dem anderen, bis du sie alle bewusst wahrnimmst."

Ich kneife die Augen fester zusammen, spüre das Prickeln im Daumen, dann wandere ich von Finger zu Finger weiter. Der Schmerz pocht in meinem Rücken, dort, wo Ash seine Wunde hat.
"Die Zehen als nächstes."
Mein Fokus macht einen Sprung, hinab zu meinen Zehen. Ich spüre das Leben in ihnen, ihr Gewicht. Der Schmerz nimmt ab, verblasst sukzessive.
"Die Beine. Ganz langsam - von unten nach oben."
Ich folge dem Kribbeln von meinen Zehen über meine Füße, bis in die Waden, wandere Faser für Faser weiter.
"Besser", bringe ich tonlos hervor, fürchte mich vor einer Schmerzexplosion, wenn ich nicht weiterhin aufpasse. "Viel besser."

"Dann kommen wir zur Lunge. Tief einatmen."
Das kann ich. Ein Atemzug, wieder loslassen. Noch einer, dann ist die Magie verschwunden, hat sich regelrecht verdünnisiert. Ich öffne die Augen, begegne Ashs anerkennendem Blick.

Ein erleichtertes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, mein Körper scheint voller Lockerung in einen Schwebezustand versetzt - oder ist es das, wodurch Ash mich geleitet hat?
"Danke", flüstere ich. Für die Hilfe, für die Befreiung aus dem Palast, für das, was er mir gerade gibt.
Ash schüttelt den Kopf. "Danke dir." Er umfasst mein Gesicht, erlaubt es mir nicht, seinem Blick auszuweichen. Nicht, dass ich es könnte. Seine bernsteinfarbenen Iriden nehmen mich geradezu gefangen, rauben mir den Atem. "Setz nie wieder dein Leben für mich aufs Spiel."

"Ich hätte nicht wirklich davon sterben können", witzele ich, überrascht von der Besorgnis in seinen Augen.
"Ich meine nicht nur das gerade eben." Sein Daumen streicht über meine Wange, so federleicht, dass ich daran zweifeln würde, wäre da nicht die Magie, die noch immer in mir schlummert. Mich daran erinnert, dass er noch nicht ganz geheilt ist.

Einmal tief einatmen, Kontrolle bewahren, zugleich mein rasendes Herz beruhigen. Ashs Berührung ist riskant, an der Klippe all meiner Beherrschung über die Magie, und doch genau das, was ich gerade brauche. Halt, Sicherheit und irgendwie auch ein wenig Geborgenheit. Ich spüre seinen Atem auf meinen Lippen, ruhig und doch zu schnell, meine Augen regelrecht vereinnahmt von seinen Iriden, glühend und doch zu dunkel. Das zwischen uns ist kein Hass mehr, definitiv nicht, doch ich wage nicht zu definieren, was es sonst sein sollte.

"Du meinst Kayas Akte?"
Jäh löst Ash seine Hände von mir und tritt einen Schritt zurück, als hätten ihn meine Worte schlagartig wieder in die Realität verbannt.
"Mir ist zu Ohren gekommen, dass der Raum gebrannt hat."
"Schuldig", gestehe ich kleinlaut, obwohl ich meine Tat kein Stück bereue. "Es wird einen Grund geben, warum sie keinen Kontakt aufbauen konnte."
"Konnte oder wollte."
"Warum sollte sie es nicht wollen?"

Ash zuckt rätselnd die Schultern. "Seit sie und Simon zusammenwaren, hat sich unser Verhältnis ein wenig verändert."
"Inwiefern?"
"Wir haben uns auseinandergelebt. Nicht zu sehr, aber es war nicht mehr so wie davor."
"Das ist doch normal", werfe ich ein.
"Auch, dass die beiden abhauen wollten? Bereit waren, alles hinter sich zu lassen?" Er fährt sich durch die Haare. "Er hat sie verändert, nicht sie sich selbst."
"Und das scheinbar nicht zum Besseren", murmele ich, derweil ich versuche, meine Gedanken zu sortieren. "Vielleicht hat sie das selbst erkannt und schämt sich? Oder sie meidet jeden Kontakt, da sie fürchtet, dass Simon sie dann auch finden könnte?"

Er lehnt sich gegen den Tisch, niedergeschlagen und in sich gekehrt.
"Irgendetwas stimmt an der ganzen Sache nicht."
Ich beiße mir auf die Lippe, unsicher, was ich von seinen Zweifeln halten soll. "Du findest es nur heraus, wenn du sie zur Rede stellst. Wir könnten es zunächst dort probieren, wo sie zuletzt vermutet wurde."
Ash zieht eine Augenbraue in die Höhe. "Wir?"
"Ja, wir. Genauso wie wir Luan finden."
Über meine Beharrlichkeit amüsiert schüttelt er den Kopf. "Hatte ich nicht erst gesagt, dass du dein Leben nicht für mich aufs Spiel setzen sollst?"
Belustigt und zugleich provozierend lege ich den Kopf schief. "Willst du mich jetzt etwa doch mit Johanniskraut stoppen?"

InhumanityWhere stories live. Discover now