Teil I

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Es waren einmal zwei Brüder, die zogen als Händler durch das Königreich, einen Karren mit Stoffen und Gewürzen im Schlepptau. Doch besaßen die Brüder nicht nur Talent darin, ihre Waren an den Mann oder die Frau zu bringen: Wo der eine Geschicklichkeit mit Werkzeugen an den Tag legte, wusste der andere die schönsten Bilder aus den Zeilen seiner Bücher zu beschwören und ließ in wenigen Versen, vorgetragen auf gedrängten Marktplätzen oder in schäbigen Spelunken, dem geneigten Zuhörer die verborgenste Wahrheit völlig klar werden.

Eines Tages, als die Brüder wie gewohnt von einem Ort zum nächsten unterwegs waren, kamen sie an eine Gabelung, und der handwerklich begabte Bruder, welcher Baldur hieß, öffnete seine Karte und blickte grübelnd hinein. »Wir haben nun die Wahl«, sprach er schließlich. »Nehmen wir den Weg zu unserer Rechten, sollten wir noch vor Einbruch der Nacht zum nächsten Gasthaus gelangen. Nehmen wir hingegen den Weg zu unserer Linken, werden wir unser Lager wohl noch einmal draußen aufschlagen müssen.«

Da nahm auch der schreibende und dichtende Bruder die Karte in Augenschein und schüttelte den Kopf. »Siehst du es denn nicht? Der kurze Weg führt geradewegs in ein Moor, und weiter sieht man nichts! Wir werden uns gewiss verlaufen. Es ist Sommer, da kann man doch ruhig die Nacht im Freien verbringen.«

»Ach, Albin!«, rief Baldur. »Was bist du für ein Angsthase! Wir halten uns gen Osten und haben dieses Moor in kaum einer Stunde hinter uns gebracht.«

»Nenn mich einen Angsthasen«, entgegnete Albin, »und ich muss dich einen Kümmerling nennen, wenn du dich von der Aussicht auf ein Bett zu solchen Dummheiten verleiten lässt!«

Baldur aber lachte. »Dann geh und such dir ein schönes Plätzchen bei den Käfern und Spinnen, ich aber werde mich von einem kleinen Moor nicht abschrecken lassen. Wir treffen uns im nächsten Ort, wenn du es auch dorthin geschafft hast, und dann werde ich dir berichten, wie köstlich Fleisch und Bier und wie weich die Daunen im Gasthaus waren.«

Albin aber lag es fern, allein weiterzuziehen, und von Käfern und Spinnen hatte er, wenn er es recht bedachte, auch genug. Er seufzte und schüttelte abermals den Kopf, doch schließlich begaben sich die Brüder gemeinsam ins Moor.

Ein verschlungener Pfad, gesäumt von krummen Bäumen und totem Farn, führte immer tiefer in den Kessel hinab. Albin blickte sich ängstlich um und bereute es ein wenig, sich auf dieses waghalsige Unterfangen eingelassen zu haben. Baldur hingegen stapfte unbeirrt weiter und summte dabei die gleiche hübsche Melodie wie zuvor, und er kümmerte sich nicht darum, dass es allmählich dunkler ward und dass in alle Richtungen bald nur bleiche Rinde und grauer Schlamm zu sehen waren.

Erst als es stockfinster war und man keinen Schritt mehr tun konnte ohne die Gefahr, einzusinken und einen Stiefel zu verlieren, räusperte sich Baldur und sprach: »Wir sind nun gewiss länger als eine Stunde durch dieses Moor gewandert. Wir müssen die Karte falsch verstanden haben, denn nach einem Gasthaus sieht es mir hier nicht aus. Ich rieche kein Fleisch, nicht einmal eine Suppe, und höre nicht das Gelächter selig Betrunkener – horch!«

Tatsächlich war es, wie die Brüder nun bemerkten, mucksmäuschenstill.

»Weich fände ich es wohl, würde ich mich hinlegen«, fuhr Baldur fort und trat im Schlamm auf der Stelle, »doch habe ich meine Zweifel, dass es der Gemütlichkeit eines Bettes gleichkäme.«

In diesem Augenblicke aber ward Albin eines Leuchtens gewahr, matt zunächst, doch immer heller werdend, bis es die knorrigen Äste und die stillen Tümpel ringsumher in blauen Schimmer hüllte. Da schwebte zwischen den krummen Bäumen ein Lichtlein heran, welches die Quelle des Strahlens war, und an den Brüdern vorüber. Wie es nur verständlich ist, standen jene wie angewurzelt da und blickten ungläubig dem Lichtlein nach. Ehe sie aber erneut in Finsternis gestanden hätten, nahmen sie sich zusammen, um der wunderlichen Erscheinung zu folgen.

