Ich hasse ihn. Wenn ich stärker wäre, dann hätte ich ihn schon längst zusammengeschlagen. Aber das bin ich nicht. Das Leben ist verdammt ungerecht.

»Serkan, sei ruhig jetzt. Du würdest auch nicht wollen, dass man über dich lacht.« In diesem Moment tue ich etwas, das eigentlich gar nicht meine Art ist: Ich gebe auf. Ich nehme meine Karteikarten, die ich die ganze Zeit vor Aufregung zusammengedrückt habe, und reiche sie meiner Lehrerin. Leise sage ich: »V-Vielleicht können Sie's ja g-gesondert b-benoten. Oder g-geben mir n-ne Sechs. Is e-egal.«

Ohne ein weiteres Wort gehe ich mit hängenden Schultern zu meinem Platz, während jeder im Raum mich anstarrt. Ich bin gescheitert. Ich bücke mich vor einer Gesellschaft voller intoleranter Arschlöcher und sage ihnen nicht mal, wie scheiße sie sind.

Meine Lehrerin sieht mich einen Moment lang nachdenklich an, ehe sie aufspringt und mit besonders motivierter Stimme sagt: »Dann machen wir mal mit dem Unterricht weiter. Der Luftbrücke in Berlin. Wer hat schon etwas davon gehört?«

Ein paar melden sich und wieder einmal wird mir bewusst, wie unglaublich leicht das Sprechen für andere ist. Egal, wie dumm sie doch sind. Es ist wirklich zum Kotzen. Ich weiß, dass meine Präsentation gut war. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Ich wollte etwas Gutes daraus machen. Es hat mich ja auch interessiert, verdammte Scheiße. Aber das zählt alles nicht, weil sie nur Menschen wollen, die perfekt in die Gesellschaft passen. Die keine Fehler haben. Die nicht länger brauchen, weil sie es nicht anders können.

Ich will als erster nach draußen stürmen. Meine Lehrerin hält mich zurück. »Vincent, warte einen Moment.« Fragend sehe ich sie an, während sich die anderen grob an mir vorbeidrücken. Als das Klassenzimmer sich geleert hat, bedeutet sie mir, auf den Platz vor dem Pult zu sitzen. Ich tue es und nestele an dem Saum meines Bandshirts herum. Anti-Flag. Die Musik gibt mir Halt. Dort werde ich akzeptiert. »War es die Aufregung?« Sie setzt eine verständnisvolle Miene auf.

Ich zucke nur mit den Schultern und hoffe, dass sie mich bald entlässt. Für so eine Grundsatzdiskussion habe ich jetzt echt keine Energie mehr, nicht nach diesem Tag. Ich möchte nach Hause.

»Vincent, so leid es mir auch tut, du musst wissen, dass ich dich nicht anders behandeln kann wie deine Mitschüler. Du musst die gleichen Leistungen wie sie erzielen, wenn du das Abitur schaffen möchtest.«

Ich zucke mit den Schultern. Weiß ich doch alles. Sie sieht mich einen Moment lang an. »Und das willst du doch, oder?« Wieder zucke ich mit den Schultern. Eigentlich will ich nur von all diesen Menschen in Ruhe gelassen zu werden, die meinen, sie wissen, was gut für mich ist.

»Ich halte dich für einen intelligenten Jungen. Deine schriftlichen Leistungen, vor allem in den technischen Fächern, sind nicht im Entferntesten zu beanstanden. Deine Rechtschreibung lässt zwar zu wünschen übrig, aber Vincent, in dir steckt Potential. Aber in keinem Fach beteiligst du dich mündlich, lässt dir für Referate lieber eine Sechs geben anstatt sie zu halten. Vincent, du bist nicht stumm. Du kannst sprechen. Lass dir nicht alles von deinem Stottern kaputtmachen.«

Ich zucke abermals mit den Schultern. Was soll ich darauf schon entgegnen? Heute habe ich es wirklich versucht. Ich wollte sprechen. Ich wollte mich vor die Klasse stellen und diesen gottverdammten Vortrag halten, für den ich solange geübt habe. Aber ich schaffe es nicht, solange ich für jedes Wort verurteilt werde. Es liegt doch nicht an mir, wenn man mich nicht ausreden lässt!

»Wenn ich dir einen gutgemeinten Ratschlag geben kann: Hör auf damit, dich vor allen verschließen. Du grenzt dich selbst aus. Sie sind nicht gegen dich. Ein nettes Wort oder ein kleines Lächeln kann manchmal viel bewirken. Dann verlierst du vielleicht auch deine Angst, vor der Klasse zu sprechen.« Sie lächelt mich an.

Ich erwidere es nicht, sondern balle unter dem Tisch meine Fäuste. Das sieht sie nicht, sondern nur, wie ich sie unverwandt anstarre. Ich würde niemals einen Schritt auf eben jene Arschlöcher zumachen, allerhöchstens um ihnen in die Eier zu treten. Aber das würde ich mich eh nicht trauen.

»S-Sie m-meinen also, d-das Problem l-liegt d- darin, d-d-dass ich Punk b-bin?«, spreche ich das Offensichtliche an und streiche mir eine der blau gefärbten Strähnen aus der Stirn.

Sie seufzt. »So will ich das nicht sagen. Ich meine nur, dass du nicht erwarten kannst, dass du in die Klasse integriert wird, wenn von dir keine Initiative ausgeht, sondern du dich gegen alles richtet. Und das ist es doch, was Punk bedeutet?«

Ich schüttele mit dem Kopf und sie erwartet, dass auch eine Antwort kommt, aber ich liefere sie nicht.

»Ich wollte dich damit nicht beleidigen, ich möchte dir nur helfen. Du musst dich auch mal in die Lage der an‐ dern versetzen. Es ist nun mal nicht leicht an jemanden ranzukommen, von dem nie eine Reaktion kommt, der sich auch noch durch seine Kleidung abgrenzt.«

»Mit M-Menschen, die m-m-mich nicht akzeptieren, w- wie ich b-bin, will ich auch n-nichts zu tun haben.« Ich sehe sie an. Wieder seufzt sie. Dann stehe ich auf und gehe.

Von Helden und VerlierernWhere stories live. Discover now