Als ich meine Augen öffne befinden wir uns immer noch im Zug. Zwischen den Holzdielen, aus denen der Ladewaggon gezimmert ist, sickert träge die Sonne durch.
Am Morgen des heutigen Tages haben Earl und ich einen Zug bestiegen, der Richtung Regierungsstadt fährt.
Zu dieser Zeit war es noch relativ kühl, doch jetzt zeigt mein Salvator 19° an.
Earl hockt neben mir und schläft noch, während ich meinen Mantel ausziehe.
Außer uns befinden sich in dem Wagen noch ein alter Mann, eine Frau mit zwei kleinen Jungen, sowie ein Mädchen, dass ungefähr in unserem Alter ist.
Als sie meinen Blick bemerkt lächelt sie, aber als mein Ausdruck sich daraufhin verfinstert schaut sie mit hochgezogenen Augenbrauen in die andere Richtung.
Am nächsten Morgen kommen wir gegen Mittag an unserem Reiseziel an.
Die Frau mit den Kindern und das Mädchen verschwinden sofort, doch der alte Mann gesellt sich auf dem modernen Bahnsteig nocheinmal zu uns.
Wir alle wirken hier in unserer alten und ländlichen Kleidung irgendwie fehl am Platz.
"Jungs, was auch immer ihr vorhabt tut es nicht."
"Was?" fragt Earl verwirrt.
"Was denn? Sawyer und Earl, richtig? Lauft ihr etwa herum und denkt, dass euch niemand erkennt?" der alte Mann fährt sich durch den dreitage Bart, der sein dreckiges Gesicht ziert.
"Natürlich nicht."
Wir setzen die Atemmasken, die Tai uns mal gegeben hat, auf.
"Fürs erste vermummen wir uns und dann überfallen wir einen Kleidungshändler."
"Junge, Junge." der Alte schüttelt den Kopf.
"Nun, Ich schätze ihr habt es auf Grey abgesehen. Lasst den Mann in Ruhe. Er wird diesem Land zu neuer Größe verhelfen, da bin ich mir ganz sicher."
"Wie ist Ihr Name?" fragt Earl ohne eine einzige Regung im Gesicht.
"Gant. Trevor Gant."
"Gut, dann werde ich ihnen das Gegenteil beweisen, Gant." sagt Earl mit gesenkter Stimme.
Er zieht einen kleinen schwarzen Gegenstand aus seiner Tasche und steckt in in eine Öffnung an seinem Salvator. Was ist das?
Der Bildschirm des Salvators flackert und Earl wirft mir einen kurzen Blick zu.
"Du schaust lieber weg."
Ein paar Sekunden später realisiere ich was er meint. Es ist ein Video der Hinrichtung von Rain und Rose. Ich wende meinen Blick ab.
"Du hast das aufgenommen?"
"Beweismaterial."
Ich schaue angestrengt in die andere Richtung und bekomme so nicht sofort mit, wie der Alte ein Messer zückt und es Earl vor die Brust hält.
"Lösch das oder ich schlitze dich auf."
Earl ist so überrascht, dass er lachen muss "Was?"
"Nun mach schon.", der Alte wird ungeduldig "Ich hab nicht fast zwei Tage in diesem dreckigen Waggon verbracht um zu diskutieren."
Ich mache einen Schritt auf die Beiden zu, doch Gant schüttelt den Kopf und nähert das Messer drohend Earls Brustkorb.
Dieser blickt angewiedert auf ihn hinunter "Sie arbeiten für ihn."
"Wen, Lugo?" der Alte lacht "Nein, nicht wirklich. Betrachtet mich eher als eine Art...Unterstützer."
Ich verpasse Gant einen schnellen Schlag aufs Handgelenk, sodass er das Messer fallen lässt. Earl schnappt es sich und richtet es auf ihn.
"So schnell kann sich der Wind drehen."
"Earl." murmele ich und deute auf zwei Wachen, die auf uns deuten und miteinander reden.
"Weg hier. Sofort."
Kaum sind wir ein paar Meter gelaufen, beginnt der alte zu schreiem und wir rennen los.
"Haltet sie! Sie haben mich bedroht!"
Earl schlingert sich so schnell durch die Menschenmassen, dass ich Mühe hab mitzuhalten.
Wir verlassen den Bahnhof und mischen uns unter die Menschen davor.
