76 10 26
                                    

Wie schon tausendmal zuvor sah ich sein Lächeln vor meinen Augen. Ein wunderschöner Anblick und doch verfolgte er mich.

"Warum musstest du nur gehen?" 

Es war eine angenehme Frühlingsnacht. Der Fluss plätscherte leise vor sich hin, Blätter flossen mit dem Strom. Wie schon etliche Male zuvor stand er an der Brücke und starrte auf das Spiegelbild des Mondes, das sich im Wasser abzeichnete. Seungmin genoss die Ruhe des Parks und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er bemerkte erst nicht, wie jemand sich zu ihm gesellte. Es war ein blonder Junge, der wohl etwa in seinem Alter war. Nach einem kurzen Blick auf ihn wandte Seungmin seine Aufmerksamkeit  wieder zum Fluss. Der Fremde stand noch eine ganze Weile still neben ihm und ging schließlich davon. Der einzige Beweis, dass er je da gewesen war, lag direkt vor Seungmins Nase. Eine einzelne Lilie, deren weiße Blütenblätter im Mondlicht zauberhaft wirkten.

Was für eine komische Begegnung.

Die nächsten Male stand der Fremde schon vor Seungmin an der Brücke. Jedes Mal spielte er lautlos mit der frisch gepflückten Lilie in der Hand und hinterließ sie ihm auf dem Brückengeländer. Sie tauschten keinerlei Worte miteinander aus, doch freute sich Seungmin allmählich sogar darauf, den Fremden wiederzusehen.

"Ich muss verrückt geworden sein", murmelte Seungmin, als er sich mal wieder auf den Weg zur Brücke machte. Ob er heute wieder da sein würde? Seungmin war etwas früher als sonst aus dem Haus gegangen. Doch seine Sorge war unberechtigt, denn der Unbekannte war schon da und pflückte gerade eine weitere Madonnenlilie am Flussufer. Seungmin holte tief Luft und lief auf ihn zu. "Heute frage ich ihn", sagte er sich. Er nahm all seinen Mut zusammen und verschwendete keine Sekunde. Kaum war er bei ihm angelangt so kamen ihm die Worte von den Lippen. "Wie heißt du?" Der Blonde war erst etwas überrascht, schenkte ihm aber dann ein warmes Lächeln.

"Ich bin Chan und wie heißt du?"

Verdutzt blieb Seungmin stehen. Er wusste nicht, was genau er erwartet hatte, aber auf jeden Fall nicht das. "Ich bin Seungmin", nuschelte er. Der doch nicht so fremde Fremde lächelte breit und übergab Seungmin die Lilie. "Dann lass uns mal spazieren gehen, Seungmin." Gemeinsam liefen sie durch den Park und redeten über alles Mögliche. Im Nachhinein fragte Seungmin sich, wie das so schnell passieren konnte.

"Das ist mein Hamster, Mickey", sagte Chan und zeigte Seungmin ein Foto. "Ist er nicht süß?" Seungmin nickte. "Ich hätte auch gern ein Haustier." Nach ihrem Spaziergang kamen sie an der Straße an. "Bis morgen, Seungmin. Ich werde da sein", sagte Chan und zeigte Fingerguns. "Pass auf dich auf." Lachend lief er rückwärtsgehend davon und winkte Seungmin zu, bis er aus seinem Blickfeld verschwand. So verging der Mai voller Treffen.

Mitte Juni stand Chan mit einem traurigen Gesicht auf ihrer Brücke. "Was ist los, Channie?" Seungmins Herz klopfte laut vor Sorge. "Ich fliege bald zurück nach Sydney. Meine Eltern wollen, dass ich dort studieren gehe." Seungmin sah, wie sich Tränen in Chans Augen bildeten. Wortlos umarmte er den nun Schwarzhaarigen und strich ihm über den Rücken. "Wir können uns Briefe schreiben und telefonieren. Du liebst es doch in Australien oder nicht? Und dann kannst du endlich wieder bei deiner Familie sein, du redest ständig von ihr." Chan zog sich aus der Umarmung zurück und sah Seungmin ins Gesicht. "Aber ich will dich nicht zurücklassen müssen", flüsterte er und wischte die Träne von Seungmins Wange weg. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er auch weinte.

"Alles wird gut."

Die Zeit verging wie im Flug und ehe sie sich versahen war es schon Ende Juli. Sie trafen sich ein letztes Mal im Park, bevor Chan ein Taxi zum Flughafen nahm. "Das ist für dich", sagte Seungmin, als er Chan ein selbstgemachtes Armband übergab. "Damit du nie allein bist." In einer festen Umarmung verschlungen standen sie an ihrer Stelle und sahen gemeinsam auf den Fluss. "Bis die Lilien wieder blühen."

"Bis die Lilien wieder blühen", wiederholte Seungmin flüsternd Chans Worte. "Bis zum Mai."