Das Lichtlein flog nun rasch davon, und die Brüder mussten sich sputen, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Es bog mal in die eine, mal in die andere Richtung – ja, wie ein lebendes Wesen! –, und so mochte man es für eine Fee halten, welche verirrten Wanderern in diesem Moor den Weg wies – oder für einen bösem Geist, welcher Albin und Baldur endgültig in die Irre führen würde. Blieb ihnen aber eine Wahl, so hoffnungslos verloren, wie sie waren? Als das Lichtlein beinahe außer Sicht geraten war, ließen die Brüder kurzerhand den Karren mit den edlen Stoffen und Gewürzen stehen und rannten von der Last befreit weiter, so schnell sie die Beine trugen.

Eine weitere Stunde oder länger waren sie dem Wesen durchs Moor gefolgt, stets aber über festen Grund, ehe sie schließlich eine Lichtung betraten. Wie das Licht seine Form verlor und sich als leuchtender Nebel über Gras und Laub ausbreitete, erblickten die Brüder in einiger Entfernung die Umrisse eines Daches. Als sie näher kamen, bemerkten sie, dass es sich keineswegs um eine heruntergekommene Hütte handelte, wie man sie an einem solchen Orte erwartet hätte, sondern um ein hübsches, ordentlich gezimmertes Häuschen.

Sie gingen hin und klopften an, doch gab es keine Antwort. Ein weiteres Mal klopften sie – nichts. Da machten die Brüder eine Runde um das Häuschen, kein Zeichen aber fanden sie, dass noch jemand wach gewesen wäre. Da zuckte Baldur die Schultern, begab sich zum Eingang und drückte die Klinke, und siehe da, mit einem Knarren schwang die Türe auf. Die Brüder traten ein. Erst riefen sie mit gedämpften Stimmen, dann lauter – ohne Wirkung. Kein müdes Murmeln war zu vernehmen, kein Grummeln oder Ächzen, ja nicht das leiseste Geräusch, und alles blieb dunkel.

»Es ist niemand zu Hause«, sprach Baldur. »Das soll uns auch recht sein.«

Da schlossen die Brüder die Türe und zündeten die Kerzen an, welche auf dem Tische standen. Drinnen schien es kühler noch als draußen, dass einem ein Schauer über den Rücken lief, doch befand sich neben dem Kamin ein Korb voll Scheite, und so machten die Brüder ein Feuer und setzten sich davor.

Nachdem sie sich aufgewärmt hatten, begann Baldur, sich umzusehen. Groß war das Häuschen nicht, doch wie es der Zufall wollte, fanden sich neben Küche, Speisezimmer und Waschraum zwei Zimmer mit Betten. Dann gelangte Baldur ans Ende des Flures und stand vor einer Türe, welche sich von den anderen unterschied. Er drückte und zog und rüttelte an der Klinke. Die Türe aber öffnete sich nicht.

Baldur dachte sich nichts dabei und kehrte zu seinem Bruder zurück, welcher noch immer vor dem Feuer saß und die Hände dahin ausgestreckt hatte. »Was haben wir ein Glück«, sprach Baldur, »dieses Häuschen gefunden haben.«

»Als hätte uns das Schicksal selbst den Weg gewiesen«, antwortete Albin. »Oder ein Wesen aus einer anderen Welt.«

Da erinnerte sich Baldur des blauen Lichtleins, welches sie hergeführt hatte. An Schicksal glaubte er nicht, und an Feen und Geister und andere Welten auch nicht, und so sagte er sich, dass sie wohl sehr erschöpft gewesen sein mussten und benebelt von den Dünsten der Tümpel, und dass ihnen ihre Sinne einen tollen Streich gespielt hatten. »Dieses Moor ist mir nicht geheuer«, sprach er, »wenn es solche Trugbilder hervorruft. Das kann nicht gut für einen Menschen sein. Und wer weiß, ob überhaupt dieses Häuschen echt ist?« Er lachte, als scherzte er, doch in Wahrheit hatten ihn die Erscheinung des Lichtleins und der Zufall, mitten im Nirgendwo eine solch angenehme Unterkunft zu finden, aller Vernunft zum Trotze durchaus in unruhige Stimmung versetzt.

»Nun«, sprach Albin, »wenn dieses Häuschen eine Täuschung ist, sollten wir da nicht die Vorzüge genießen, solange die Wirkung anhält?« Und mit diesen Worten erhob er sich, streckte die Arme und gähnte.

Auch Baldur verspürte mit einem Male die größte Müdigkeit, und so einigten sich die Brüder rasch, wer welches Zimmer bekam – was nicht schwierig war, denn sie schienen auf den ersten Blick völlig gleich –, wünschten einander eine gute Nacht und begaben sich zur Ruhe.

Das Häuschen im MoorWhere stories live. Discover now