Die Ankunft

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Es ist früher Mittag als wir nach einer halbstündigen Taxifahrt am Schloss ankommen. Die Sonne kämpft sich tapfer durch den wolkenverhangenen Himmel und lässt den Dunst, der über den Feldern abseits der Straßen hängt, fast romantisch aussehen.

„Es ist auf den ersten Blick ziemlich imposant, was?" Mum sitzt neben mir auf dem Rücksitz und schaut an mir vorbei zum Fenster hinaus.

„Auf der Homepage stand, dass es über 200 Schlafplätze verfügt, aber ich bin sicher, die werden schon lange nicht mehr alle benutzt. Im letzten Jahrgang, der hier den Abschluss gemacht hat, waren nur 48 Schüler."

Ich nicke, obwohl es mir eigentlich relativ egal ist. Ich habe nichts dagegen, dass meine Eltern mich auf dieses Internat schicken wollen, aber es ist auch nicht so, als wäre ich hellauf begeistert.

„An diese Kulisse kann man sich auf jeden Fall gewöhnen." Pa steigt aus dem Wagen und wir folgen ihm. Der Taxifahrer holt meine beiden Koffer aus dem Kofferraum und stellt sie knirschend auf dem Kiesboden ab der Einfahrt ab.

„Ich bin mir sicher, dass das hier ein deutlich besserer Ort ist, um seinen Schulabschluss zu machen, als dein altes Gymnasium in Deutschland. Und du perfektionierst ganz nebenbei auch noch dein Englisch. Das ist im Grunde das Beste, was dir passieren kann."

Ich nicke wieder und frage mich, ob mein Englisch nicht auch so schon gut genug ist. Als Tochter einer englischen Mutter sollte man das doch schließlich meinen.

„Ja, ich denke auch, Schatz. Stell dir erst mal die ganzen lustigen Erlebnisse an, die du hier haben wirst. Das wird toll... Wollen wir?" Sie nickt in Richtung Koffer und ich und Pa nehmen jeweils einen und folgen Mum Richtung Schloss.

Ich finde es ehrlich gesagt ein bisschen zu klischeehaft, dass meine Eltern mich ausgerechnet auf ein altes Schloss in Nordengland schicken, aber als eine alte Schulfreundin von Mum ihr erzählt hat, dass ihre Tochter hier einen hervorragenden Abschluss gemacht hat, waren sie nicht mehr von der Idee abzubringen. Vielleicht hätten sie irgendwann davon abgelassen, mich ständig zu bequatschen, aber ich habe mich schließlich breitschlagen lassen. Nicht zuletzt deshalb, weil mich in Deutschland eigentlich nicht viel hielt.

Mum lotst uns durch die riesige Eingangshalle in einen holzvertäfelten Korridor, von dem zahlreiche Büroräume abgehen.

„Guten Morgen, Ms. Howard. Ich bin Jennifer Wards und das ist mein Mann Michael. Wir sind die Eltern von November."

Eine Frau gehobenen Alters sitzt im ersten Büroraum an einem massiven Schreibtisch aus Holz und sieht meine Mutter über ihre tiefsitzende Brille hinweg an.

„Familie Wards", sie setzt ein freudiges Lächeln auf uns kommt von ihrem Schreibtisch zu uns rüber. „Es freut mich sehr, dass Sie es geschafft haben. Du musst November sein." Sie hält mir ihre Hand hin und ich schüttle sie mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Ms. Howard."

Sie wendet sich wieder meinen Eltern zu: „Sie haben ja im Vorfeld schon alle Informationen zu unserem Northriver Castle bekommen. Falls Sie also keine weiteren Fragen haben, würde ich vorschlagen, direkt mit den Formalitäten zu beginnen. November wird gleich von einer Mitschülerin abgeholt, die ihr ihr zukünftiges Zimmer und das Gebäude zeigen wird."

„Ja, das klingt sehr gut." Mum wirft mir einen erleichterten Blick zu. Offensichtlich hat sie doch ein schlechtes Gewissen, mich hier ins kalte Wasser zu werfen. Der Gedanke daran, dass sich direkt ein paar gleichaltrige um mich kümmern, scheint ihre Zweifel allerdings schon etwas zu lindern.

Ich warte vor der Tür, während im Büro von Ms. Howard gerade die letzten Dinge geklärt und unterschrieben werden. Ich weiß nicht, wie lange ich schon warte, aber die alte Uhr am Ende des Korridors tickt zum gefühlt fünfhundertsten Mal, als ich das Mädchen sehe. Sie hat rote Locken und einen federnden Gang. Sie sieht nett aus.

„Hey, es tut mir voll leid, ich sollte eigentlich schon vor fünf Minuten hier sein, aber ich wurde aufgehalten." Sie zieht verlegen den Ärmel ihres Uniform-Sweatshirts herunter, um den großen und offenbar frischen Knutschfleck auf ihrem Unterarm zu bedecken.

„Ist schon gut. Ich bin sowieso nicht wirklich scharf drauf, mir gleich heute das gesamte Schloss anzusehen. Bei dieser Größe kann das ja Jahre dauern."

„Was du nicht sagst. Ich habe mich am Anfang jeden einzelnen Tag verlaufen. Aber dafür hast du ja mich an deiner Seite. Ich bin deine Zimmernachbarin und damit offiziell deine Patin- jedenfalls für die erste Zeit. Normalerweise kann man sich auch immer an die Älteren wenden, die sind meistens auch ganz nett und helfen einem Neuling weiter. Nur bei Lucas und Graham musst du aufpassen, die machen sich gerne mal einen Scherz daraus, unwissende Frischlinge zu verarschen." Sie sieht so aus, als wüsste sie aus erster Hand, wovon sie da spricht.

„Ich bin November", sage ich, als mir auffällt, dass sie mir noch gar nicht ihren Namen verraten hat.

„Lilly", sagt sie und zieht ihren Sweatshirt-Ärmel wieder hoch, „und das war Connor, den wirst du sicherlich auch noch früh genug kennenlernen." Sie lächelt verträumt und bedeutet mir, ihr zu folgen.

„Seid ihr zusammen?", frage ich, um ein bisschen Smalltalk zu betreiben.

Sie nickt und ihre roten Locken wippen. „Seit drei Monaten. Wir sind beide schon seit zwei Jahren hier, aber das mit uns hat erst im Frühling angefangen. Connor ist eine Stufe über uns, deshalb kannte ich ihn vorher kaum."

Ich folge Lilly eine der zwei breiten Treppen hinauf in den ersten Stock.

„Hier runter ist der Flur der Mädchen, zur anderen Seite geht es Richtung Waschräume. Die Jungs schlafen oben. Bis auf unsere Vertrauenslehrerin Lindsey schlafen keine Lehrer im Haus. Manche wohnen gar nicht im Schloss und kommen jeden Morgen zum Unterrichten her und andere haben ihre Wohnungen drüben in dem Gebäude da." Lilly zeigt aus dem Fenster auf einen Teil des Schlosses, der aussieht, wie das ehemalige Gesindehaus. Dafür sieht es aber recht hübsch aus. Es steht einige hundert Meter vom Hauptschloss entfernt und sieht aufgrund seiner kleineren Größe irgendwie einladender aus.

„Okay, willst du dein Zimmer sehen?" Lilly sieht mich gespannt an. Ich kann nicht ganz deuten, ob sie sich darauf freut, es mir zu zeigen, weil es besser ist, als ich erwarte, oder tausend Mal schlimmer.

„Keine Sorge, du brauchst nicht so besorgt zu gucken. Wir haben hier alle Einzelzimmer und das Innenleben der Räume ist nicht mal halb so altbacken, wie sie von außen aussehen."

Sie führt mich durch einen langen Flur, an unzähligen Türen vorbei und bleibt schließlich nach einer Abbiegung vor Zimmer Nummer 176 stehen. Es scheint eine der letzten Türen zu seien.

„Du hast leider das Pech, eine der letzten zu sein, die dieses Schuljahr zu uns ans Internat kommt. Je später man kommt, desto weiter ist das Zimmer in der Regel von den Waschräumen entfernt. Es sei denn, ein Zimmer wird frei, wie im Winter, als Joanne in die Psychiatrie eingeliefert wurde und ihre Eltern sie abgemeldet haben."

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und wundere mich über den trockenen Ton. Scheint wohl so, als hätte Lilly sie nicht besonders gemocht.

„Ich bin zwar schon was länger auf dem Internat, aber ich wollte damals unbedingt dieses Zimmer, weil 166 meine alte Hausnummer in London gewesen ist. Vielleicht bin ich ein bisschen abergläubisch, aber ich habe mir eingebildet, dass mir das geholfen hat, mich hier schneller einzuleben."

Lilly zieht einen Schlüssel aus ihrem hohen weißen Strumpf und reicht ihn mir feierlich.

„Willkommen daheim", sagt sie und ich schließe die Tür auf.

Das Internat 💋Where stories live. Discover now