Der Tagebucheintrag

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Tagebucheintrag

Nathanael sitzt am letzten Abend vor seiner Abreise von seiner Heimatstadt in seiner Stube vor dem Schreibtisch und erzählt seinem Tagebuch von den Geschehnissen der letzten Tage mit Clara und Lothar. Er schreibt:

„Liebes Tagebuch,

ich schreibe hier von meiner geliebten Heimatstadt, welche ich endlich wiedersah zusammen mit meinem holden Engelsbild Clara, meiner geliebten Mutter und meinem herzgeliebten Freund Lothar. Doch haben diese wundervollen Tage meinem Geiste nicht nur Frieden und Ruhe gebracht, sondern haben sie mich auch schwer belastet.

Nun würdest du herzlicher Freund sicherlich fragen, was es war, das meinen Geiste so erschwerte, dass nicht einmal ein lieblicher Engel, wie meine Verlobte Clara, mich dies vergessen lassen könne. Doch vergebe mir mein Freund, dass ich deine Frage noch nicht beantworten werde, denn ich würde dir erst das Gute schildern, bevor das Dunklere diese Seiten bedecken wird und uns der Kopf mit Traurigkeit, Wut und Entsetzten erschwert wird.

So horche auf, spekuliere nicht und versinke dich in meine Wiedergabe der letzten Tage.

Erstmalig war alles vollkommen, ich schloss Clara in eine Umarmung und Coppelius oder welcher Name er jetzt am tragen sei, flog mir aus dem Kopf heraus, als wäre er von Claras lieblichen Lächeln davon gejagt worden.

Doch andauernd gefielen Clara meine Dichtungen nicht mehr, sie fand deren dunkle, geheimnisvolle Art gar zu langweilig, Nein! sie fand diese Werke der Kunst sogar zuwider. Ihr kaltes prosaisches Gemüt zürnte mich, doch ich war von der Überzeugung, dass dies meine Schuld sei, denn ich konnte Coppelius einfach nicht ausgeprägt genug mir vor Augen sehen, um ihn den Leser so zu schildern, dass dieser ihn sehen und fühlen könne. Ich musste versuchen, alles Grauenhafte, Dunkle, Hasserfüllte, Teuflische, Traurige, Beängstigende über ihn in Wörtern zu vermitteln, ohne das Glückliche, Liebevolle, Fröhliche, Schützende, Vollkommene, welches er nur zu ruinieren mag, außer Augen zu lassen. Doch jedes Wort schien mir dürftig und belanglos für etwas so allumfassendes. Wie sollte ich etwas übertragen, wenn ich, ein Dichter, für Wörter kämpfen muss und ich meine Ahnungen und Träume nie aufschreiben könne, denn alles einfach etwas zu fehlen scheint, das ich nicht zu greifen schaffe?

Doch dann kam es zu mir wie aus heiterem Himmel! Mir war es gar nicht gewähr, was ich da am schreiben war. Es war als wäre meine Hand nicht mehr mein Eigen, ich widmete mich diesem Schriftwerk und schrieb und feilte und besserte Zeile für Zeile bis alles, aber alles sich rein und wohl klingend fügte, um jeden Leser ein Bild vor Augen zu stellen, welches dem meinem Gemüt entsprungen und so voller glühender Farbe ist, das wäre es von einem wahren Maler gemalt worden, dann müsste man zweimal schauen, um im Stande zu sein, es von der Realität zu distinguieren, so voller Details wäre es gewesen.

Ach, mein lieber Freund, wie wünschte ich mir, dass dieses Gedicht Clara letztendlich doch gefallen würde, aber Nein, dieses Mal hat mein Werk, an welchem ich lange geschuftet habe, nicht Langeweile entstehen lassen, sondern Entsetzen. Sie hatte mir sogar gesagt: „Nathanael – mein herzlieber Nathanael! - wirf das tolle – unsinnige – wahnsinnige Märchen ins Feuer." Dies erzürnte mich derart, dass ich diese dummen, ungeschliffenen Wörter von mir gab: „Du lebloses, verdammtes Automat!". Diese bereue ich zu tiefst, doch bin ich von der Überzeugung, dass ich erst meine Erzählung fortführen sollte, bevor ich dir, liebes Tagebuch, meine Gefühle über diesen Teil der letzten Tage gestehen solle.

Nachdem diese Wörter von mir kamen, rannte ich fort und ließ eine weinende Clara hinter mir, welche Lothar von den Geschehnissen aus ihrer Sicht berichtete, da dieser gerade in die Laube trat. Lothar lief mir voller Zorn hinter her und wir stritten uns sehr heftig. Ein Kampf sah unvermeidlich aus, so trafen wir uns am nächsten Morgen hinter dem Garten mit scharf geschliffenen Stoßrapieren. Oh, hätte Clara uns nicht überhört und wäre sie nicht am genau richtigen Moment gekommen, dann wäre einer von uns gegenwärtig wahrscheinlich schon tot. Sie fragte weinend, wie sie denn weiter leben sollte, hätte einer von uns beiden den anderen ermordet und so senkten wir beide die Waffen, während auch uns die Tränen übers Gesicht liefen. Wir nahmen uns in die Arme, nachdem ich mich gefühlsvoll entschuldigt habe und schworen uns gegenseitig nie voneinander zu lassen in steter Liebe und Treue. An diesem Moment fühlte ich mich wie überkommen von Liebe zur holden Clara und alles war vergeben und vergessen. Mutter wurde dies alles verschwiegen, denn wir wollten sie nicht sorgen, obwohl es schön wäre mit jemanden reden zu vermögen, der auch daran glaubt, dass Coppelius am Tod meines Vaters Schuld war.

Es ist nun der letzte Abend vor meiner Rückkehr nach G. und ich könnte mich nicht erholter fühlen. Es waren ereignisreiche Tage, sicherlich, aber trotzdem ist es schön wieder mit der Familie zu sein und Coppelius vergessen zu können. Auch wenn ich nicht glaube, dass unsere Auseinandersetzung nur meine Schuld ist und dass sich Clara und Lothar auch entschuldigen sollten, denn zu einem Streit gibt es mehr als nur eine Seite und während ich derjenige war, der Clara zuerst mit wahren Beleidigungen verletzt habe, so hat auch sie mich mit ihren Anmerkungen und insbesondere ihrer letzten Aussage zu tiefst verletzt. Auch Lothar ist nicht ganz unschuldig, denn während es seine Aufgabe als ihr Bruder ist, seine liebste Schwester zu verteidigen, dann hätte auch er sich meine Seite anhören sollen.

Aber sorge dich nicht liebes Tagebuch, denn ich werde nicht darauf festsitzen und meine Zeit mit ihnen einfach genießen."

Nathanael schließt sein kleines Büchlein und legt sich hin, um über Clara zu träumen.

Der Sandmann Nathanaels TagebucheintragWhere stories live. Discover now