Ende und Anfang

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Mein Leben lang dachte ich, ich wüsste wer ich wäre. Leider ist es so, dass der Zufall oder auch das Schicksal, wie du es auch nennen magst, dich immer wieder in Momenten zu überraschen vermag  an denen du es am wenigsten gebrauchen kannst. 

Wenn ich einen Beginn für den Anfang meiner Identitätskrise setzten müsste, wäre das der Tag an dem mein bester Freund mir sagte, dass er mich liebte. Und genau an diesem Punkt werde ich starten. Übrigens mein Name ist Lev. (Aussprache: Liev) Das heißt ich bin ein Junge. Genauso wie mein bester Freund.

Erschöpft ging ich die Stufen zum Schuldach hoch. Eigentlich war es den Schülern verboten hier hinaufzugehen. Jedoch haben Alec und ich es uns zur Gewohnheit gemacht hier unsere Zeit zu verbringen. Abseits von den ganzen Stress und Streitigkeiten in den Klassen oder auf dem Pausenhof. Und auch heute an dem heutigen Tag, der Tag an dem unsere Schulzeit endgültig ein Ende nehmen würde, würden wir die Tradition aufrechterhalten und hier nochmal ein letztes Mal sitzen unser mitgebrachtes Essen auffuttern und uns über alle möglichen Dinge zu unterhalten oder einfach nur zu schweigen. Das einzige Problem war, dass er noch nicht dar war. Verdammter Alec, lässt mich hier einfach warten, nachdem gerade er vorgeschlagen hat, hier die letzte Zeit unseres Schullebens zu verbringen, anstatt bei den anderen zu sitzen und uns von ihnen zu verabschieden. Mürrisch ließ ich mich zu Boden fallen. Wenn er hier ankommt, kann er was erleben. Und mit diesem Gedanken saß ich hier. Die Zeit verstrich. Erst 10 Minuten. Dann 15. Dann 20. Und plötzlich ist eine halbe Stunde vergangen. Alec war nicht der Typ, der sich verspätet. Plötzlich fing ich mir an Sorgen zu machen. Alle möglichen und vielleicht auch einige unmöglichen Szenarien spielten sich in meinem Kopf wieder. Mit gemischten Gefühlen stand ich auf mit dem Entschluss ihn suchen zu gehen, als plötzlich Schritte vom Treppenhaus zu hören waren. Ein außer Atem gekommener und verschwitzter Alec erschien auf den Dach.

"Es tut mir wirklich so verdammt leid, aber..." Er stockte, als er mein finsteres Gesicht genauer betrachtete.

"Aber...?", fragte ich spöttisch nach.

"Mein Bus hat sich verspätet und auf der Fahrt hierher ist es zu einem Unfall gekommen. Eine ältere Dame ist bei dem Aufprall gestürzt und hat sich anscheinend verletzt. Jedoch hat sie die ganze Zeit darauf bestanden kein Krankenwagen rufen zu lassen. Sie hat sich mit ein paar anderen Fahrgästen und dem Busfahrer angefangen zu streiten und dann plötzlich zeigte sie auf mich und sagte: 'Der gut aussehende, junge  Mann wird mich nach Hause begleiten.' Und ich konnte ja nicht einfach nein sagen, dass wäre unhöfflich gewesen. Also hab eich sie nach Hause begleitet, obwohl dies in der entgegengesetzten Richtung lag. Dann bin ich sofort los gerannt." Als er fertig war, fing er an Luft zu schnappen. So ein Dummkopf. Immer wenn er zu schnell und zu viel redete, vergisst er zu atmen. Jedoch war ich auch erleichtert. Ihm ist nichts passiert.

"Du bist echt zu großmütig. Die Leute sehen dir das an und nutzen das gnadenlos aus." Ich seufzte.

"Alle außer dir." Er lächelte breit.

"Dein Optimismus kotzt mich echt an." Sein Lächeln wurde noch breiter.

"Ich hab einen Kuchen mitgebracht. Zitrone." 

Er wusste, was ich mochte. Er verstand mich.  Manchmal glaubte ich, dass er die einzige Person war bei ich ich selbst sein konnte und das obwohl wir totale Gegensätze waren. Er fröhlich. Ich genervt. Er sympatisch. Ich sarkastisch. Er liebenswürdig. Ich ...

"Du schweifst schon wieder ab." 

Ich sah auf. Er reichte mir ein Stück Kuchen rüber.

"Kannst du echt glauben, dass das Ende sein wird.", fragte ich.

"Das Ende?" Er schwieg einen Moment. " Ich glaube, dass das eher der Anfang sein wird."

"Der Anfang also. Ich frag mich von was."

"Das wirst du wahrscheinlich erst merken, wenn es zu Ende ist."

Ich biss von meinem Kuchen ab. Er hatte echt Talent zum Backen. Obwohl er das immer abstreitete. Der Kuchen hatte eine leichte süße und schmeckte angenehm nach Zitrone und nach etwas Zimt.

Schweigend aßen wir den Kuchen bis zum letzten Krümmel. Schließlich stand ich auf und ging Richtung Treppenhaus.

"Warte einen Moment." Alec richtete sich nun auch auf und sah mich an.


"Ich liebe dich."


Ich erinnerte mich nur zu gut an die Stille nach diesen Worten. Ich habe noch nie in meinem gesamten Leben erlebt, dass Stille so intensiv sein konnte und ich glaube, dass ich auch nie eine intensivere Stille erleben werde. Ich wusste nicht wie lange wir dort standen und uns einfach nur ansahen, bis ich schließlich den Blick abwendete.

"Wir sollten uns beeilen. Sonst werden wir noch die Zeugnisausgabe verpassen."

Nach unserer Zeugnisausgabe und der Abschlussfeier haben wir uns wie Freunde verabschiedet. Von dem Liebesgeständnis war kein weiteres Wort gefallen. Und dann ging es zum Studium ins Ausland.

Titel kommt späterWhere stories live. Discover now