II.9 Das Echo aus der Tiefe - Ole und Alexander

304 6 0
                                    

Wie ein verwundetes Reh wand sich Alexander vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden des Maschinenraums. Seine Tränen benetzten den eisigen Stahl. Ich empfand einen tiefen Schmerz bei seinem leidenden Anblick. Vor meinem inneren Auge tauchte das in meiner Netzhaut eingebrannte Bild von Nils‘ Todesmoment auf. Ich bin ein jämmerlicher Versager! Ich habe den Menschen, den ich über alles liebte, nicht retten können. Meine Kraft reichte nicht aus, ihn in meine sicheren Arme bringen. Was für ein kümmerlicher Rest von einem Mann war ich nur. Mein verbohrter Ehrgeiz hat diese unerträgliche Situation erst herbeigeführt. Ja, ich trage eine schwere Schuld mit mir und weiß nicht, wie ich mit ihr weiterleben soll. Gab es einen Grund seinen Verstand nicht in den Wahnsinn verabschieden zu lassen und trotzdem weiter zu kämpfen?

„Mmm... ir ist so kalt…“, wimmerte Alexander.

Ja, es gab nun einen gewichtigen Grund nicht aufzugeben. So kauzig mein kleiner Historiker auch sein mochte, er weckte mit seiner Hilflosigkeit meine Zuneigung und zudem gab er mir das gute Gefühl, gebraucht zu werden. Ich hob das beklagenswerte Bündel vom Boden auf und trug Alexander auf meinen Armen. Unbemerkt von ihm, berührten meine Lippen kurz seinen Kopf. Ich schwor mir bei meinem eigenen Leben, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um Alexander nicht zu verlieren. Nein, nicht verlieren – niemals!

Ich bettete Alexander in die offensichtlich unbenutzte Koje einer Mannschaftskabine. Während alle anderen Schlaflager der Besatzung ein heilloses Durcheinander zu erkennen gaben, welches auf ein hastiges Aufbrechen schließen lässt, lag das Laken dieser Koje ordentlich gefaltet und glatt gezogen über der Liegefläche ausgebreitet. Alexanders Gesicht verbarg sich sofort im Kissen. Ich zog das Laken bis zu seiner Schulter hoch und strich ihm entschuldigend über die Stirn.

„Es tut mir Leid, dass ich Dich verletzen musste. Ich dachte, Du würdest sonst sterben.“

„Ich habe dieses Ding angestarrt und es hat zu mir zurück gestarrt. Ohne mich wehren zu können, spürte ich den unwiderstehlichen Drang es zu berühren, mich mit ihm zu vereinigen. Nein, es war ein Befehl. Ich musste es tun. Es wollte mich haben und für immer verschlingen.“

Ich ließ mich auf den Bettrand nieder und meine Hand ruhte auf Alexanders Schulter.

„Was glaubst Du, was hier vorgeht?“

Alexander rang um Luft.

„Keine Ahnung. Aber ich habe unbändigen Hass gespürt – so tief und abgründig, dass ich mir selbst den Tod wünschte.“

„Schlaf erst mal und ruhe Dich aus.“

Gedankenverloren streckte Alexander seinen rechten Arm nach mir aus, als ob eine unsichtbare Hand nach mir greifen wollte. In seinen Augen trat die erschütternde Erinnerung wieder zutage, dass er an seinem linken Arm keine Hand mehr besaß.

„Bitte bleib bei mir. Ich möchte hier nicht alleine schlafen. Bitte!“

„Ich werde mit Elsa noch das Notsignal aussenden und die Lage besprechen. Danach werden wir beide zu Dir kommen. Keiner von uns sollte die nächsten Stunden hier alleine verbringen.“

Beruhigt warf sich Alexander wieder in seine Koje zurück und der erlebte Schrecken wandelte sich in eine totale Erschöpfung. Alexander fiel in einen tiefen Schlaf.

Mit Mühe und Not gelang die Einschaltung des Notsignals. Bei Elsa trat sichtbar eine Entspannung ein. Zudem flammte eine neue Hoffnung in ihr auf. Jedoch verschwieg ich ihr, dass die Instrumente eine Tiefe von etwa 250 Metern angaben, in der wir auf dem Meeresgrund befanden. Die Signalstärke dieses altertümlichen Geräts konnte trotz seines intakten Zustands niemals bis zur Wasseroberfläche reichen. Die Motoren zeigten bei einem erneuten Startversuch bedrohliche Anzeichen einer Überhitzung und flogen uns um ein Haar um die Ohren. Zudem mussten wir den Maschinenraum wieder verriegeln. Für mich bestand der hinreichende Verdacht, dass aus dem geöffneten Behälter am Boden größere Mengen Quecksilber austraten und giftige Gase die Luft im Raum verseuchten. Quecksilber besaß trotz seiner tödlichen Wirkung keinen warnenden Geruch. Somit blieben unsere Überlebenschancen unverändert bei nahezu null. In mir keimte jedoch der Gedanke auf, dass die Aufklärung der seltsamen Vorkommnisse an Bord der U-2511 eine letzte Möglichkeit sein könnte, dieses verfluchte Boot womöglich doch noch lebend zu verlassen. Mit gesundem Menschenverstand betrachtet, durfte es dieses Unterwassergefährt nach sämtlichen Gesetzen der Physik nicht geben. Der Zahn der Zeit hätte sich längst seines Schicksals bemächtigt. Was war nun das Geheimnis der U-2511? Sollte die Lösung dieses Rätsels womöglich unsere Rettung sein?

Bevor wir uns zu Alexander in die Kabine begaben, sah Elsa nach dem Admiral. Zur gleichen Zeit betätigte ich die Kurbel zum Verschließen des Maschinenraums. Als die Verriegelung im Türgehäuse geräuschvoll einrastete, schallte Elsas kreischende Stimme zu mir den Gang hinauf. Ihre Schreie erreichten seit unserem Aufenthalt an Bord bereits Kultstatus. Bitte nicht noch eine Tragödie! Vor Übermüdung torkelte ich den Gang hinunter, bis ich Elsa erreichte. Ihr entsetzter Blick fixierte die Holzbank, auf der noch vor wenigen Stunden der Admiral angekettet saß. Die Sitzfläche war leer. An dem Balken der Lehne baumelte die Handschelle. Die eine Schelle umschloss den feisten Holzbalken, so wie ich sie damals anbrachte. Meine Augen wanderten die Eisenkette zur zweiten Schelle hinab und nun sah ich den Grund für Elsas Entsetzen. In der zweiten Schelle hing eine abgerissene Männerhand. Lose Fäden von Fleischfasern zeugten von dem unternommenen Versuch, die Hand gewaltsam durch den eng anliegenden Metallring zu zerren, bis schließlich das Handgelenk nachgab und, wie bei einem Tau ziehen, sich die Hand vom Arm mit einem Riss löste. Quetschungen an dem grün und blau verfärbten Handgelenk unterstützten diese Vermutung. Am Boden lagen mehrere Papierblätter verteilt, deren Oberfläche unzählige Buchstaben in altdeutscher Schrift übersäten. Offensichtlich befanden sich die Blätter ursprünglich in der abgetrennten Hand bis sie im Todeskampf zu Boden fielen. Es handelte sich um die Seiten aus der Koje des Herrn Kaleu Egon von Helmstedt, die der Admiral plötzlich in seiner Hand vorfand, nachdem wir die Kabine verlassen hatten. Was stand auf diesen Blättern geschrieben? Lag hier der Grund für den auftretenden Wahnsinn des Admirals in den letzten Stunden? Ich hegte keinen Zweifel daran, dass es sich bei der abgerissenen Hand um das letzte Überbleibsel des Admirals handelte. Eine übernatürliche Macht hielt uns hier gefangen und verfolgte ein bestimmtes Ziel. Nun jagte mir weniger unsere aussichtslose Lage am Grund des Meeres eine Heidenangst ein, sondern die Gewissheit, dass sich etwas sehr viel Bedrohlicheres an Bord der U-2511 befand.

FORTSETZUNG FOLGT...

Gay Ghosts (Kurzgeschichten) - Erotische GruselgeschichtenOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz