"Talia freut sich auch, ihre Magie an der Grenze einsetzen zu dürfen."
"Das höre ich doch gerne."
Das können sie doch unmöglich ernst meinen! Beide wissen, welches Spiel hier gespielt wird, was Lucius getan hat, dass ich mich nur mit aller Mühe auf meinen Beinen halten kann, und doch reden sie so, als wäre all dies meine freie Entscheidung gewesen.
"Genieß deinen letzten Abend hier. Und Lucius - sie ist jung. Lass ihr ein wenig Freiraum. Wir haben zahlreiche nette Herren heute Abend hier."

Das ist wohl das Stichwort. Lucius schiebt mich weiter. Ununterbrochen redet er auf mich ein, lässt sich über mein unmögliches Verhalten aus, doch ich höre nicht hin - es ist mir egal. Irgendwann verstummt er und ich merke, dass er nicht mehr bei mir steht. Verwirrt blicke ich mich um, kann ihn zwischen all den Haarschöpfen jedoch nicht entdecken. Nicht, dass ich ihn vermissen würde. Eilig ergreife ich meine Chance, diesen Abend halbwegs ertragen zu können und bediene mich eines weiteren Glases. Dann widme ich meine Aufmerksamkeit wieder den Wachen. Zwei an der Pforte, viel zu gut bewaffnet. Vielleicht schaffe ich es mit einer Ausrede an ihnen vorbei? Die Musik ist zu laut oder die Luft zu verbraucht, beides mehr als verständlich.

"Wer behauptet, der Löwe könne nicht verführerisch aussehen, der hat ihn noch nie auf Eurer Haut gesehen."
Ich weiche zurück, angewidert von seiner Nähe, von seinem Atem an meinem Ohr, am meisten jedoch von seinen Worten. Neben mir steht ein junger Mann, nur wenig älter als ich, und lässt seinen Blick nicht von dem Brandmal ab - oder von meinem Ausschnitt, wie man es eben sieht. Sind das also die netten Herren, von denen der König sprach? Gut, ich hatte noch nie Probleme damit, ein mangelndes Interesse klar zu kommunizieren. Ohne eine Stimme, ohne Lippen, welche die Laute nicht formen wollen, ist es jedoch schwer, ihn unmissverständlich abzuweisen.

"Dürfte ich Euren Namen erfahren, werte Magierin?"
Ich überwinde die Distanz, raune ihm ein Das geht dich einen Dreck an zu, doch ich bezweifele, dass er auch nur die Hälfte verstanden hat.
"Drea? Schöner Name." So kann man das Krächzen meiner Laute auch missverstehen. Er lächelt mich an, verbeugt sich knapp. "Ramero von Elys. Ich hoffe, ich belästige Euch nicht, aber Ihr saht so alleine aus."

Und ich würde nur zu gerne wieder alleine sein. "Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mit mir tanzen würdet."
Mit diesem Herren? Auf diesen Schuhen? In dieser Fassade aus Wohlwollen? Vorher lasse ich mich doch lieber von Lucius foltern.

Mit meinem Kopfschütteln erlaube ich dieses Mal keine Missverständnisse. Ramero lässt sich dennoch nicht so schnell abwimmeln.
"Wie wäre es mit einem Spaziergang an der frischen Luft?"
Ein weiteres Glas, ein weiteres Mal das Brennen in meinem Hals, ein weiteres eifriges Kopfschütteln. Der Raum dreht sich kurz vor meinen Augen, doch ich verbiete es mir, Halt an ihm zu suchen.
"Oder durch den Palast?"
Ist es denn so schwer zu verstehen?
"Findet Ihr etwa Gefallen daran, hier alleine am Rand zu stehen?"
Nicht wirklich. Aber alles ist besser, als diesem aufdringlichen blonden Herren näher zu kommen, oder gar außerhalb dieser Gesellschaft ein wenig Zweisamkeit ertragen zu müssen.

"Ich nehme Euer Schweigen als ein Ja." Endlich. "Nun gut, dann werde ich Euch alleine lassen. Wenn Ihr Eure Meinung ändert, findet Ihr mich in der Nähe der Musiker. Der Abend ist ja noch lang."
Zu lang. Erleichtert atme ich auf, als er sich endlich abwendet, in der Menge verschwindet. Egal wie lange dieser Abend noch wird, ich werde sicherlich nicht auf sein Angebot zurückgreifen.

Meine Finger sind erneut auf dem Weg zu einem Glas, als sich mein Bauch zu einem Knoten zusammenzieht. Ich schnappe nach Luft, winke den verwirrt dreinblickenden Kellner weiter. Der Schmerz kehrt schlagartig mit voller Wucht zurück. Mein Magen scheint zu brennen, zu kochen - das Kraut erfüllt noch immer seinen Zweck, oder ist es die Mischung mit dem Alkohol?

Ramero kommt erneut auf mich zu. Ich will davon eilen, doch meine Beine spielen nicht mit, wollen nachgeben, dem Brennen ein Ende setzen. Er steht vor mir. Lass mich doch einfach in Ruhe.
Kein Tanz, kein ungenierter Blick, kein einziges Wort, geh einfach wieder. Meine Hand zittert. Wegen ihm? Wegen mir? Ich versuche mich auf meinen Körper zu konzentrieren, doch es gelingt mir nicht. Er greift nach meiner Hand, verschränkt meine unruhigen Finger mit seinen.

