1. Kapitel

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Jahrgangsbeste in BWL, wissenschaftliche Hilfskraft bei der Berliner Landesbank, Studentenjob bei einer der Top-Unternehmensberatungen und jetzt - der Hähnchengrill auf dem Discounter-Parkplatz in der Provinz.

„Wo bin ich in meinem Leben nur falsch abgebogen?“, fragte sich Marie, als sie für eine Stammkundin, eine Frau, die immer zur selben Zeit in demselben ausgeleierten Jogginganzug zum Containerwagen kam, ein halbes fettiges Hähnchen einpackte. „Das macht dann drei Euro Fünfzig“, sagte Marie und drückte unauffällig auf ihr Handy unter der Theke, um auf die Uhr im Display zu schauen. Noch ganze drei Stunden dauerte ihre Schicht. „Ist schon ein unverschämter Preis für ein vertrocknetes Stück Huhn“, muffelte die Frau zwischen gelben Zähnen hervor, als sie Marie das Geld passend auf den Tresen aus Plexiglas legte. Die halben Hähnchen drehten sich stundenlang auf dem heißen Grill und waren gegen Mittag tatsächlich ziemlich kross. „Ich werde davon jedenfalls nicht reich“, sagte Marie resigniert und dachte dabei an ihren lachhaften Stundenlohn, während sie die Münzen mit lautem Geklimper in die Kasse einsortierte.

„Schon klar!“, sagte die Frau und schaute Marie verständnisvoll an, als wolle sie sagen „Ja, uns spielt das Leben schon ganz schön blöd mit.“ Sie packte ihre Tüte mit dem vertrockneten Stück Huhn und stapfte in den Nieselregen davon, die Kapuze ihres Jogginganzugs über die ausgewachsene Dauerwelle ziehend. Ja, Marie spielte das Leben gerade ganz schön blöd mit.

Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Top Leistungen im Studium, keine vergeigten Prüfungen, keine verpassten Abgabetermine. Auch keine Geldsorgen, mit ihren Studentenjobs kam sie gut über die Runden. Dafür aber viele Partys und die Aussicht auf einen hippen, gut verdienenden Freundeskreis, wenn sich alle in ihre tollen Jobs bei aufsteigenden Start-Ups oder großen Konzernen eingefunden hatten. Und Marie mittendrin, in einer schicken Altbauwohnung mit hohen Decken, trendige Möbel vom Flohmarkt gemischt mit Ikea, ein Glas Rotwein in der Hand, leckere Tomatensalsa auf dem Herd, während Dan, ihr Freund, eine Spotify-Playlist für den bevorstehenden Cliquen-Abend zusammenstellte. So malte sie es sich aus.

Dann der Studiumsabschluss als Jahrgangsbeste. „Sie haben eine großartige Zukunft vor sich, Frau Baumgärtner“, versicherte ihr der Prof, als sie ihr Zeugnis bei ihm abholte. Gefeiert hatte sie diese Aussicht auf eine großartige Zukunft mit Dan, nun angehender Anwalt für Medienrecht, einer Flasche Champagner, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten und ohne störende Kleidung. „Wir haben es endlich geschafft“, sagte Dan, schon etwas beschwipst, und füllte erneut die früheren Senfgläser mit dem edlen Tropfen. „Ich sichere mir eine Stelle bei einer super Kanzlei. Du rockst das Management einer großen Firma. Von jetzt an geht es nur noch aufwärts. Bald ist Schluss mit Schampus aus Recycling-Gläsern und Fahrradfahren bei Wind und Wetter.“ Die großartige Zukunft ließ aber zunächst auf sich warten. 

Trotz Maries ersten Berufserfahrungen und ihrer guten Noten war sie auf dem Jobmarkt ein Neuling und von diesen gab es viel zu viele, die um viel zu wenige Stellen kämpften. Marie erhielt Absage nach Absage, jedes Schreiben endete „mit den besten Wünschen für Ihre weitere berufliche Zukunft“. Als ob die Personaler alle auf der gleichen Fortbildung zum Thema „der perfekte Absage-Brief“ gewesen wären. 

Das Geld wurde langsam knapp, als sie sich entschloss, bei ihren bisherigen Arbeitgebern nach Aushilfsstellen für den Übergang zu fragen. Ihre bisherige Praktikantenstelle bei der Unternehmensberatung wurde bereits nachbesetzt. Ein junger BWLer mit dicker Hipster-Brille und kariertem Hemd saß an Maries ehemaligem Arbeitsplatz, einem Beistelltisch im Büro eines der Projektmanagerteams. Er war sicher, so wie sie damals, dass er nach dem Studium nicht mehr am kleinen sondern am großen Schreibtisch sitzen würde. Ihr ehemaliger Chef enttäuschte Marie. Die Stellen im Backoffice wurden nur durch studentische Praktikanten besetzt, aus steuerrechtlichen Gründen. Marie, eine frisch gebackene Absolventin, könne man im Moment leider nicht gebrauchen. Nein, auch nicht zum Akten kopieren. Und nein, für eine Tätigkeit als Sekretärin sei Marie eindeutig überqualifiziert. Sobald sie eingearbeitet wäre, hätte sie sicher einen Job in ihrer Wunschbranche, das wäre für das Unternehmen eine Verlustgeschäft. Aber sicher würde sie bald etwas finden. In jedem Fall wünschte er ihr alles Gute für die weitere berufliche Zukunft. Er war also auch auf der Fortbildung gewesen.

Verzweifelt kontaktierte Marie ihre ehemalige Russischlehrerin, bei der sie an der Uni mehrere Sprachkurse belegt hatte. Die beiden hatten immer einen ganz guten Draht zueinander gehabt. Die kleine zierliche Frau hatte damals ein interessantes Angebot von einer russischen NGO erhalten und vor einigen Jahren das Unterrichten an den Nagel gehängt. Nun kümmerte sie sich um Projektarbeit und sorgte dafür, dass junge russische Künstler mit ihrer Arbeit in Deutschland bekannt werden konnten. Aber auch hier hatte Marie kein Glück. Olga Briskaya antwortete in einer knappen E-Mail, dass sie die meiste Zeit im Hauptbüro in Moskau sei und die Berliner Repräsentanz keinen Bedarf an einer Assistentin habe. 

Bei Dan sah es anders aus. Er war von einer Kanzlei für Marken- Urheber- und Medienrecht unter Vertrag genommen worden, verließ jeden Morgen pünktlich um sieben seine Wohnung, erschien mit dampfendem Starbucks-Becher im Büro, aß zu Mittag mit den Kollegen beim Italiener um die Ecke und knüpfte bei Afterwork Partys wichtige Kontakte. Sein Kontakt mit Marie beschränkte sich mittlerweile auf kurze Handynachrichten. „Kann heute nicht,  Meeting open end. Grüß die anderen von mir.“ Maries Kommilitonen hatten weniger Glück als Dan. Sie hielten sich mit 400 Euro Jobs über Wasser, Pommes frittieren bei McDonald’s oder Regale einräumen bei Norma. Doch das kratzte zu sehr an Maries Stolz. Der richtige Job würde mit der Zeit schon noch kommen. Eine ihrer Bewerbungen würde ins Schwarze treffen. Es war keine Frage von ob, sondern von wann.

Marie, Jahrgangsbeste in BWL, verdrängte erfolgreich, dass Zeit etwas war, das in direktem Zusammenhang mit dem Faktor Geld stand und dass dieser wiederum essenziell wichtig war, um die Miete zu zahlen und den Kühlschrank zu füllen. Als sie ihr Berliner WG-Zimmer räumte und die Kartons mit ihren Sachen in den alten Opel Corsa ihrer Mutter quetschte, hatte sie Zweifel, ob sie sich nicht doch in ihrer Stammkneipe als Kellnerin hätte bewerben sollen. Dan trank mittlerweile seinen Champagner mit einer attraktiven blonden Kollegin aus dafür vorgesehenen eleganten Gläsern und würde bald die Anzahlung für einen Jahreswagen machen. Wenigstens musste sie ihn nicht vermissen, wenn sie zurück zu ihren Eltern aufs Land zog. 

„Es ist ja nur vorübergehend“, sagte ihre Mitbewohnerin, jetzt Ex-Mitbewohnerin Tanja, als sie Marie zum Abschluss fest drückte. Tanja, die nach sechs Monaten Geschirr spülen in einer Großkantine ein Traineeship in einem internationalen Konzern an Land gezogen hatte, würde auch bald ausziehen. In ihre eigene Wohnung am Prenzlauer Berg, die ganz bestimmt hohe Decken und eine Küche hatte, in der es sich wunderbar Tomatensalsa kochen ließ. 

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Auf meinem Blog habe ich die Entstehung von "Exit Hähnchengrill" festgehalten:
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Exit Hähnchengrill - deutsche KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt