Liebeskummer

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Etwa planlos lief Asahi durch die Straßen von Miyagi, die Augen auf sein Smartphone gerichtet und sich immer wieder umschauend. Trotz Handy-Navigation hatte er die leise Befürchtung, die ganze Zeit im Kreis zu laufen. Dabei war er sich sicher, die Adresse richtig eingegeben zu haben. Dachte er zumindest.
Es war ein milder Herbsttag und die Ahornbäume erstrahlten wie jedes Jahr im roten Glanz. Am Himmel zogen fluffige Schäfchenwolken und es war für die Jahreszeit immer noch angenehm warm. Asahi war trotzdem froh, wegen des frischen Windes eine leichte Jacke angezogen zu haben.

Es kam nicht oft vor, dass Asahi Nishinoya zu Hause besuchte. Klar, die zwei waren Partner auf dem Spielfeld, hatten schon einiges zusammen durchgemacht und man konnte sagen, dass sie gute Freunde waren, auch wenn sie völlig unterschiedliche Interessen hatten. Letzteres war wohl auch der Hauptgrund dafür, dass Nishinoya weitaus mehr Zeit mit Tanaka verbrachte, als mit ihm oder irgendwem anders. Umso überraschter war Asahi, als eines Sonntag Nachmittags sein Handy klingelte und er den Namen seinen Teamkameraden auf dem Display erblickte. Er war natürlich sofort rangegangen. Es könnte ja was Wichtiges sein. Vielleicht war Noya beim Versuch seinen "Rolling Thunder" zu üben die Treppe runtergefallen und hatte sich den Arm gebrochen. Vielleicht wurde er von einem Hund gebissen und brauchte jetzt eine Notfall-Tollwutimpfung. Wobei es in beiden Fällen wohl sinnvoller gewesen wäre, einen Arzt zu rufen. Oder noch schlimmer, er wurde entführt und irgendwo gefangen gehalten und hatte nur noch wenige Zeit zu leben. Okay, das war vielleicht etwas übertrieben. Trotzdem wollte sich Asahi gar nicht ausmalen, was alles hätte passiert sein können. Nishinoya tat auch leider nichts um seine Paranoia zu lindern, stattdessen gab er ihm nur die Information, dass er allein war und jemanden zum Reden brauchte, also wenigstens nicht entführt wurde. Auf die Nachfrage, was denn los sei, antwortete er gar nicht erst. Asahi hatte ihm angeboten zu ihm nach Hause zu kommen, da Nishinoya scheinbar persönlich mit ihm reden wollte.

So kam es dazu, dass Asahi sich mit Handy und Schlüssel bewaffnet, auf den Weg zu dem Haus machte, in dem Noya mit seiner Familie wohnte. Er wohnte nicht weit weg, vielleicht knapp einen Kilometer zu laufen. Leider hatte Asahi einen miserablen Orientierungssinn, doch sich die Blöße geben und Noya noch einmal anzurufen, das wollte er dann auch wieder nicht. Die Adresse musste reichen. So brauchte er die doppelte Zeit bis er endlich vor seiner Haustür stand und auf den Klingelknopf mit dem Namen "Nishinoya" drückte.

Es dauerte nicht lange, bis sein Freund an der Tür erschien und selbige aufriss, als hätte er ewig auf ihn gewartet. Vielleicht kam es ihm auch so lange vor.
"Jo, Asahi! Du bist aber spät.", begrüßte er ihn mit seinem typischen Grinsen, welches heute irgendwie müder wirkte als sonst. Er hatte normale Freizeitklamotten an und seine Haare waren ungestylt, was ihn gegen Asahi noch kleiner wirken ließ. Es war ungewohnt ihn so zu sehen, aber im Großen und Ganzen schien mit ihm alles in Ordnung zu sein. Zumindest körperlich.

"Komm rein, ich hab ne' DVD eingelegt!", forderte er ihn auf und machte sich auf den Weg zu dem Zimmer, aus dem bereits Soundeffekte aus einem Actionfilm drangen. Asahi folgte ihm schweigend aber nicht ohne sich über die Umstände zu wundern. Hatte Noya ihn nur herbestellt um mit ihm Filme zu gucken? Das hätte er ja auch gleich am Handy sagen können, dann hätte er sich nicht solche Sorgen gemacht.
"Meine Eltern sind dieses Wochenende zu Besuch bei Freunden, ich hab also sturmfrei und kann machen was ich will.", meinte er mit einem zufriedenen Lächeln. Ob mit "machen was ich will" gemeint war, dass er vorhatte eine wilde Party zu schmeißen oder das Haus zu zerlegen, war Asahi nicht ganz klar. Noya kletterte über die Armlehne aufs Sofa und griff sich die Fernbedienung, um die eh schon hohe Lautstärke des Fernsehers noch höher zu drehen. Asahi nahm mehr oder weniger widerwillig neben ihm Platz. Actionfilme waren eigentlich überhaupt nicht sein Ding. Er mochte Filme mit etwas weniger Mord und Totschlag lieber, aber er wollte auch kein schlechter Gast sein und Nishinoya den Spaß verderben.