"Frische Luft würde dir sicherlich gut tun." Nein, nicht weg hier. Bloß nicht mit ihm alleine sein. Ich öffne den Mund, doch meine Zunge bewegt sich nicht. Ramero beugt sich näher zu mir, seine Lippen erneut so nah an meinem Ohr. "Lass uns von hier verschwinden, Feuerteufel."

Ich zucke zurück. Nur einer hat mich jemals so genannt. Aber kann das sein oder spielt mir nun schon mein Gehirn einen Streich? Ich muss halluzinieren. Sind die Haare nicht ein Stück zu dunkel für Will? Oder ist es das Licht in der Ecke des Raumes?
"Hey", redet er auf mich ein. Wer denn nun? Hände umschließen mein Gesicht, zwingen mich dazu, ihm in die Augen zu schauen. Wills Augen? Oder möchte ich nur ihn darin sehen? "Was zur Hölle haben sie mit dir gemacht?"

Kraut, Kraut und nochmal Kraut. Wieder öffne ich den Mund, wieder nicht mehr als ein Rätsel an Tönen. Im nächsten Moment hakt er meinen Arm bei sich ein, schlendert auf den Ausgang zu. Ich drehe den Kopf. Will, zum Glück - aber wie lange? So lange, bis der Alkohol wirkungslos wird? Plötzlich ein Klirren, die Wachen versperren uns mit ihren Schwerten den Ausgang.
"Sie darf den Raum nicht verlassen."
Will seufzt. "Darf ich nicht ein wenig Zweisamkeit mit der werten Dame genießen?"

Ein Grinsen huscht über das Gesicht des linken Mannes. Warum? Der Andere versucht offensichtlich die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf sich zu ziehen. Ich drehe den Kopf. Lucius, nur wenige Schritte entfernt.
"Ich muss Euch ja wohl nicht sagen, dass ich sie gerne wieder hätte, von Elys."

Meine Begleitung wendet das Gesicht nur ein Stück von den Wachen ab, blickt für den Bruchteil eines Moments über die Schulter. Die Muskeln unter meinem Arm spannen sich an. Ist sein Haar nicht noch dunkler geworden? "Gewiss nicht."
Lucius' Blick tangiert mich. Ich kann förmlich sehen, wie er damit ringt, ob ich das nach meinem Verhalten vorhin verdient habe oder nicht. Kurz gleitet sein Blick zum König, der das Geschehen genauestens beobachtet, über die tanzenden Paare hinweg solch eine Macht ausstrahlt, dass Lucius unzufrieden mit der Zunge schnalzt.
Lass ihr ein wenig Freiraum.
Entweder werde ich diesen Freiraum zutiefst bereuen oder Lucius.
"Nicht zu lange, Engelchen. Sonst bekommst du ein Problem."

Kaum geben die Wachen den Weg frei, führt Will mich an ihnen vorbei, ruhig, dennoch bestimmt. Das Licht, die Musik und Gespräche weichen der Stille und Finsternis des Palastes. Er wird schneller. Ich versuche mitzuhalten, möchte weg von Lucius, dem König, diesem Trug. Ein Stich zieht quer durch meinen Bauch. Röchelnd krümme ich mich, kralle meine Finger in seinen Arm, als ich an der Klippe der Bewusstlosigkeit stehe.
"Ist nicht mehr weit."
Will blickt zu mir, auf den Gang vor uns, dann hebt er mich kurzerhand hoch. Ich klammere mich an seinem Hals fest, die Wände rasen an uns vorbei. Eine Treppe runter, ein weiterer langer Gang. Nur Wills Schritte, nur ein kurzer Moment Ruhe.

"Wir holen dich hier raus, okay?"
Ich nicke, bringe nicht mehr zustande. Wir? Simon und die Anderen?
Will biegt um eine Ecke, kalte Nachtluft zieht durch die großen Fensterbögen, lässt meinen Körper erzittern.
"Wir wurden aufgehalten."

Die Worte gelten nicht mir. Will setzt mich auf dem Vorsprung ab, mein Kopf sackt gegen den kalten Stein des Bogens.
"Sie ist wie weggetreten", fügt er hinzu. Er macht Anstände, aus seinem Gehrock zu schlüpfen, da legt sich bereits ein Mantel um mich, umfängt mich mit Wärme.

"Zu viel Johanniskraut."
Ash.
Nein, jeder, nur nicht Ash.
Panisch zucke ich zusammen, da werde ich bereits wieder hochgehoben. Ashs bernsteinfarbenen Iriden so nah, so undeutbar. Besorgnis? Erleichterung? Wut? Mein Bauch verkrampft erneut, ich schnappe nach Luft, ringe um Worte.
Wo ist Luan? Was hast du mit ihm gemacht?

Doch ich kann nur schweigen, ihn mit meinen Blicken erdolchen. In Ashs Augen mischt sich Schmerz. Er weiß, was ich ihm vorwerfe, was ich ihm an dem Kopf schleudern würde, wenn ich nur könnte.
"Wir finden Luan, Talia."

InhumanityWhere stories live. Discover now