Changer et continuer, peut-être (2)

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Es dauerte nicht einmal zwei Wochen, bis ich es nicht mehr in seinem Haus aushielt.

Es regnete in Strömen, als ich vor Kälte nach Luft schnappend, pitschnass und mit einem alten Koffer in der Hand vor ihrer Tür stand. Als sie sie öffnete, nachdem ich meinen zitternden, tropfenden Daumen vier Mal auf den Klingelknopf gelegt hatte, hatte sie eine Zahnbürste im Mund und trug einen Pyjama. Ein Schokoladenfleck war an ihrem Ausschnitt, den ich nicht aufhören konnte anzustarren, denn ich wollte ihr nicht ins Gesicht sehen.

Cal versenkte die Zahnbürste in einer Blumenvase, als sie mich sah. Zog mich in die warme Wohnung, nahm mir den Koffer den Mantel ab, weil ich zu sehr zitterte, um die Knöpfe aufzubekommen. Danach führte sie mich ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch, die ich augenblicklich nass machte, und ließ mich kurz allein, nur um sofort wiederzukommen und mir ein Handtuch zu geben.

Ich sagte kein Wort, als ich mich abtrocknete. Ich wusste nicht, ob ich weinte, weil alles so nass war, doch sie setzte sich vor mich auf den Boden und schaute mich an, als ob sie verstehe.

Ich war mit Cal zur Schule gegangen. Hab im Unterricht neben ihr gesessen, in Englisch von ihr abgeschrieben, war mit ihr auf dem Abschlussball, weil sie die einzige war, die mich berühren durfte. Sie tat es nicht oft, doch wenn sie es tat, dann war es anders. Sie redete nicht gern, und ich redete fast überhaupt nicht. Ich fühlte mich immer noch schuldig, weil ich in so vielen Nächten mit Schmerzen zu ihr geflüchtet und über den großen Baum neben dem Haus ihrer Eltern in ihr Zimmer geklettert bin. Sie hat mich heimlich bei ihr duschen lassen, nie haben ihre Eltern etwas davon mitbekommen. Ich hatte immer das Gefühl, die Dusche bei mir zu Hause macht mich nicht sauber, es haftete so viel unsichtbarer Schmutz an mir.

Als ich halbwegs trocken war, hievte sie sich hoch, nahm mir das klatschnasse Handtuch ab und ging in Richtung Flur. "Ich mach dir eine heiße Schokolade."

In diesem Moment wurde mir klar, dass sie es wusste. Dass sie die Zeitung gelesen hatte, den Rundfunk gehört hatte, was auch immer, aber ich musste es ihr nicht erzählen.

Als ich die heiße Schokolade getrunken hatte, ihrem Blick weiter ausgewichen war und einfach ins Leere gestarrt hatte, fragte sie: "Sofa oder Bett?"

"Was?"

"Willst du auf dem Sofa oder in meinem Bett schlafen?"

Ich war viel zu erschöpft, um aufzustehen. "Darf ich denn hier schlafen?"

Statt zu antworten, reckte sie sich nach den Kissen, die am anderen Ende der Couch lagen, zog eine Decke unter ihr hervor und legte mir das alles in den Schoß.

Cal schlief in dieser Nacht nicht. Nachdem ich mir auf dem Sofa ein Bett gebaut und mich hingelegt hatte, hockte sie sich mit einem Buch und einer dampfenden Tasse Kaffee vor mir auf den Teppich, sodass ich ihr jedes Mal, wenn ich die Augen öffnete, direkt ins Halbprofil schaute. Ihr Gesicht war wie ein Haltegriff, es beruhigte mich immer, wenn es da war. Im gedimmten Licht beobachtete ich sie dabei, wie sie gegen das Sofa gelehnt eine Seite nach der anderen verschlang, wie sie sich die Fingernägel in den Mund steckte und irgendwann nicht mehr zu mir aufsah, weil sie in die Welt dieses Buches verschwunden war. Ihre kurzen, struppigen Haare hingen ihr vor den Augen, doch das störte sie nicht.

Irgendwann schaffte ich es, einzuschlafen. Glaube ich. Ich erinnere mich weder an einen Traum noch an ein Nichts. Doch als ich das erste Mal wieder aufwachte, fuhr es durch meinen ganzen Körper, und mein heißer Atem vibrierte gegen das Kissen. Ich wollte ihren Namen sagen, doch es kam nur ein heiserer Laut heraus, und sie sah auf, ihre Augen genauso müde wie ich mich fühlte, legte mir eine Hand auf die pochende Stirn und fluchte leise. Sie ging kurz weg und kam mit ihrer Bettdecke wieder, die sie mir überlegte, und als sie sich wieder setzte, nahm sie meine zitternde Hand und drückte sie.

Als ich das zweite Mal aufwachte, warf die Sonne Flecken ins Zimmer und Cal war mit dem Buch in der Hand eingeschlafen.

Sein WunderkindWhere stories live. Discover now