Aber Aria war nicht hier, um denen, die ein menschliches Lebewesen in die Welt gesetzt hatten und damit die Verantwortung übernommen hatten sich um es zu kümmern, und immer die besten Entscheidungen für dieses Lebewesen zu treffen, Honig ums Maul zu schmieren. Sie war es, der die undankbare Aufgabe zuteilgeworden war, ihnen die unverblümte Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit war bitter. Sie tat weh. Sie tat selbst Aria so weh, dass sie einen dicken Kloß im Hals hatte und die Worte, die so dringend aus ihr herausmussten, nicht sagen konnte, weil sie dann selbst in Tränen ausgebrochen wäre.

Plötzlich spürte sie eine starke Hand in der Mitte ihrer Schulterblätter. „Wenn ich mich kurz vorstellen dürfte", hörte sie Juliens vertraute, sanfte Stimme und sah aus dem Augenwinkel, wie er seine große, starke Hand nach der des Mannes ausgestreckte, der immer noch wütend und verzweifelt vor ihnen stand. „Mein Name ist Doktor Julien und ich arbeite mit Doktor Aria schon viele Jahre zusammen. Sie hat mich gebeten, mir Elsie einmal anzuschauen, um eine zweite Meinung zu haben. Wenn Sie erlauben."

Der Vater blickte ein paar Mal zwischen Julien und Aria hin und her, bis er schließlich nickte. Er trat einen Schritt beiseite und gab die Sicht auf das Bettchen frei, in dem das kleine Mädchen noch immer schweigend lag. Wahrscheinlich hatte sie längst aufgehört zu weinen und zu rufen, da ja doch keine Nahrung den Weg in ihren Mund fand.

Julien näherte sich dem Kind und hockte sich daneben, während der kleine Willai Schutz bei seinem Vater suchte. Auch er hatte Angst um seine kleine Schwester, das war ihm deutlich anzusehen. Während der Arzt das Mädchen untersuchte, setzte sich Aria neben den Jungen und öffnete ihren Rucksack. Dann flüsterte sie ihm verschwörerisch zu: „Ich habe dir etwas mitgebracht."

Umständlich holte sie aus den Tiefen ihres Rucksacks einen Traubenzucker-Lolli heraus. Mit flinken Fingern zauberte sie die Süßigkeit hinter dem Ohr des Jungen hervor. Seine Augen wurden kurz groß, dann blickte er zu seinem Vater hinauf, der es tatsächlich schaffte zu lächeln und somit dem Jungen zu erlauben, den Lolli zu essen.

Während Willai sich in eine Ecke verkroch und genüsslich an dem Zuckerding leckte, sah Aria sich um. „Darf ich fragen, wo Ihre Frau ist? Ist sie gar nicht hier?" Aria fragte aus purem Interesse, doch ihre Worte trafen den Mann härter, als sie geahnt hatte.

„Sie ist heute Morgen losgezogen, um Lebensmittel zu holen. Da unten nichts mehr ist, ist sie an die Oberfläche gegangen und wollte sich etwas in einem Versorgungsmarkt besorgen." Aria blickte erstaunt, und der Mann begann plötzlich zu lachen. „Wir haben natürlich kein Geld", brachte er hervor und schaute etwas in der Gegend herum. „Sie wird sicherlich nicht mit dem Vorsatz dorthin gegangen sein, für die Ware zu bezahlen. Da sie immer noch nicht zurück ist, befürchte ich das Schlimmste. Ich hätte sie aufgehalten, aber sie hat nur diesen Brief dagelassen."

Er zeigte mit spitzen Fingern auf ein über und über beschriebenes Blatt Papier, dessen Farbe an einigen Stellen schon arg in Mitleidenschaft gezogen war und das viele Risse und Falten aufwies. Es hatte ganz den Anschein, als wäre es immer und immer wieder benutzt worden, um ja nichts zu verschwenden.

„Sie wird bestimmt bald wiederkommen", versuchte Aria, den Mann zu trösten. Doch er schüttelte den Kopf.

„Sie wäre längst wieder hier, wenn sie Erfolg gehabt hätte. Wir haben das schon oft erlebt. Einige von ihnen landen im Gefängnis und kehren nie wieder zurück."

„Entschuldigen Sie", sagte Julien plötzlich und unterbrach ihr Gespräch, während er den Vater mit ernstem Gesicht ansah. „Ihrer Tochter geht es wirklich sehr schlecht. Ich befürchte, dass ich die Diagnose meiner Kollegin nur bestätigen kann. Sie sollte dringend mit uns mitkommen, damit wir uns um sie kümmern können. Andernfalls werden Sie bald mehr als nur Ihre Frau verlieren."

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now