„Ihr interessiert Euch für Götter?", stellte ich überrascht fest.
Er ließ sich von meiner unbeteiligten Miene nicht beeinflussen. Tatsächlich wurde meine Maske immer stärker, je besser ich die Gefühle wieder unter Kontrolle bekam. Die Panik verebbte, was zum Teil an seiner Anwesenheit lag.

„Ja, tue ich. Es gibt mehrere Überlieferungen von den gleichen Geschehnissen. Unterschiedliche Bilder von unseren Göttern. Über die Jahre haben sie sich stark gewandelt."
Er ging zu seinem Schreibtisch und deutete auf mehrere Bücher, die darauf verstreut waren.
„In der Bibliothek haben wir sogar einige wenige originale Texte!"

Sogar ich musste zugeben, das nicht von ihm gedacht zu haben. Ich wusste, dass er Bücher und Rätsel liebte. Vielleicht waren die Götter nur ein weiteres.

„Wieso interessiert Ihr Euch für diese alten Texte? Seid ihr gläubig?"
Ich würde ihm für keine der möglichen Antworten verurteilen. Mir war es herzlich egal, woran er glaubte.

Bei dieser Frage bremste Drystan seine Begeisterung und sah weg.
„Ich bin nur neugierig. Es ist faszinierend und die Legenden sind schön."
Jetzt sah er mich wieder an.
„Ich glaube zwar nicht an Götter, wie sie in unseren Schriften stehen, die die Priester vorlesen, aber ich würde nicht auschließen, dass es sie gibt."

Verstehend nickte ich, kommentierte das auch nicht weiter.

Wieder entstand Schweigen, in dem Drystan nachdenklich auf die alten Bücher starrte. Dabei merkte ich, dass er mir etwas verschwieg.
Aber da ich auch meine Geheimnisse hatte, ließ ich ihm die seine.

Ruckartig hob er den Kopf. „Kann ich Euch etwas zeigen?"
Noch ehe ich zustimmen konnte, war er an mir vorbei zu Tür gelaufen. Mit einem Wink deutete er mir, ihm zu folgen.

Grundsätzlich lautlos folgte ich ihm durch die nächtlichen Korridore. Das Schloss war ruhig, alle schliefen. Abgesehen von nächtlichen Wachen, die patrouillierten, waren wir die einzigen, die zu dieser späten Stunde unterwegs waren. Die Gänge lagen im Dunkeln, nicht einmal Fackeln brannten. Die Nacht bot kaum Licht, sodass ich sogar Drystan vor mir nur undeutlich erkennen konnte.

Misstrauisch wurde ich allerdings, als Drystan begann, sich vor den Wachen zu verstecken. Hastig zog er mich in eine Nische, die außerhalb des Sichtfelds der Wache lag, die gerade um die Ecke bot.

Entschuldigend ließ er meinen Arm los, deutete mir aber leise zu sein. Ich biss die Zähne aufeinander, tat aber wie geheißen.
Während wir warteten, bis der Wächter vorbei marschiert war, waren wir uns so nah, dass unsere Knie sich berührten. Ich konnte sein schneller schlagendes Herz hören und musste alle Kraft aufwenden, um nicht ruckartig auf Abstand zu gehen und uns so zu verraten.

Doch kaum war die Wache in sicherer Entfernung, ging ich eilig ein paar Schritte zurück.

„Ihr hättet mir ruhig sagen können, dass wir nicht gesehen werden sollen", flüsterte ich, als er schon weiter ging.
„Erinnert Ihr Euch daran, was ich eben im Garten gesagt habe?", erwiderte er genauso leise, „Es ist besser, wenn man uns beide Nachts alleine nicht sieht."
Mit einem grimmigen Lächeln machte er deutlich, welche Art von Gerüchte er vermeiden wollte.

Beide richteten wir den Blick nach vorne. Drystan führte mich durch den Königsflügel runter zum Dienstbotenflügel. Ab hier wurden die Wachen weniger und er entspannte sich sichtlich. Trotzdem wunderte ich mich, was er mir zeigen wollte.

Als er auf die graue Steimauer zu dem Geheimgang zusteuerte, dämmerte es mir. Gleichzeitig wurde ich wachsam.

„Ihr kennt den Geheimgang.", wurde mir klar.
Überrascht sah er zu mir. „Ihr auch?"
Mit einem zustimmenden Brummen drückte ich den etwas abstehenden Mauerstein, der die Tür öffnete.
„So schwer ist er nicht zu finden. Man muss sich nur den Gebäudeplan des Schlosses anschauen."

Nemesis - Blut und Schwerter Where stories live. Discover now