Kapitel 1 - Josh

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"Das ist doch total verrückt", murmelt sie und starrt die Behandlungszimmertür an. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Es ist sehr unangenehm, dass diese Fremde hier ist und sich auch noch negativ darüber äußert. Meine Hände sind schweißnass, obwohl ich nicht mal mit ihr reden muss. Das Mädchen wirft ihre rotblonden Haare zurück und sieht mich an. Sofort senke ich den Blick. Mein rechtes Bein zuckt leicht, ich versuche es zu unterdrücken. Vergeblich. Im Augenwinkel sehe ich, wie ihr Blick meinem folgt. Sie starrt mein zuckendes Bein an, bestimmt merkt sie auch, wie meine Hände schwitzen. Ich stecke sie in die Hosentaschen. Das Mädchen räuspert sich.

"Also ...", beginnt sie erneut, "ich meinte nicht, dass Sie ... Sie alle verrückt sind!" Sie versucht meinen Blick einzufangen und für kurze Zeit schafft sie es. Ich schaue in ihre braunen Augen, die mich an Zartbitterschokolade erinnern. Doch nach etwa fünf Sekunden halte ich es nicht mehr aus und senke den Blick. Sie sieht sich im Wartezimmer um und ihre Augen machen bei John halt. Seine zusammengesunkene Gestalt sitzt auf dem Stuhl direkt neben der Eingangstür. Zurzeit ist er auf Koksentzug und kein besonders vertrauenserweckender Anblick.

Das Mädchen scheint dasselbe zu denken, denn sie murmelt "Na ja ..." vor sich hin. Im nächsten Augenblick werden ihre Augen größer und sie sieht mich erschrocken an. Bestimmt hofft sie, dass ich ihren Kommentar nicht gehört habe. Aber vielleicht hat sie recht, vielleicht sind wir wirklich verrückt und passen deshalb nicht in die Gesellschaft.

Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel, weil ich mich nicht mehr traue, sie direkt anzublicken. Ihre Augen zucken in regelmäßigen Abständen zu John hinüber. Ich bin dankbar, dass sie nicht mich für den Verrücktesten im Raum hält. Sie tastet routiniert ihren Hals ab. Danach wird ihre Haltung sofort etwas lockerer. Ist das ihre Art, nervös zu sein?

Die roten Haare umrahmen ihr helles Gesicht und stellen einen schönen Kontrast zu ihren dunkelbraunen Augen dar. Die Iris ist kaum von der Pupille zu unterscheiden. Das Mädchen sitzt mir schräg gegenüber, in etwa eineinhalb Metern Abstand, und wippt mit dem Fuß. Aus dieser Entfernung kann ich sogar ein paar Sommersprossen auf ihrer Nase entdecken.

Plötzlich geht die Tür zum Behandlungszimmer auf und eine Person schiebt sich vorsichtig ins Wartezimmer. Nick entdeckt das fremde Mädchen und sofort verändert sich seine Körperhaltung. Er sinkt in sich zusammen, zieht den Kopf ein und verschränkt die Arme vor seinem Körper, so, als wollte er sich schützen. Er huscht durch den Raum, nickt mir zu und reißt die Tür auf. Im nächsten Moment ist er verschwunden. Bei Nick wurde das Gleiche diagnostiziert wie bei mir. Ich frage mich, ob ich auch so eine negative Ausstrahlung habe. Verschlossen, abweisend und ängstlich. Ich denke darüber nach, bis Dr. Nolan den Kopf aus dem Türrahmen streckt und das Mädchen aufruft.

"Miss Annie McArran, bitte." Ihre dunkle Stimme wirkt ein wenig beruhigend auf mich und ich versuche mich zu entspannen, was nicht gelingt. Das Mädchen nickt Dr. Nolan zu, steht auf und verschwindet mitsamt ihrer Handtasche im Behandlungszimmer. Die Tür schließt sich hinter ihr und lässt mich wieder aufatmen.

Ich blicke John an, der immer noch vor sich hin starrt. Er ist gerade in seiner Gedankenwelt versunken und hat wahrscheinlich gar nicht bemerkt, dass das Mädchen – Annie – da war. Er ist jedes Mal noch früher hier als ich, obwohl seine Stunde erst nach meiner ist. Wir haben beide wohl kein richtiges Sozialleben, sodass wir sogar Stunden früher zur Therapie kommen. Es ist ziemlich traurig, wenn man genauer darüber nachdenkt – aber was sollen wir machen? Keiner will mit so Leuten wie uns etwas zu tun haben. Wer will schon mit einem Ex-Drogenabhängigen, der die ganze Zeit nur in die Luft starrt oder einem Sozialphobiker, der Angst vor fremden Menschen hat, Umgang haben?

Die einstimmige Antwort darauf lautet: keiner.

London Love: Josh & AnnieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt