II.6 Das Echo aus der Tiefe - Die Katastrophe

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Vorbei an dem Angriffssehrohr im Kommandoturm, kletterten wir tief ins Innere des Bootskörpers. Wir knipsten unsere Taschenlampen an. Die Lichtstrahlen huschten über unzählige Schalter, Hebel, Leitungen, Ventile und Rohre, die sich dicht vor unseren Augen zu einem komplizierten Gewirr verknoteten. Die Tausenden von Windungen erinnerten mich an die Gedärme eines Tieres. Als ob wir uns im Bauch eines lebendigen Organismus bewegten. Lediglich eine leichte Staubschicht bedeckte die schlafenden Gerätschaften. Wir atmeten die modrige Luft des letzten Weltkriegs ein. Nun waren wir eins geworden mit der ehemaligen Besatzung der U-2511. Ihr Todesatem aus der Vergangenheit vermischte sich mit unserer Lebenskraft.

Der U-Boot-Historiker von Helmstedt klärte uns auf, dass wir uns gerade in der Sektion 5 des U-Bootes befanden, die aus der Zentrale, der Kombüse, dem Pumpenkeller und den Magazinräumen unter uns bestand. In Richtung des Hecks folgten die Mannschaftsräume (Sektion 4) und dahinter die Maschinenräume, die sich in den Dieselraum (Sektion 3) und den Elektromaschinenraum (Sektion 2) unterteilten. Der abschließende Heckraum (Sektion 1) beherbergte die Antriebe für das Seitenruder und das hintere Tiefenruder, den Seitenrudernotsteuerstand, die Tieflenzpumpe 1, das achtere WC mit Sanitärbehälter sowie die Werkstatt mit einer Revolverdrehbank und eine elektrische Bohrmaschine. In Richtung des Bugs gelangte man von unserem jetzigen Standort zur Sektion 6 mit den Wohnräumen der Offiziere, Oberfeldwebel und Unteroffiziere. Die sich anschließenden Sektionen 7 und 8 beinhalteten den Torpedoraum mit integriertem Torpedomagazin.

Wir zwängten uns zunächst durch die Gänge zu den Mannschaftsräumen, um den Verbleib der Besatzung zu untersuchen. Dabei durchkämmten wir alle Mannschaftsquartiere in der Sektion 4. Jeder Raum erweckte den Anschein, als ob er soeben noch bewohnt worden war. Persönliche Habseligkeiten lagen verstreut auf den Betten und in den Nischen der Kojen. Vergilbte Briefe, Taschenbücher in altdeutscher Schrift, Postkarten mit halbnackten Tänzerinnen und Kleidung, die das Abzeichen der Wehrmacht trug. Doch keine menschlichen Überreste der 58 Mann konnten wir entdecken. Mich beunruhigte die vollkommene Verlassenheit des Bootes. Die vielen kleinen Hinterlassenschaften deuteten darauf hin, dass die Besatzung bei dem Untergang der U-2511 an Bord gewesen ist. Oder sollte die Mannschaft zuvor von Bord geflohen sein und das Boot dem Meer übergeben haben? Nein, dies konnte ich nicht glauben. Am liebsten hätte ich durch die Gänge nach den Jungs gerufen, in der Erwartung, dass diese lebendig aus ihrem Versteck krochen.

Dann warf uns eine heftige Erschütterung beinahe zu Boden. Die gesamte Metallhülle des Bootes vibrierte. Der Boden unter uns schwankte. Allmählich begriff ich, dass der gesamte Bootskörper torkelte. Plötzlich hallten Rufe durch die Gänge, deren Herkunft ich zunächst nicht lokalisieren konnte. Elsa Lindström, unsere Geheimagentin, begann zu schreien. Etwas grob packte ich sie und schüttelte sie wieder zur Besinnung.

„Das kommt von draußen. Das sind keine Geister!“

Mit Erleichterung und zugleich Scham blickte sie mich an. Ich ließ sie stehen und rannte zurück zur Zentrale, um die Treppe zur Eingangsluke hinauf zu klettern. Der Admiral und Offizier Berg folgten mir. Oben angekommen bot sich mir ein chaotisches Bild. Der Himmel war von tiefschwarzen Wolken behangen, aus denen helle Blitze bedrohlich zuckten. Das Meer schaukelte sich immer höher und mehrere Wände turmhoher Wellen kesselten uns ein. Die Besatzung der MS Mørk versuchte verzweifelt das Bergungsschiff in eine stabile Lage zu bringen. Von den zwölf beweglichen Trägern, die das geborgene U-Boot fixierten, brachen bereits mindestens die Hälfte. Somit taumelte die U-2511 hilflos an den Seilen, die aus dem Schlund des Krakenkopfes herabhingen. Wenn sich die letzten Fixierpunkte lösen sollten, stand uns allen eine Katastrophe bevor. Zunächst bestand die oberste Dringlichkeit das Innere des U-Bootes zu verlassen. „Wir müssen hier raus! Hier draußen ist die Hölle los! Wenn wir mit dem U-Boot sinken, werden wir lebendig begraben!“

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