Als ich am nächsten Morgen durch das Horn am Hafen geweckt werde, ist Luan bereits wieder zur Arbeit aufgebrochen. Die Überreste des Sturms sind noch präsent, da der Regen des gestrigen Tages die Arbeiten erschwert hat. Der Nebel zieht durch die Gassen und verleiht Meral eine düstere Stimmung. Also schnappe ich mir meinen Umhang, wickele mich in einen kuscheligen Schal ein und mache mich auf den Weg. Simon wollte sich an einer verfallenen Hütte am Rande Merals treffen. "Das ist sicher", begründete er. "Keiner wird dort sein."

Er sollte Recht behalten. Die Menschen strömen auf den Hafen zu, um in die umliegenden Städte zu gelangen oder ihre Arbeit aufzusuchen. Ich folge einer schmalen Gasse bis zur Post, nicke grüßend mehreren bekannten Gesichtern zu und folge von dort dem Pfad bis zur Hütte, die sich unter knorrigen Bäumen versteckt. Bereits aus der Ferne erkenne ich, dass er noch nicht eingetroffen ist. Also stelle ich mich auf die Zehenspitzen und wage neugierig einen Blick durch die Scheibe, vor der ein mit Tau überzogenes Spinnennetz ruht. Misstrauisch beäuge ich die hölzerne Einrichtung - wir müssten alles ausräumen, bevor wir meine Kräfte dort ausprobieren. Auch die Holzwände selbst optimieren den Ort keineswegs.

Ich lasse meinen Blick weiter über die abgenutzten Möbel schweifen, als ich eine Bewegung in der Spiegelung der Scheibe vernehme. Erschrocken fahre ich herum, mein Herz rast.
"Ich habe es schon wieder getan, nicht wahr?" Simon verzieht entschuldigend das Gesicht, als er bemerkt, welchen Schrecken er mir eingejagt hat. Beruhigt atme ich tief ein und aus. "Beim nächsten Mal kündige ich mich lautstark vorher an."

"Das wäre eine gute Idee", stimme ich zu. Dann deute ich auf die Hütte. "Du willst hier trainieren?"
Simon schüttelt knapp den Kopf. "Komm, ich zeige dir den Weg. Du hättest es sonst vermutlich nur schwer gefunden."

Als ich mich heute Morgen gegen meine Stiefel entschieden habe, was bei solchem Wetter nie vorkommt, wusste ich nicht, wie sehr ich diese Entscheidung schätzen würde. Nachdem Simon geradewegs den Wald anpeilt, bin ich mehr als froh ihm in meinen bequemeren Schuhen problemlos folgen zu können. Dabei hatte ich schlichtweg an das Training gedacht, nicht schon an den Weg dorthin.

"Die Anderen freuen sich schon darauf, dich kennenzulernen", fängt Simon an, als er sich seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch bahnt. Obwohl es keinen Pfad gibt und das Gras keine Spuren aufweist, bewegt er sich so zielstrebig, dass er diesen Weg zweifelsohne schon viele Male gelaufen sein muss.
Dabei beschäftigt mich eines noch viel mehr. "Die Anderen?"
Ich hatte nicht vor kennenzulernen, mit wem er sich umgibt - zumindest nicht, ohne zu wissen, ob ich ihm vertrauen kann. Laufe ich querfeldein auf eine Falle zu? Oder führt er mich in ihr Quartier, weil es dort am Sichersten ist?

Simon entgeht mein Zögern nicht.
"Wir schützen einander. Und von jetzt an auch dich", versucht er mich zu beschwichtigen, dennoch verlangsamere ich meine Schritte. Vielleicht sollte ich jetzt um mein Leben rennen - nein, gegen ihn habe ich keine Chance. Vielleicht sollte ich ihn anzünden - wenn ich das nur im Handumdrehen könnte, bräuchte ich seine Hilfe gar nicht erst. Auf einmal bleibt er stehen und blickt mir tief in die Augen. Mir stockt der Atem. Was, wenn er meine Gedanken hören kann? "Talia, wenn ich dir hätte schaden wollen, dann würdest du nun nicht mehr hier laufen. Also, vertraust du mir?"

"Vertrauen muss man sich verdienen."
"Du hast Recht", stimmt er mir zu. "Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt."
Ich weiche seinem Blick aus. Die Worte hätten genauso aus dem Mund meines Vaters stammen können. "Gibt es denn etwas, an dem ich mich orientieren kann, um zu euch zu finden?"

Simon kann perfekt zwischen den Zeilen lesen, das entnehme ich seinem Lächeln. Er wendet sich ab und zeigt auf einen unscheinbaren Baum. Als ich jedoch genauer hinschaue, entdecke ich das braune Band, das um einen Ast gebunden wurde. "Das Band ist der einzige Wegweiser. Von der Hütte bis hierhin und ab hier gen Osten. Dann kannst du es nicht verfehlen."

Wartend deutet er mir an, voraus zu gehen, um den Weg zu erproben. Ich gebe mir einen Ruck und schlage die neue Richtung ein. Je weiter wir kommen, umso undurchlässiger wird das Dickicht. Auch der feuchte Nebel hängt tief im Wald und trübt die Sicht. Als ich einmal skeptisch über die Schulter blicke, nickt Simon mir zu.
"Warum lebt ihr mitten im Wald? Ist das normal für freie Magier?"

Simon greift vor mich, um mir einen Ast aus dem Weg zu biegen. "Nein, wir haben früher auch unter den Menschen gelebt. Eine solche Abschottung zieht normalerweise nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich."
"Was hat sich geändert?"
"Es gab da einen Vorfall", erklärt er. Mir entgeht nicht, wie er kurz stockt, als wüsste er nicht, wie viel er mir anvertrauen sollte. "Wir waren einmal mehr Magier. Torin, unser Ältester, hat uns alle bei sich aufgenommen, nachdem die Menschen unsere Magie entdeckt hatten und uns melden wollten. Nun sind wir wie eine Familie. Nach dem Vorfall jedoch haben wir zwei an den Dienst verloren. Eine ist gestorben, der Andere plant seine Rache auszuüben und uns an den König auszuhändigen. Seitdem haben wir an mehreren Orten gelebt, immer auf der Flucht."

"Warum sollte er das denn tun, nachdem ihr ihn geschützt habt?"
Simon seufzt, schwelgt in Erinnerungen. "Er macht uns für ihren Tod verantwortlich. Der einzige Weg, um uns das spüren zu lassen, was sie durchlebt hat, sieht er im Dienst. Mit ihm ist nicht zu spaßen."
"Scheint so."
Das bedeutet also, dass Simon und die freien Magier weiterziehen, sobald er ihnen auf die Schliche gekommen ist. Hoffentlich ist dies nicht allzu bald.

"Keine Sorge", beruhigt Simon mich. Er scheint meine Bedrückung fälschlicherweise auf Furcht vor dem Magier zurückzuführen. "Ash Monroe mag vielleicht einer der mächtigsten Magier sein, die es je gab, aber wir sind mehr. Und mit dir sind wir noch einmal um einiges stärker."
Auf einmal zeigt er nach vorne. Durch die Blätter hindurch erkenne ich ein Dach. Ich bücke mich unter einem Ast hinweg und blicke auf das in einer breiten Schlucht gelegene Haus hinunter.

"Ich weiß, warum er euch noch nicht gefunden hat", murmele ich, derweil mein Herz vor Aufregung einen Takt schneller schlägt. "Die Schlucht sehe ich gerade zum ersten Mal."

InhumanityWhere stories live. Discover now