Die nächsten Monate über telefonierten sie alle zwei Wochen und schrieben einander Briefe, wann immer sie konnten. Jeder Brief ließ ihn bis über beide Ohren grinsen. Seungmin schickte Videos, in denen er auf der Gitarre übte. Er lernte schnell und wurde mit jedem Mal besser. Chan schickte Sprachnachrichten, wann immer er etwas sah, dass ihn an Seungmin erinnerte. Was war das nur für ein Gefühl, dass ihn nicht losließ? Er konnte es nicht begreifen.

Die Monate vergingen. An ihren Geburtstagen telefonierten sie stundenlang, bis sie schließlich vor Erschöpfung einschliefen. Der Winter verging und der Frühling kam.

Und dann hörten die Briefe auf anzukommen.

Besorgt stand Chan im Eingang des Wohnblocks und versuchte erneut vergeblich, Seungmin zu erreichen. Seufzend klingelte er und richtete seine Jacke zurecht.

"Kim Dahyun, wer ist da?" Chan räusperte sich. "Hallo, mein Name ist Chan. Ich bin ein Freund von Seungmin."

"Meine Mutter ist für mich die schönste Frau auf der ganzen Welt. Keiner könnte sie je ersetzen."

Im siebten Stock wurde Chan von einer Frau empfangen, die ihn lächelnd zu sich winkte. "Komm schon rein." Die Wohnung war hell durchleuchtet und sorgfältig dekoriert worden. Es hingen viele Malereien an der Wand und auch einzelne Fotos. "Ich mach dir einen Tee, zieh du dir schonmal die Schuhe aus. Ist Grüntee oke?" Chan nickte.

"Wozu hab ich die Ehre, dich heute hier haben zu dürfen?", fragte Dahyun, als sie ihm den Tee hinstellte und setzte sich ihm gegenüber. Die Küche war recht klein und der Tisch reichte nur für zwei Personen. "Ich wollte Seungmin sehen", antwortete Chan und nippte an dem heißen Tee. "Er hat seit einer Weile schon nicht mehr auf meine Briefe geantwortet, also hab ich Geld für ein Flugticket gesammelt und kam so schnell her wie möglich." Dahyuns Lächeln verstarb und sie sah ihn bemitleidend an. "Du weißt es nicht?" Chan legte den Kopf etwas schief, ihre Worte beunruhigten ihn. "Was denn?"

Seungmins Mutter wandte den Blick ab. "Er ist vor zwei Monaten verstorben."

Chan ließ fast die Teetasse fallen. Einige Minuten lang herrschte Stille, dann sprach Dahyun ihn wieder an. "Wenn du willst, kannst du dich in seinem Zimmer umsehen. Er sprach ständig über dich."

Das Zimmer war hellblau angestrichen und Staub sammelte sich auf den Regalen an. Chan erkannte die Fotowand, vor der Seungmin immer saß und sah seine Gitarre auf dem Bett liegen. Auf dem Tisch lag ein in braunem Leder gebundenes Fotoalbum. "Er wollte nicht, dass du erfährst, wie es passiert ist. Aber er sagte mir, dass wenn du hier auftauchen solltest, ich dir das Album übergeben soll. Minnie hat es immer vor mir versteckt, weißt du? Du musst ihm wohl viel bedeutet haben." Langsam lief Chan zum Tisch und nahm das Album in die Hand. "Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich werde da sein, falls etwas sein sollte."

Die Tür fiel ins Schloss und Chan setzte sich auf Seungmins Schreibtischstuhl.

Blütezeit. So hieß es auf dem Umschlag.

Vorsichtig öffnete Chan das Album und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Die Seiten waren voll mit gepressten Lilien, jede einzelne trug ein Datum. Jede Lilie, die Chan ihm geschenkt hatte, war in dem Album drinnen. Seungmin hatte kleine Notizen hinzugefügt.

Heute sahen wir ein Eichhörnchen. 

 Eine von Chans Locken sah heute extra niedlich aus. Wie Kringel Pommes.

Chans Augen sahen heute noch schöner als sonst aus.

Wir haben uns heute zum ersten Mal umarmt. 

 Ich glaube, ich bin verrückt.

Nach den Blumen kamen die Briefe. Seungmin hatte ihre gemeinsamen Fotos auf einzelne Seiten geklebt, selbst die Screenshots von ihren Videoanrufen. Chan verlor das Zeitgefühl, als er sich jede Seite genauestens einprägte und sich vorstellte, wie Seungmin an seinem Tisch saß und sorgfältig Seite für Seite füllte. Schließlich kam der letzte Brief, den Seungmin beantwortet hatte. Das Album war nur etwas voller als die Hälfte geworden. "Ich liebe dich auch", flüsterte Chan.

"Warum musstest du nur gehen?"

Brückengeschichten || Blütezeit im Mai (OS)Where stories live. Discover now