James

259 36 27
                                    

In der Nacht quälten mich beunruhigende Träume. Das war auch kein Wunder, wenn man bedachte, mit wem ich mir meinen Körper teilte.

Lucinda fand offenbar Gefallen daran mir die schrecklichsten Horrorszenarien vorzuführen, denn ich hörte sie die ganze Zeit böse vor sich hin kichern. Wahrscheinlich war das die Retourkutsche für den Moment zwischen Hunter und mir.

Kaum, dass ich eingeschlafen war, hörte ich Lucinda leise summen. Es war eine gruselige, eindringliche Melodie, welche gut zur Szene passte, in die sie mich führte.

Die bodenlosen Schwärze, in der man normalerweise träumte, wenn man sich am Morgen an nichts mehr erinnern würde, veränderte sich langsam, aber beständig. Bald standen wir auf einem Schlachtfeld. Lucinda stand einige Schritte entfernt von mir in einer schwarzen Rüstung, die dem Federkleid eines Raben ähnelte. Ihre roten Haare fielen ungebändigt über ihren Rücken, und sie trug einen filigran gearbeiteten Helm, unter dem ihre hellblauen Augen hervorblitzen.

Sie sah schöner aus, als ich es jemals sein konnte.

Eine schwarzhaarige Hexe näherte sich meiner Doppelgängerin. Sie blieb ehrfürchtig stehen, als sie nur noch wenige Schritte von Lucinda entfernt war. "Mylady, James Hatfield hat sich am Rande des Tales positioniert, hinter ihm eine Armee bestehend aus achtzigtausend Mann."

"Achtzigtausend?", wiederholte Lucinda beunruhigt. "Das sind zu viele! Wie hat James so viele Vampire zu den Fahnen rufen können?"

"Mylady, unsere Späher meldeten uns, dass sich auch Werwölfe und Feenwesen unter den Kriegern befinden." Die schwarzhaarige Hexe wirkte verängstigt.

Lucinda entspannte sich sichtlich. "Sei unbesorgt, Xavierre, Azathoth wird weitere Truppen schicken. Feenwesen sind keine besonders guten Krieger. Dazu sind sie zu friedliebend."

Azathoth war wohl der Höllenfürst mit dem Lucinda sich verbündet hatte. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Xavierre eine Vorfahrin von Vendette war.

"Mylady, ich wusste dass Ihr nicht überrascht werden könnt. Ihr seid einfach unfehlbar. Ich bin Euch so dankbar, dass ich euch dienen darf. Ich werde für Euch sterben, wenn es sein muss." Lucinda sah gerührt aus. Die ganze Macht die ihr auferlegt worden war, schien sie überhaupt nicht eingebildet oder undankbar gemacht zu haben. Im Gegenteil, ihren Vasallen schien sie höchsten Respekt zu zollen.

"Aber aber, meine liebe Xavierre, ich hoffe doch stark, dass dies nicht von Nöten sein wird." Sie lächelte zuversichtlich und Xavierre erwiderte ihr Lächeln schüchtern. "Mit Stolz werde ich allen meinen Nachfahren erzählen, dass ich die Ehre hatte, mit Lucinda Darkhallow in die Schlacht zu ziehen. Sie werden Euch ebenso ehren wie ich es tue."

Da hatte sich nicht Unrecht. Vendette war da das beste Beispiel für.

"Xavierre, würdest du bitte Azathoth zu mir rufen? Ich würde gerne mit ihm unsere Strategie noch einmal durchbesprechen." Lucindas Stimme war sanft und wunderschön, ebenso wie sie selbst.

"Natürlich, Mylady."

Sobald Xavierre außer Sichtweite war, ließ Lucinda sich auf einen nahegelegenen Felsen sinken und sah über das Tal. Hinter ihr reihten sich die Zelte auf, in denen die dunklen Hexenkriegerinnen sich auf die Schlacht vorbereiteten. Dann begann auch schon der Berg, in dessen Höhlen die Dämonen auf den Beginn der Schlacht warteten.

Woher ich das alles so genau wusste, war mir schleierhaft. Wahrscheinlich weil Lucindas Seele und auch Teile ihres Wissens in mir waren, und sich dieses zumindest in Träumen zeigte.

Ich beobachtete Lucinda, wie sie ein kleines goldenes Amulett hervorholte, und es verstohlen öffnete. Interessiert trat ich näher heran. Im Inneren des Amuletts befand sich eine Locke goldenen Haares, welche Lucinda traurig ansah, bevor sie das Amulett zuschnappen ließ und es zurück in ihre Rüstung steckte.

CustodiansWo Geschichten leben. Entdecke jetzt