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Weit nach Mittag des nächsten Tages erwachte Lysande. Sie tappte mit bloßen Füßen in die Küche, wo sie mechanisch den Herd anfeuerte und danach eine gußeiserne Wasserkanne auf eine der Metallplatten stellte. Nun stieg sie die wenigen Stufen zur Luke hinauf, durch die sie auf einen kleinen Dachgarten kam, den ihr der Vermieter der Wohnung als Draufgabe zur Verfügung gestellt hatte. Natürlich war dies kein so gepflegter Dachgarten wie die anderen, die ringsum auf den Häusern zu sehen waren. Ihrer glich eher einer Miniaturausgabe eines Urwalds, denn weder hatte sie die Zeit, den Garten zu kultivieren, noch machte sie sich viel aus in Töpfen gezüchteten Blumen. Sie betrachtete lieber alle Pflanzen in ihren natürlichen Lebensräumen und konnte sich an Wiesen und Wäldern immer wieder mehr erfreuen, als an Blumensträußen in Vasen.

Nachdem sie sich einen Weg zu der einzigen Sitzbank hier heroben gebahnt hatte, ließ sie sich seufzend darauf nieder und schob mit den Zehen welkes Laub zusammen, welches von einem ehemals wohl als Zierstrauch bezeichneten Gebilde zu Boden gerieselt war. Noch hatte die Sonne Kraft, doch der nahende Monat Herdfeuer schickte bereits seine Vorboten in Form von zuweilen kühlen Winden, die über die Kaiserstadt hinwegstrichen. Lysande, die ein weißes Leinennachthemd trug, beugte sich ein wenig vor und legte das Gesicht in ihre Handflächen. Der gestrige Abend saß ihr schwer in den Knochen; zumindest lag nun eine Aufgabe vor ihr. Seit Minselis Tod hatte sie nichts mehr berührt, weder die lange Heimreise nach Cyrodiil (die überraschend ereignislos verlaufen war), noch das Wiedersehen mit ihren Eltern. Einzig auf Octavus und die anderen Mitglieder der Gesellschaft hatte sie sich gefreut und nun...

Ob Octavus letztendlich verstand, warum sie das getan hatte? Ob er sich Regnus' Willen beugen würde? Regnus...

Lysande dachte an die erste Begegnung mit jenem Mann zurück, die jetzt bereits fast fünf Jahre zurücklag. Es war knapp nach der Trennung von Camilla gewesen, als sie ihn das erste Mal sah. Er hatte einfach in ihrer Wohnung gesessen, in dem kleinen Zimmer, das ihr als Wohn/Schlafraum diente und das fast ausschließlich mit Büchern und Pergamenten angeräumt war. Dazwischen kämpften mühselig einige Kleider und sonstige Gewandstücke um ein wenig Lebensraum, doch dieser Kampf war bestenfalls als aussichtslos zu bezeichnen. Sogar die Küche war mit Folianten und Plänen vollgestopft, die Grundrisse von Ayleid-Ruinen zeigten oder Stammbäume von berühmten Königen...

Bei diesem Gedanken angekommen, sprang Lysande auf und raste durch die Luke nach unten, wo sie sich durch Dampfwolken kämpfen mußte, um in die Küche zu gelangen. Mit einem Ruck zog sie den verzweifelt pfeifenden Wasserkessel von der Herdplatte, wobei sie sich die Finger verbrannte und dabei „Hols doch der...!" rief. Sie riß das schmale Küchenfenster auf und atmete rasch die frische Luft ein, die in die völlig verrauchte Küche drang, dann stützte sie sich am Fensterrahmen ab und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie konnte sich nicht einmal mehr einen Tee zubereiten, Octavus wollte sie am liebsten nicht mehr sehen und Regnus schickte sie nach Himmelsrand. Letztendlich war es egal, wohin sie sich wandte, Minseli fehlte ihr; als sie — viel zu früh - gegangen war, hatte sie die Farbe aus Lysandes Leben mitgenommen. Alles was dieses Leben ausgemacht hatte, die Kaiserliche Archäologische Gesellschaft, der Orden Alessias... alles schien bedeutungslos geworden zu sein. Die Altmer wollten Tamriel? Dann sollten sie es doch nehmen, denn das Wichtigste auf diesem Kontinent gab es nicht mehr — ihre Geliebte. Mit Camilla hatte sie eine Art Haßliebe verbunden, doch als sie Minseli das erste Mal sah, zwei Tage nach ihrer Ankunft in Gramfeste, beim Eingang von Bamz-Amschend, da war es um sie geschehen gewesen. Und jetzt...

Ein Klopfen an der Tür riß sie aus ihren trüben Gedanken, sie schlurfte durch den wie üblich vollkommen unaufgeräumten Wohnbereich und öffnete. Draussen stand Regnus, der ihr ein spöttisches Lächeln schenkte.

„Hallo, erwartest du... einen Verehrer?"

Während Lysande ihn mit Unverständnis im Blick anstarrte, registrierte der Mann ihre verweinten Augen und schob sich an ihr vorbei ins Zimmer.

Der Orden von AlessiaWhere stories live. Discover now