Ich lebte nun in einer kleinen Wohnung mit mehreren Mitbewohnern, die mir aber alle recht sympatisch waren. Obwohl wir an einer größeren Straße wohnten, konnte ich nachts besser schlafen als je zuvor in meinem Leben. Meine Freunde fragten mich oft, wieso mich der Verkehrslärm so wenig störte, und ich erzählte ihnen dann von der Wand bei mir zu Hause, in meinem alten Kinderzimmer. Meine Freunde fanden das immer ziemlich krass, oder viele lachten auch darüber. Sie nannten mich die'Frettchen-Flüsterin', oder ähnliche Namen. Ich dachte ansonsten aber nicht mehr viel an die Wand. Sie war ein ganz normaler Teil meines Lebens gewesen. Wenn ich jedoch mal für ein Wochenende zurück nach Hause kam, fiel mir das Kratzen immer ganz von neuem auf, und kam mir lauter vor, als ich es in Erinnerung gehabt hatte.


Eines Tages bekam ich überraschend einen Anruf meiner Mutter. Sie rufte mich normalerweise immer abends an, und meistens erst, nachdem sie sich vorher angekündigt hatte. Deshalb verwunderte es mich, ihren Namen auf dem Handybildschirm zu lesen.


„Du musst nach Hause kommen, Luisa.", sagte sie, und ihre Stimme klang angespannt, und höher als sonst. So, als wollte sie Panik unterdrücken, und gefasster klingen als sie eigentlich war.


„Was?", fragte ich erschrocken, „Mama, ich versteh dich gerade schlecht, ist etwas laut hier... Was hast du gesagt? Ist was passiert?"


„Komm einfach! Komm solbald du kannst nach Hause Kind! Versprich mir das!"


Dann legte sie auf, und ich verstand die Welt nicht mehr.


Als ich nach Hause kam, standen mehrere Polizeiautos vor unserem Haus. Alles war mit Absperrbändern markiert. Und mehrere Polizisten standen im Vorgarten, es sah aus, als berieten sie sich, oder unterhielten sich über etwas sehr Ernstes, oder so. Ich bekam unglaubliche Panik.


Was war passiert?! Was, wenn meinem Vater etwas zugestoßen war? Mama hatte geklungen, als wäre irgendetwas absolut grauenhaftes geschehen.


Erst überlegte ich, die Polizisten direkt anzusprechen, zu fragen, was sie hier machten. Aber ich wollte erst rein gehen und sehen, wer da war. Ob es meinem Vater gut ging, ob meine Mutter hier war und Hilfe brauchte. Und wenn nicht, dann wollte ich in der Lage sein, sie anzurufen. Mein Telefon war fast komplett leer, und mein zweites Ladekabel befand sich in meinem Zimmer. Also beschloss ich, unauffällig durch die Hintertür das Haus zu betreten.


Als ich den Flur zu meinem Zimmerjedoch erreicht hatte, traf mich der Schock. Einen Moment lang stand ich nur wie angewurzelt da, und starrte auf das Loch. Das Loch neben meinem Zimmer, von Polizei-Sperrbändern bedeckt. Zu einer Seite des Lochs befand sich der riesige Bilderrahmen mit vielen von Papas alten Familienfotos, der dort schon so lange ich denken konnte gehangen hatte. Doch nun war er halb zur Seite geklappt, und ich konnte sehen, dass er wie eine halbgroße Tür den Metallrahmen verdeckt hatte, der um das Loch herum befestigt war. Als ich näher trat, traf mich erneut der Schlag.


Da war ein Bunker, neben meinem Zimmer.

Mit dicken Wänden, und einem Gestank von Innen, der mir fast den Atem verschlug. Das Zimmer neben meinem Zimmer war zu klein, um sich wirklich ein Zimmer zu nennen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es da war. Aber da war es.


In diesem Moment packte mich eine Hand an der Schulter. Ich fuhr herum.


Einer der Polizisten hatte mich entdeckt, und brachte mich auf die Polizeistation, auf der meine Mutter bereits wartete. Sie war bleicher als der Tod, und ihre Augen waren glasig wie voll ungeweinter Tränen. Ich erfuhr jetzt, was mit meinem Vater passiert war. Und auch, wo das Kratzen in all den Jahren hergekommen war. Seit über dreißig Jahren, seit er in meinem Alter gewesen war, hatte mein Vater Menschen entführt und gefoltert. Er war ein Serienmörder, ein Geisteskranker. Er hatte unser Haus schon lange vor meiner Geburt besessen, Jahre, bevor meine Eltern geheiratet hatten, wie ich wusste. Er hatte uns nie von dem Zimmer erzählt, weil er nicht genau gewusst hatte, ob er je wieder krankhafte Begierden entwickeln würde, so wie er sie als junger Mann gehabt hatte. Für ein paar Jahre hatte er ein normales Leben führen wollen, wie er der Polizei erklärt hatte. Aber irgendwann ergab sich eine Gelegenheit, wieder jemandem etwas an zu tun. Also tat er es.


Bis heute verstehe ich nicht, wie ich meinen Vater mein komplettes Leben lang so misskennen konnte. Wie es sein kann, dass der Mann, der mich groß gezogen hat und dem ich vertraute, jahrelang Menschen in das Zimmer neben meinem brachte, um sie dort aufzuhängen und zu töten. Manchmal wache ich nachts auf und glaube das alles noch immer nicht... Manchmal wache ich nachts auf, und glaube, wieder das Kratzen hinter der Wand zu hören. Und dann fürchte ich mich, weil ich diesen Menschen all die Zeit lang so nahum mich hatte, und schäme mich, weil ich das Kratzen niemals als jemandes Hilfeschrei wahrgenommen, sondern es immer ausgeblendet hatte.


Ich fand später heraus, dass die andere Seite meiner Zimmerwand voller letzter Worte und Botschaften war. „Ich liebe euch, Anna und Marie.", „Vergesst mich nicht!", und all solcher Sachen. Alle möglichen Zahlen und Buchstaben, die so viel bedeutet haben mussten. Für mich waren sie nur gruselige Geräusche gewesen, Eichhörnchen.


Ich habe meinen Vater nicht mehr wiedergesehen. Bald will ich ihn zum ersten Mal im Gefängnis besuchen. Ich fürchte mich vor ihm, vor dem Menschen, den ich in ihm sehen werde. Aber ich will damit abschließen, mit allem was passiert ist. Nie wieder will ich hinter einer Wand voller Ungeheuer leben. Nie wieder will ich mich vor dem fürchten, was direkt neben mir geschieht.


- Ende. -

Halloween Countdown 5 - Rückkehr in die Finsternisजहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें