3. Kapitel

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Als ich aus dem Auto stieg und die raue Winterluft einatmete, wurde mir erst bewusst, dass ich mich gerade tatsächlich 800 Meilen von meiner Tante und meinem derzeitigen Zuhause entfernt befand. Und doch fühlte ich mich hier mehr zuhause, als ich es in einer anderen Stadt je getan hatte. Immerhin hatte ich hier sieben Jahre meines Lebens verbracht.
Ich blickte mich um und stellte fest, dass wir uns irgendwo am Rande der Stadt aufhielten. Da es auch noch relativ früh sein musste und heute zudem Sonntag war, war die ganze Straße menschenleer.
Die meisten der abgelegenen Häuser standen noch immer zum Verkauf aus.
Plötzlich stach mir etwas ins Auge, das mir gänzlich unbekannt vorkam.
Es handelte sich dabei um einen großen Schacht, der den Blick auf eine morsche Holztreppe freigab, die unter die Erde zu führen schien. Bei genauerem Hinsehen meinte ich Schienen in der Dunkelheit dort unten ausmachen zu können.
Sofía gesellte sich zu mir.
"Da wären wir", stellte sie mit einem zufriedenen Grinsen fest.
"Was?", fragte ich verwundert. "Hier? Du willst doch nicht etwa... da runter?"
"Oh doch", antwortete sie, während sie sich ihren hellblauen Schal umband.
Ehe ich etwas erwidern konnte, war Sofía bereits dabei, die Treppe hinabzusteigen. Ich folgte ihr in die Dunkelheit.
Da ich kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte, kramte ich in meiner Tasche nach meinem Handy. Sofía kam mir jedoch zuvor. Als der Strahl ihrer Taschenlampe das alte Gewölbe ein wenig erhellte, schauderte ich.
Hier war eindeutig seit sehr langer Zeit niemand mehr gewesen und es hätte mich nicht gewundert ein Skelett zwischen den alten Gleisen zu entdecken.
Sofía lief neben den Schienen entlang und immer tiefer hinein in den alten Tunnel. Ich sah mich weiter um und erkannte etwas, das anscheinend einmal eine Untergrund-Haltestelle gewesen war. Fasziniert betrachtete ich die Halterungen an den Wänden, die vermutlich früher für Fackeln oder Petroleumlampen gedacht waren.
"Kommst du?", rief Sofía und ihre Stimme hallte im Tunnel wieder.
Ich riss mich aus meiner Starre und schloss schnell zu ihr auf.
Sofía stand vor einer alten Holztür, die in die Wand des Tunnels eingelassen war und irgendwie fehl am Platz wirkte.
Auf der Tür befand sich ein Schild mit der leicht verblassten Aufschrift 'Welcome to Salem Underground'.
Als sich der Schriftzug plötzlich vor meinen Augen zu verändern begann, machte ich erschrocken einen Schritt zurück.
Statt Underground stand nun Underworld auf dem hölzernen Schild. "Unterwelt...?", las ich irritiert vor. "Hast du deswegen gesagt, ich wäre aus der Oberwelt?"
Sofía nickte. "Richtig. Die wenigsten Unterweltler verlassen jemals die Unterwelt."
Meine Augen weiteten sich.
"Das heißt ihr habt eure eigene Zivilisation... unter der Erde?!", fragte ich und lachte. Das wurde ja immer seltsamer!
"Naja, nicht direkt unter der Erde", antwortete sie und warf mir einen letzten eingehenden Blick zu, bevor sie die Tür öffnete und den Blick auf eine riesige Stadt freigab.
Als ich durch die Holztür hindurch trat und mich umblickte, wurde mir klar, dass wir uns auf einem großen Hügel befanden, der an einen endlos scheinenden Wald angrenzte. Hinter uns war bloß eine alte Scheune zu sehen, über deren Tür die Worte 'Zutritt ohne Genehmigung verboten' prangten.
Vor uns lagen die schier unendlich wirkenden Weiten eines Landes, oder besser gesagt einer eigenen Welt, von der ich bisher noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte.
"Das ist unglaublich", hauchte ich, während mein Blick über die vielen, in bunten Farben schillernden Gebäude wanderte. Alles wirkte größer und intensiver, als in der Welt, die ich kannte.
Der Anblick der Stadt, wie sie sich majestätisch aus dem Erdboden erhob, ließ keinen Zweifel mehr daran, dass dies real sein musste.
Mein Blick wanderte über die vielen Straßen, Parks und riesigen Gebäude. Ich entdeckte einige Autos, aber auch ein paar seltsam aussehende Verkehrsmittel, die wirkten, als kämen sie aus einer hochtechnisierten Zukunft.
Das Herz der Stadt bildete eine Art moderne Burg, die im Licht der aufgehenden Sonne in jeglichen Rot- und Orangetönen schimmerte.
Vor den Toren der Burg standen mehrere große Brunnen, die statt Wasser einen feurigen Nebel in die Luft sprühten.
"Das ist das Anwesen der Firestone's", erklärte Sofía, die anscheinend meinem Blick gefolgt war, ehrfürchtig.
"Sie sind seit Langem eine der mächtigsten Familien der ganzen Unterwelt. Lady Firestone ist die derzeitige Herrscherin von Salem und somit eine Art Berühmtheit bei uns."
Ich hob grinsend eine Augenbraue.
"Herrscherin?"
Sofía lächelte ein wenig verlegen.
"Klingt ganz schön hochtrabend, ich weiß. Aber in vielen Reichen der Unterwelt ist das eine tief verwurzelte Tradition.
Es gibt allerdings auch Gebiete mit mehreren Herrschern oder sogar mit Wahlen, wie es bei euch in der Oberwelt üblich ist."
Lachend zuckte ich die Schultern.
"Trotzdem eine etwas altmodische Weltanschauung, oder?"
"Mag sein", gab sie zurück.
Nachdem ich noch einige Minuten lang meinen Blick fasziniert über die gewaltige Stadt schweifen ließ, zog Sofía mich sanft weiter.
"Wenn du wieder rechtzeitig zuhause sein willst, sollten wir jetzt weiter", erklärte sie. "Aber ich bin sicher, dir werden sich noch einige Gelegenheiten bieten, Salem zu erkunden."
Ich nickte und folgte ihr in den Wald.
Der schmale erdige Weg, ging nach und nach in eine breite, gepflasterte Straße über. Um uns herum standen die Bäume dicht an dicht, sodass nur zwischen den einzelnen Baumkronen etwas Licht hereinfiel.
Ich hörte die Geräusche einiger Vögel und weit entfernt ein tiefes Knurren, von dem ich lieber nicht wissen wollte, wer oder besser gesagt was es verursachte.
Irgendwann huschte etwas kleines Blaues durch das Gebüsch. Doch bevor ich herausfinden konnte, was es war, wurde meine Aufmerksamkeit schon von etwas anderem erregt.
Vor uns stieg die Straße ein wenig an und war an den Seiten von niedrigen Steinmauern umgeben. Der Wald begann sich zu lichtete und gab den Blick auf eine riesige Mauer frei, hinter der mehrere hohe Türme aufragten.
Als Sofía vor die in die Mauer eingelassenen, gigantische Holztür trat, erschien auf dem Holz ein Bildschirm, aus dem ein hellblauer Lichtstrahl direkt auf Sofías rechtes Auge fiel.
Wenige Sekunden später ertönte ein leises Surren, während auf dem Bildschirm die Worte 'Iris-Scan abgeschlossen. Zugang gewährt.' erschienen. Dann öffneten sich die Flügeltüren mit einem lauten, metallischen Klicken und ließen uns eintreten.
Überwältigt blickte ich an der imposanten Festung hoch, die uns hinter den hohen Steinmauern erwartete.
"Und das ist die Akademie? Hier geht ihr zur Schule?", fragte ich beeindruckt, woraufhin Sofía nickte und zum Eingang der Festung marschierte.
Eine weitere große Flügeltür mit Rundbogen, umgeben von mehreren steinernen Wasserspeiern, diente als Eintrittspforte zur Akademie.
Noch bevor Sofía dazu kam, die Tür zu öffnen, wurde diese von innen aufgemacht. Ein dunkelhaariger, erstaunlich durchtrainierter Mann mittleren Alters stand uns gegenüber und schenkte mir ein herzliches Lächeln.
"Du musst Aline Blackwell sein. Schön dich kennenzulernen", sagte er mit einer ruhigen, kräftigen Stimme.
"Ich bin Harry. Kampftrainer der Akademie."
Ich lächelte höflich. "Sehr erfreut"
Harry bedeutete uns mit einer Handbewegung, dass wir eintreten und ihm folgen sollten.
Überwältigt von der ungeheuren Eingangshalle, die wie eine viel größere und etwas altmodischere Version meiner Schulmensa wirkte, blieb ich nach einigen Metern stehen.
"Immer noch ziemlich eindrucksvoll, oder?", fragte Harry grinsend.
"Obwohl diese Gemäuer schon mehrere Jahrhunderte alt sind..."
Staunend folgte ich ihm und Sofía durch die Korridore der Akademie.
Als wir einen mit grünen Mosaiksteinchen besetzten Torbogen erreichten, blieben die beiden stehen.
"Das hier ist der Flügel der Eunomia", erklärte Sofía und trat durch den Torbogen hindurch in ein rundes Zimmer, welches an den Wänden und an der Decke ebenfalls mit künstlerischen Mosaiken geschmückt war. Die Mosaike stellten Menschen und Fabelwesen dar und schienen Geschichten über Magie und Heldentum zu erzählen.
Am Ende des Zimmers befanden sich mehrere Abzweigungen, die in weitere Räume führten.
"Hier geht es zu den Schlafzimmern", erklärte Sofía und nahm dann die mittlere der Abzweigungen, während sie fortfuhr: "Und das hier gehört ebenfalls zu den Räumlichkeiten der Eunomia"
Am Ende des Ganges trat sie zur Seite und ließ den Blick auf einen kleinen Innenhof frei, in dessen Mitte sich ein steinerner Pavillon befand. Der Pavillon wurde von weißen Säulen gestützt, und war über und über mit Efeu bedeckt.
Einige Büsche waren in kunstvollen Skulpturen verwandelt worden und verliehen dem Innenhof etwas mystisches. Im hinteren Teil des Innenhofes ragte die kupferne Figur einer jungen Frau mit verbundenen Augen auf. In ihrer einen Hand hielt sie eine Waagschale, die sich im perfekten Gleichgewicht befand, in der anderen ein Schwert.
"Die römische Göttin der Gerechtigkeit, oder?", fragte ich Sofía.
Sie nickte. "Genau. Die Waagschale ist außerdem das Symbol der Eunomia"
Nachdenklich betrachtete ich die Statue und fragte mich, was mir daran so bekannt vorkam. Doch diese Erkenntnis sollte mir wohl erst einmal verwehrt bleiben.

Academy of Salem Kde žijí příběhy. Začni objevovat