"Hoffentlich sieht keiner die Notwendigkeit darin uns zu verfolgen." murmelt Earl, als wir unser Tempo verlangsamen.
"Wenn der Alte unsere Namen nennt vermutlich schon. Wir haben also nicht viel Zeit."
Earl nickt "Dann los."
Neu eingekleidet und vermummt bewegen wir uns Richtung Regierungsviertel.
Ich orte Lugo über meinen Salvator,der Dank Earl nun fast über dieselben Funktionen verfügt wie der von Rose.
"Er befindet sich in einem Gebäude im Norden, fast schon außerhalb. Zwei deiner Handbomben sollten reichen um das ganze Ding hochzujagen."
Earl wirft einen Blick auf den Salvator, dann nickt er "Geh du schonmal vor, ich besorge noch ein paar Sachen um die Bomben zu bauen."
"Soll ich nicht lieber mitkommen?" ich ziehe meine Stirn in Falten "Alleine ist es gefährlicher."
Er schüttelt den Kopf "Dafür geht es schneller und du sagtest doch selbst: Wir haben nicht viel Zeit."
Ich seufze "Okay, aber pass auf dich auf und mach nichts Unüberlegtes."
Alleine durch die große Stadt zu laufen ist beängstigend. Je näher ich Lugo komme, desto mehr Wachen stehen herum.
Ich verschwinde in einer Seitengasse und schicke Earl meinen Standort.
Es dauert fast zwei Stunden, bis er zu mir stößt.
"Wie war das?" frage ich ironisch "Alleine geht es schneller?"
"Tut mir Leid, aber es hat länger gedauert, als ich dachte die ganzen Sachen aufzutreiben."
Es dauert noch einmal eine ganze Weile, bis Earl mir eine winzige, kugelförmige Bombe, die jedoch über enormer Sprengkraft verfügt, reicht.
"Du weißt ja, wie die funktionieren, oder?"
Ich nicke "Beide Hälften auseinander drehen, dann sind es fünf Sekunden bis zur Explosion."
"Sehr gut."
In dem Wald hinter dem Gebäude legen wir zwei Wachen mit einem gezielten Stich in den Rücken um, dann ziehen wir ihnen die Uniformen aus und verstecken die Leichen in einem dichten Gebüsch.
In einem kleinen Fluss waschen wir so viel Blut aus den Uniformen, wie möglich ist, dann ziehen wir sie an und setzen die Helme auf.
Ich tippe auf eine kleine Fläche an dessen Seite und vor mir erscheint eine Art Ausweis.
"Austin Claiver. Normaler Soldat."
Earl tut es mir gleich "Sam Occes. Ebenfalls normaler Soldat."
Wir überprüfen die Rute, die die beiden Toten hätten ablaufen sollen und tun dies, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Als wir endlich den Befehl bekommen das Gebäude zu betreten, ist es schon dunkel.
An der Tür wird eine Art Code auf unseren Anzügen gescannt, dann können wir hinein.
"Such dir einen Raum mit möglichst vielen Leuten." meint Earl zu mir und ich nicke.
Er reicht mir die Hand zum Abschied
"Bringen wir die Sache gemeinsam zu Ende!"
Ich schüttele seine Hand "Ja! Für Rain und Rose!"
"Und für alle anderen, die wegen der Regierung ihr Leben verloren haben!"
Wir nicken uns nocheinmal zu, dann begebe ich mich wie besprochen in den hinteren Teil des Gebäudes, während Earl vorne bleibt.
Ich umfasse die winzige Kugel in meiner Tasche. Dieses kleine Ding wird Lugo in Stücke reißen. Ein grausamer Gedanke, den ich nur zu gerne in die Tat umsetze.
Zur selben Zeit frage ich mich aber auch, was aus mir geworden ist. Was ist aus Sawyer Brown geworden, dass er sich freut Menschenleben zu nehmen?
Ich vertreibe die Gedanken aus meinen Kopf. Nun ist wirklich nicht die Zeit zu zweifeln.
Ich blicke mich um und erstarre, als ich am Ende das Flurs eine große dunkelhaarige Person entdecke. Lugo.
Ich weiß, Earl und ich hatten ausgemacht, das Risiko nicht einzugehen ihn direkt zu konfrontieren, doch ich kann nicht anders und folge ihm, als er sich erneut in Bewegung setzt und schließe mich unauffällig den Soldaten an, die ihm hinterher laufen.
