Prolog

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Salisbury, England

Juni 1862

Die hoch gewachsene, elegante männliche Erscheinung blieb nachdenklich am Fenster der Bibliothek stehen und warf einen schnellen Blick auf die Dienstpersonen im Hof hinunter. Der Mann wischte sich einen imaginären Schmutzfleck von seiner grauen Weste, bevor er sich wieder der anwesenden Person widmete. "Wann wird Sie hier eintreffen?", fragte der Baron ruhig, während er seine Finger um das dicke Buch schloss und mit überraschender Kraft zudrückte. "Im Laufe dieser Woche, Mylord", antwortete Charles, sein Butler. "Mir scheint, Lord Campbell, dass Ihr die Absicht habt eine Soiree für ihre Enkelin zu veranstalten?" "Nein, mein Freund, ich habe keineswegs die Absicht ein Fest zu veranstalten. Es ist schon erschütternd, dass meine Frau Charlotte unsere Enkelin hierher eingeladen hat.", erwiderte er gedehnt. "Charlotte weiß ganz genau, dass ich es als unangemessen empfinde. Wie konnte Sie sich nur auf solch eine dumme Idee einlassen? Und dann noch das Kind von meiner Victoria, die einfach mit einem Handwerker in die Kolonien verschwand!" Der Ausdruck der Trauer, der auf dem abgezehrten schmalen Gesicht erschien und in den dunklen Teilchen seiner Augen aufglomm, überzeugte Charles von seiner Sache. Was immer der Baron auch sagte, in Wirklichkeit liebte er seine Tochter Victoria sehr und vermisste sie, seitdem sie vor mehr als 15 Jahren mit einem standlosen Mann, ihrem Geliebten, verschwand und damit die Wünsche ihres Vaters komplett zerstörte. Jahrelang litt er stark unter der Trennung und erhoffte sich stets, dass sie eines Tages wieder vor seiner Türe stände, doch dies geschah nicht. Während dieser Zeit entstand eine tiefe, vertrauliche Beziehung zu seinem Butler Charles. Er zählte auf seine Meinung und ließ sich von ihm in vieler Hinsicht beraten.

Es herrschte lange Zeit Stille im Raum, nur unterbrochen von einem gelegentlichen Plätschern von Wasser und einem gedämpften Gluckern, als der Baron sein Glas nachfüllte. Die Nachmittagssonne verschwand aus dem Zimmer, und Charles rang mit dem Problem, wie er es anstellen sollte, seinen Herrn aufzumuntern.

"Mylord", sagte er schließlich. Die einzige Reaktion des Barons bestand darin, dass er kaum merklich die Schultern versteifte, aber überzeugt, dass er seine Aufmerksamkeit hatte, fuhr er fort: "Ihr Freund, Lord Kendall, der Baron von Avebury und sein Sohn Liam werden in vier Wochen hier eintreffen, es wurden bereits alle Vorkehrungen für die Jagd getroffen. Und um eure Enkelin macht euch keine Gedanken, mein Freund, sie ist sicherlich das zärtlichste Geschöpf." Bedächtig kehrte Lord Campbell ihm den Rücken zu, ging durch den sonnendurchfluten Raum zu einem kleinen Rosenholztisch neben dem Flügelfenster, schenkte sich ein Glas Sherry aus der Karaffe ein und zog sich dann ebenso bedächtig mit dem Fuß einen Stuhl zum Fenster heran und setzte sich, um mit ungerechtfertigtem Interesse das Treiben im Innenhof zu beobachten. Charles gönnte dem ihm zugewandten Rücken nicht mehr als einen flüchtigen Blick, bevor er die Bibliothek verließ.

Unterdrückte LeidenschaftWhere stories live. Discover now