Erweckungsspiele

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Sechstes Kapitel

Wer die große Liebe sucht, und sie gefunden hat, und sie auch noch festhalten und im ganzen Glanz erhalten will, und sich vielleicht auch so engagiert, als wäre es eine Lebensaufgabe, muss auch damit rechnen, dass er jeden Tag den Müll wegräumen muss, damit sie weiter strahlt. 

Paul van Cre 

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„Magst meine Ava sehen?" Sina kicherte leise vor sich hin und ich wusste nicht, was ich auf die Frage antworten sollte, denn ich kannte das Wort nicht, und Wikipedia war für mich momentan nicht verfügbar. Sina sah meinen ratlosen Gesichtsausdruck und sie beantwortete hilfsbereit meine unausgesprochene Frage - die gute Seele.  

„Es ist die Stelle zwischen meinem Anus und meiner Vagina. Magst sie mal sehen?"  

Mir fehlten die Worte, denn so viel charmante Frivolität war ich nicht gewohnt. Aber dennoch war ich von der ansehendlich proportionierten und so schamlos direkten Gesellschaft mehr als nur sehr angetan. Ausserdem war ich von den virtuos-oralen und gleichzeitig aktiv-unkomplizierten Vorgehensweise meiner neuen Bekanntschaft inspiriert und voller Vorfreude auf die vielen Varianten in einer möglichen Fortsetzung. In Gedanken begann ich mir schon die Frage zu stellen, ob mir das sehr attraktive Hinterteil in dem die Figur äusserst vorteilhaft betonenden Kostüm ebenso viel Freude bereiten würde, wie ihre mündlichen Künste, denn auf diese Kombination stand ich damals ganz besonders. 

Spontan fiel mir ein uralter Kneipenreim ein, den ich vor Jahren anlässlich eines Weiterbildungsworkshops über emphatische Verhandlungsführung von einem leicht angetrunkenen und stotternden Kollegen gehört hatte.  

„Jetzt geht's rund. Erst in den Po, dann in den Mund. Dann vor der Katze mit dem Hund." Ich musste lächeln, aber er wagte nicht, das frivol Gedachte auszusprechen, denn dazu habe ich eine zu gute Kinderstube genossen. 

Als sie mich an der Rezeption eines naheliegenden Hotels mit einem verlockenden Kichern fragte: „Sag mal Honey, du hast doch bestimmt Durst. Wollen wir uns Champagner aufs Zimmer bringen lassen?", stimmte ich trotz meiner für den Monat schon über Gebühr strapazierten Kreditkarte sofort zu. An dem Abend kam es mir nicht mehr aufs Plastikgeld an, denn Visa gestattet auch Teilzahlung. Außerdem hatte ich in Erwartung des vollkommenen Kommens vollkommen verdrängt, dass ich mit allen Pflichten die ein Ehemann nun mal so hat, auch noch verheiratet war. 

Sina bestellte gleich zwei Flaschen mit der tiefsinnigen Bemerkung: „Darling, du willst doch sicher nicht, dass wir im Zimmer verdursten?" 

Ich war von der praktischen und vorausschauenden Art meiner geliebten Sina, die ich erst wenige Stunden kannte, beeindruckt und mehr dachte ich nicht, denn der weitere Verlauf der Nacht war für auch für mich mit etwas Phantasie und im grossen Rahmen vorhersehbar, aber in den Details, das muss ich zugeben, doch überraschend inspirierend. 

Sina Sidonius, alias Petra F. aus dem Heilbronner Stadteil Neckargartach konnte mehr halten, als ich mir in meinen kühnsten Träumen vorzustellen wagte. Denn Sina zeigte mir, dem in der klassischen Sprint-Variante zwar geübten und darum oft frühzeitig das Ziel erreichenden, aber in der avantgardistisch-sexuellen Kür doch sehr Unerfahrenen, das Spiel mit zwei Sektflaschen, und dass es noch andere Variationen der Genüsse unter Einbeziehung aller Körperöffnungen gab, als Champagner in der konservativen Methode aus Gläsern zu trinken.  

Angesichts der Ereignisse war mir tiefgründig-philosophisch zumute. Ich dachte an Tucholsky, der als alter Geniesser, wohl um exquisite Sinnesfreuden wissend, einmal sinngemäss gesagt haben soll: „Ein Loch ist ohne den Rand und das Ganze drum herum wenig amüsant."  

In den Sekunden, in denen mir solche Gedanken durch den Kopf schossen, merkte man mir nicht an, dass ich dabei war, den Verstand zu verlieren. Ich konnte nicht mehr zurück, denn es war mir unmöglich, die Augen noch länger vor den Realitäten zu verschließen. Ich hatte das Glück, eine weise Erzieherin des reinen Sehens gefunden und vor mir zu haben. Plötzlich wusste ich, dass ich nur die Augen öffnen musste. Aber dazu bedurfte es einer dominierenden Anweisung, ähnlich dem Schicksal eines Neugeborenen, dem man mit einem leichten Klaps auf den Po die Anweisung gibt, endlich ein Lebenszeichen von sich zu geben. Mit mir geschah ähnliches, ich konnte wieder sehen.  

Sina war eine begabte Lehrerin, die sich behutsam meines morbiden Körpers und meiner nach Sinnlichkeit lechzenden Seele annahm. Eine warme Dankbarkeit überkam mich schon beim ersten zaghaften Rendezvous in dem Moment, als sich meine Prinzipalin mit einer souveränen Bewegung eine Zigarette ansteckte. Ich war unfähig, ihr Feuer zu geben, obwohl mein über jeden Zweifel erhabenes und nachweislich gutes Benehmen selbst in prekären Situationen bekannt ist. Meine Hände zitterten zu sehr, als sie langsam auf meinem Gesicht, den ihr zustehenden Platz einnahm. Mein Verstand war wie gelähmt, und ich bewunderte, was über mir war, aber ich beurteilte es nicht. In diesem Moment war ich wieder der rebellischste Mensch der Welt.  

Ich fühlte mich wie der Rex diaboli. Sina stimmte mir da völlig zu. Sie pfiff und ich, ihr Rex kam auf allen Vieren an. In meiner Erinnerung höre ich auch heute noch ihre bestimmende Stimme, die mir „mach die Augen auf" befahl. Ich war willenlos. Wer jemals in der gleichen Situation war, kann es nachvollziehen. Wir waren ein Paar wie Blitz und Donner und die ersten gynäkologischen Tests auf meinem Gesicht waren eine Sensation. Es war die unvergessliche Champagnerprobe für den Kenner. Der Austausch unserer Körperflüssigkeiten besiegelte den glorreichen Sieg über meine Unfreiheit mit dem heißen Drink auf meine persönliche Unabhängigkeitserklärung. Ich kam und sie übernahm cool meine Gefühle. Nur noch mit ihr wollte ich in Zukunft alles erleben und nicht mehr die Augen vor der Realität verschließen. Meine Phantasie war so blind, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie sich dieses geliebte Wesen im Alltag an meiner Seite verhalten würde. In meiner vernebelten Vorstellungskraft war es undenkbar, dass sich sogar Göttinnen im Alltag verändern.  

Als sie über mir war, wollte ich voller Lust hinausschreien: „Das Leben zieht nicht mehr an mir vorbei. Das nasspralle Leben setzt sich endlich auf mein Gesicht." 

Aber es gelang mir nur ein erstickter Laut, denn mit vollem Mund blieb mir nichts anderes übrig als das Gegebene zu nehmen und zu schlucken.  

Ich muss zugeben, ich war begeistert, denn solche Experimente wagte (oder kannte) selbst meine erfahrene, aber in der letzten Zeit doch zunehmend lähmend routinierte und wohl durch zu viel Vertrauen in das Bewährte sich nicht weiterbildende Jugendfreundin Viola nicht. Mit meinem Gesicht zwischen Sinas Schenkeln begriff ich endlich die Idee der Freiheit als das höchste und erstrebenswerteste Gut der Menschheit und des Mannes. Endlich war meine revolutionäre Kraft zurückgekehrt. Ich konnte wieder zwischen den Alternativen wählen, die den echten Mann von den Jungs unterscheidet. 

Sina verließ mich am frühen Morgen, nicht ohne mich noch einmal gekonnt mundmäßig zu verwöhnen. Nach einem ausgiebigen Frühstück im Continental-Style entschloss ich mich zu einem kleinen Stadtbummel und genehmigte mir dann ein Mietfahrzeug der Mittelklasse. Es war schon früher Nachmittag, als ich wie in Trance, mit weichen Knien und immer noch leichten Schmerzen in den Testikeln, aber ohne Gewissensqualen gemächlich, aber mit lauter Musik zurück ins heimatliche Sindelfingen zu meiner Frau und meinen Hypotheken fuhr. In Gedanken war ich bei meiner göttlichen Sina mit ihren höllischen Ideen, von denen ich bis zum Vortag nicht gewusst hatte, dass es sie gab, und die ich nicht mehr missen wollte. Ich hatte in dieser Nacht viel gelernt, aber die für mich wichtigste Erkenntnis war, dass es einen gravierenden Unterschied zwischen einem Heiligen und einem Sünder gibt. Ein Heilige hat eine Vergangenheit, aber keine erstrebenswerte Zukunft, jedenfalls nicht zu seinen Lebzeiten. Nur der Sünder hat eine Zukunft, für die es sich lohnt zu leben.  

Das erste Mal seit vielen Jahren war ich mir hundertprozentig sicher. Im Leben gibt es Dinge, die für die Nachkommen aufbewahrt werden müssen. Es ist doch sinnlos, dass etwas geschieht, wenn niemand davon erfährt. Was mir in der letzten Nacht geschehen ist, bekommt nur einen tieferen Sinn, wenn spätere Generationen davon erfahren und daraus lernen können. Ich muss gelegentlich die Erfolgsgeschichte eines Gewinners, meine Geschichte schreiben. Das wird garantiert ein Bestseller.  

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MIDLIFE CRISISWo Geschichten leben. Entdecke jetzt