Wir betreten eine Art Versammlungsraum und die Wachen stellen sich in einer Reihe an der Wand auf.
Ich drücke auf eine Stelle auf dem Helm und er verschwindet, jedoch rühre ich mich nicht von der Stelle.
Es dauert einen Moment, dann dreht Lugo sich um und entdeckt mich.
Wir starren uns gerade mal ein paar Sekunden in die Augen, dann habe ich den Helm wieder auf.
"Meine Herren, sie können gehen." sagt Lugo ruhig, ohne den Blick von mit zu nehmen.
Alle anderen Soldaten verbeugen sich und verlassen den Raum.
Kaum ist die Tür zu, ziehe ich die kleine Kugel aus meiner Tasche.
"Du hast sie getötet, also werde ich dich töten." meine Stimme trieft nur so vor Hass.
"Sawyer, bitte lass uns reden. Ich kann dir das erklären!"
"Was gibt es da zu erklären?" brülle ich wütend "Du hast uns alle hintergangen, du hast zugesehen, wie Rose und Rain hingerichtet wurden, du-"
"Sie lebt, Sawyer."
"Was?"
"Sie lebt."
In meinem Kopf bricht das totale Chaos aus. Was zur-
"Was erzählst du für Schwachsinn? Ich habe gesehen, wie sie gestorben ist!"
"Sie lebt, Sawyer und ich kann dich zu ihr bringen, aber dafür musst du mich am Leben lassen!" beteuert Lugo.
Ich kann nicht sagen wieso, aber ich weiß, dass er die Wahrheit sagt, also zögere ich nur einen Moment, dann deute ich auf das Fenster "Spring!"
Nun blickt er verwirrt.
"Was?"
Ich packe ihn und stoße ihn durch die Glasscheibe.
Im selben Moment, in dem wir unten, zwischen den Scherben, hart auf den Kiesweg aufschlagen, explodiert hinter uns der vordere Teil das Gebäudes.
Ich höre wie es knackt, als meine Schulter bricht, Lugo hält sich mit schmerzverzerrten Gesicht die linken Rippen.
Langsam rappeln wir uns auf, während die Flammen in den schwarzen Nachthimmel zucken.
"Ich hätte wissen müssen, dass du und Earl eine gefährliche Mischung seit." murmelt Lugo.
Ich starre noch eine Weile auf das brennende Gebäude, trauere um Earl, doch dann wende ich mich um und stapfe entschlossen auf Lugo zu.
"Wo ist sie?"
"Rain ist also wirklich tot?" frage ich, als der Helikopter abhebt. Lugo nickt.
"Es war nicht geplant, dass er da mit hineingerät."
Ich lache gekünstelt auf "Dann hättest du dafür sorgen müssen, dass es nicht passiert!"
"Ich weiß." murmelt Lugo.
Ich schüttele langsam meinen Kopf, dann blicke ich ihn fest an
"Erklär mir die Sache mit Rose."
Er räuspert sich.
"Aya, Tai und ich haben eine ganze Weile darüber diskutiert, was wir tun müssen, um an Poncelet ranzukommen und sind zu dem Schluss gekommen, dass eine Art Vertrag das Beste wäre.", Lugo schluckt.
"Lass mich raten, als Poncelet davon erfuhr, wollte er Rose als Pfand."
Lugo nickt "Ja. Natürlich wollten wir sie ihm nicht ausliefern, Moira meinte jedoch sollte es irgendeine Möglichkeit geben, dass sie Rose Platz einnehmen könnte, würde sie es tun.
Tai hat also begonnen herumzuexperimentieren und hat es geschafft Moiras DNA der von Rose anzupassen."
"Willst du mir gerade weiß machen, Tai hätte aus Moira eine Art Rose 2.0 gemacht?"
Lugo seufzt "Ja, das trifft es auch."
"Das ist doch verrückt." murmele ich, bedeute ihm dann aber weiter zu erzählen.
"Erinnerst du dich an die Nacht im Wald, in der du von Stimmen geweckt wurdest und anschließend K.O. geschlagen wurdest?"
Ich nicke.
"In der Nacht haben wir Rose weggeschafft, dafür gesorgt, dass sie aus der Gefahrenzone kommt.
Ich habe veranlasst, dass sie auf eine Insel nördlich von Area 15 kommt, die den Rebellen gehört. Früher war dort eine Art Hochsicherheitsgefängnis."
Ich rümpfe die Nase "Und Rose hat das mit sich machen lassen?"
"Nein, deshalb...mussten wir ihre Erinnerungen löschen."
"Was?" rufe ich entsetzt.
"Ich weiß, dass ist keine Entschuldigung, Sawyer, aber sie ist auf meine Männer losgegangen, hat einen von ihnen fast niedergestochen-"
Roses Erinnerung sind weg.
Sie kennt mich nicht mehr.
"Und wieso hast du ihr nichts gesagt? Wieso hast du uns allen nichts von deinen Plänen erzählt?" rufe ich und raufe mir dir Haare. Wie kann man so ein egoistisches Arschloch sein?
"Ich weiß, dass war ein Fehler, aber ich war zu der Zeit der Meinung, je weniger davon wüssten, desto sicherer wär es."
Ich spanne meine Kiefermuskeln an und muss mich beherschen ihm nicht eine reinzuhauen.
Etwas später befinden wir uns im Landeanflug auf die Insel. Ich starre auf das riesige weiße Gebäude hinab, dass von Stacheldraht und Mauern umgeben ist.
Irgendwo da unten ist Rose. Lebend.
Wir landen auf dem Dach des Gebäudes und ich springe hinter Lugo aus dem Helikopter.
Mein Herz rast wie wild, mein ganzer Körper zittert.
Was soll ich ihr sagen? Sie wird gar nicht wissen, wer ich bin, ich-
Ich merke, dass ich kurz davor stehe eine Panikattacke zu bekommen und zwinge mich ruhig zu atmen und Lugo hinterher ins Gebäude und nach unten zu folgen.
Ein Soldat kommt uns entgegen.
Als er vor uns steht erkenne ich ihn.
"Tai?"
"Sawyer."
"Wo ist sie?" fragt Lugo.
"Untem im Garten. Sie hat ebend gegessen und liest jetzt."
"Was ist mit den anderen? Aya, Fawks, Scar..."
"Sind auf dem Weg hierher."
Ich traue mich nicht hinaus zugehen.
Seit einer ganzen Weile stehe ich nun schon hier.
Sie ist nur wenige Meter entfernt, aber ich traue mich nicht aus der Tür zutreten und sie anzusehen, mit ihr zu sprechen.
"Ich kann das nicht." murmele ich und lehne mich resigniert gegen die Betonwand.
Nach etwa einer viertel Stunde habe ich allen Mut in mir zusammengekratzt und trete doch hinaus ins Sonnenlicht.
Der Garten ist nicht besonders groß, das Gras ist hoch, dazwischen wachsen hier und da Gänseblümchen und Löwenzahn.
In der Mitte das Gartens ist das Gras plattgetreten, dort steht ein einfacher Holztisch mit ein paar Stühlen.
Auf dem Tisch stehen immernoch Teller und eine Karaffe aus Glas, die in der Sonne glitzert.
Hier haben Tai und Rose anscheinend vor kurzem noch gegessen.
Mein Blick fällt auf einen Baum in der hinteren Ecke des Gartens.
Darunter sitzt eine Person und blättert in einem Buch. Rose.
Ich habe das Gefühl mein Herz bleibt stehen.
Ihre Haare sind von der Sonne ausgebleicht, ihre Haut hat einen leicht bronzefarbigen Ton und sie scheint ein wenig zugenommen zu haben. Sie sieht gesünder aus, als das letzte Mal, als ich sie gesehen habe.
Ich muss lächeln, spüre aber auch, wie sich in meinen Augen Tränen bilden.
Sie bemerkt meinen Blick und schaut auf.
Eine Weile starren wir uns an, ich bete, dass sie sich irgendwie an mich erinnert, aber sie sagt nichts.
Meine Kehle ist trocken und ich bringe ebenfalls kein Wort herraus.
"Wer bist du?" fragt sie und mir wird mit einem Mal bewusst, wie sehr ich den Klang ihrer Stimme vermisst habe.
Ich gehe die letzten Schritte zu ihr hinüber und lasse mich vor ihr im Gras nieder.
"Ich bin Sawyer."
Sie lächelt und plötzlich bin ich mir sicher, dass alles gut wird. Rose erinnert sich zwar nicht an mich, aber sie lebt und ich kann bei ihr sein. Wir haben Freunde verloren, müssen uns aber keine Sorgen mehr um Poncelet machen.
Es ist nicht perfekt, aber gut.
"Hallo Sawyer."