Erst dann erkannte ich im schwachen Licht des Mondes Drystans Gesicht. Seine Augenbrauen waren besorgt zusammen gezogen, als er noch näher an mich ran trat. Genauso wie ich trug er Schlafklamotten.
„Ihr... weint!", geschockt sah er mich an. Das war das erste Mal, dass er irgendeine Emotion an mir ausmachen konnte.

Hastig wischte ich mir die Tränen weg und nahm mehrere tiefe Atemzüge. In Anwesenheit des Prinzen erinnerte sich mein Körper wieder an die Lektionen. Ich zwang meine Miene dazu zu erstarren, das Zittern hörte auf.
Zwar waren meine Gefühle äußerlich nicht mehr zu sehen, aber ich hatte den Sturm an Gefühlen nach innen gekehrt. Mein Herz schlug immer noch rasend schnell, Sauerstoff musste ich regelrecht in meine Lungen zwingen.

Innerhalb kürzester Zeit war ich wieder zu der unnahbaren Leibwächterin geworden, als die mich der Prinz kennen gelernt hatte. Meine nassen Wangen waren das einzige, das auf meinen Gefühlsausbruch hindeutete.

„Eure Hoheit", ich verbeugte mich, „Ich hatte nicht erwartet, Euch hier anzutreffen."

Doch anstatt darauf einzugehen, sah er mich verstört an.
„Ihr... ihr könnt doch nich einfach Eure Gefühle ausknipsen!"

Um meine Hände davon abzuhalten zu zittern, zupfte ich mein Hemd zurecht.
„Sie sind nicht verschwunden. Ich habe nur gelernt, sie zu verbergen."

Ernst trat er einen Schritt vor. Das Gras raschelte leise unter seinen Fußsohlen. Wie immer war er barfuß.
„Vor mir müsst Ihr das nicht."

Bitter verzog ich den Mund. Doch das so minimal, dass der Prinz es in der Dunkelheit nicht bemerkte.
„Doch das muss ich, Eure Hoheit."

Ein verletzter Ausdruck trat in seine Augen.
„Aber warum?"
Hoffentlich entging ihm meine zitternden Lippen. Schnell presste ich sie aufeinander.
Entschlossen straffte ich stattdessen die Schultern und reckte das Kinn.
„Ihr könnt es gegen mich verwenden. Es würde mich verwundbar machen. Ihr solltet wissen, dass Gefühle am Hof gefährlich sind."

Drystan machte noch einen Schritt vor. Wenn er den Arm ausstrecken würde, könnte er mich berühren.
„Ich würde euch niemals verletzen, Nemesis."
„Auf Euer Wort vertraue ich nicht."
Er blinzelte und fragte leise:
„Was hat Euch dazu gebracht, so über mich zu denken?"
Hart schüttelte ich den Kopf. „Das hat nichts mit Euch zu tun. Man hat mich nur einmal zu viel verraten, als das ich noch jemanden vertrauen kann."

Er hatte bewusst Personen in mein Leben gesetzt, die freundlich zu mir waren. Oft waren es Lehrpersonen, aber manchmal auch andere Soldaten.
Sie gewannen langsam mein Vertrauen und am Ende verrieten sie mich an ihn.

Zum Beispiel hatte ich eine Zeit lang eine Soldatin zugeteilt bekommen, die auf mich aufpasste. Damals war ich sieben oder sechs gewesen. Nach einiger Zeit, so naiv mein kindliches Herz eben war, begann ich ihr zu vertrauen. Ich erzählte ihr von der Angst, die ich jeden Tag durchstand und von den Bestrafungen. Ich weinte an ihrer Schulter und sie tröstete mich.
Eines Tages weckte sie mich aus meinem Schlaf und sagte, sie würde mir helfen zu fliehen. Gemeinsam würden wir in irgendeinem Dorf als Bauern weiter leben. Sie führte mich an den Wachen vorbei zu einem geheimen Tunnel unter der Burg.
Am Ausgang hatte er auf uns gewartet.

Natürlich hatte er mich für meine mangelnde Loyalität bestraft.

Wie sich herausstellte war jeder Moment mit der Soldatin geplant gewesen. Sie sollte mich trösten, ich sollte ihr vertrauen und fliehen.

Mehrere Male danach hatte mir jemand angeboten, bei der Flucht zu helfen. Doch seit diesem Tag hatte ich niemanden mehr über den Weg getraut, der nett zu mir war.

Nemesis - Blut und Schwerter Where stories live. Discover now