Sie verbrachten vielleicht eine halbe Stunde damit den Film zu gucken, doch Asahi fiel schon nach etwa 10 Minuten auf, dass Noya nicht richtig bei der Sache war. Er war irgendwie unkonzentriert und schien von Minute zu Minute unzufriedener zu werden.
"Alles in Ordnung mit dir?", fragte Asahi nach einiger Zeit während im Fernsehen gerade einer der riesigen Roboter eine ganze Stadt zerstörte und Menschen am Schreien und Sterben waren.
"Was soll denn sein?", stellte Nishinoya die Gegenfrage und wandte sich demonstrativ dem Bildschirm zu, als müsste er sich dazu zwingen überhaupt hinzuschauen. Dabei liebte er solche Filme normalerweise. Er hatte schon beim Training oft davon erzählt, wie großartig der neueste Actionfilm war, den er sich zusammen mit Tanaka im Kino angesehen hatte. Einmal waren die beiden wohl während einer Vorführung so ausgerastet, dass sie vom Servicepersonal aus dem Saal geschmissen wurden, wegen der Lautstärke. Die Information hatte er aber auch nur von Suga, der an dem Tag zufällig im selben Kino war. Anscheinend hatten sie auch jemanden (Oikawa?) mit Popcorn beworfen, aber er wusste nicht, was davon jetzt wahr und was nur Gerüchte waren, da die beiden konsequent alles abstritten. Jedenfalls hatten sie immer viel Spaß zusammen und Asahi wunderte sich, dass Noya nicht Tanaka zu sich eingeladen hatte, wo der doch viel mehr für solche Filme übrig hatte.

Tanaka...Irgendwas war zwischen ihnen vorgefallen. Als hätte Noya es geahnt, griff er in dem Moment nach der Fernbedienung, um den Film auf stumm zu schalten. Mit einem genervten Seufzen lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Film lief immer noch, aber er schenkte ihm keine Beachtung mehr.
"Ich dachte meinen Lieblingsfilm zu gucken würde mich ablenken, aber irgendwie haut das nicht hin. So eine Scheiße!", schimpfte er und verzog das Gesicht, "Das ist doch alles total lächerlich."
"Wenn du darüber reden willst, ich bin da. Immerhin hast du mich ja deswegen herbestellt.", erinnerte ihn Asahi an seinen Anruf. Nishinoya schaute ihn mit großen Augen an und wirkte in dem Moment trotz seiner offensichtlicher Frustration irgendwie verletzlich.
"Es ist was Blödes.", meinte der Kleinere nur und nahm sich ein Sofakissen um etwas zu haben, an dem er herumzerren konnte. Irgendwas brodelte in ihm, das konnte ein Blinder sehen.
"Ich würde dir ja gerne helfen, aber wenn du mir nicht sagst was los ist, kann ich nichts machen.", erwiderte Asahi, der jetzt auch langsam die Geduld verlor. Noya konnte so stur sein, gerade wenn es um Gefühle ging.
"Du denkst wahrscheinlich, ich bin total lächerlich, oder ein schlechter Mensch, eins von beiden.", sagte Noya und Asahi wunderte sich ernsthaft, warum er sowas von ihm dachte. Das musste ja was ganz Schlimmes sein, was ihn da bedrückte. Sonst war der kleine Libero doch immer so selbstsicher und rückte sofort mit allem heraus, was ihn beschäftigte. Rücksicht auf andere nahm er dabei selten.

"Es hat was mit Tanaka zu tun, oder?", fragte Asahi wurde prompt mit einer Reaktion seitens Noya belohnt, der ihn anschaute, als hätte er ihm soeben gestanden, dass er eben extra nach Tokyo gefahren war um Levs Katze zu entführen.
"W-Woher weißt du das?", fragte er ihn völlig entgeistert, "Bist du Hellseher oder was? Das ist ja gruselig!" Asahi hob beschwichtigend die Hände und lächelte nervös.
"Ich hab nur geraten.", log er, um Noya nicht unnötig aufzuregen, indem er ihm vorhielt wie durchschaubar er war.
"Ja, es ist was mit Tanaka.", gab er zu und seufzte ergeben.
"Hattet ihr Streit?", fragte Asahi und war es langsam leid Noya jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen, obwohl er insgeheim schon Verständnis für seine Situation hatte. Er hatte noch nie erlebt, dass die beiden Freunde Streit hatten, dafür verstanden sie sich einfach zu gut. Sie waren nicht wie Hinata und Kageyama, die sich dauernd wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zofften. Das hatten sie gar nicht nötig.

"Wir hatten keinen Streit. Es ist eigentlich gar nichts passiert.", meinte Nishinoya nachdem er einen Moment nachgedacht hatte.
"Aber...?", hakte Asahi nach. Noya zögerte einen Moment bevor er fortfuhr.
"Ryuu ist heute mit seiner neuen Freundin unterwegs, dieser...Hiwari? Hikari? Hab den Name vergessen. Ist aber auch egal.", antwortete er und rümpfte die Nase bei der Erwähnung des Mädchens.
"Und jetzt bist du sauer, weil er keine Zeit hat und sich nicht den Film mit dir angucken kann?", fragte Asahi ungläubig nach. Das sah seinem Freund überhaupt nicht ähnlich, sich so auf eine Sache zu fixieren. Noya konnte zwar ziemlich kindisch sein, aber wegen sowas die beleidigte Leberwurst zu spielen?
"Nein, der Film ist mir total egal. Den hab ich schon zwanzig mal gesehen. Mit Ryuu zusammen natürlich, manchmal auch mit Hinata aber der hat ja nie Zeit."
"Also, was ist dein Problem?" Nishinoya holte einmal tief Luft um sie gleich wieder auszupusten, seine Gesichtszüge wirkten angespannt, als würde er sich gerade in einem wichtigen Volleyballspiel befinden und nicht auf einem äußerst bequemen Sofa an einem Sonntag Nachmittag.
"Ich bin eifersüchtig. Glaube ich zumindest.", murmelte er mehr, als dass er sprach. Er wollte Asahi nicht ansehen und fuhr stattdessen damit fort, das Sofakissen in seinen Händen zu malträtieren.
"Und dafür schämst du dich jetzt?", fragte Asahi nach, der glaubte, damit den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Er sollte recht behalten.
"Ja, natürlich tu ich das! Ryu ist mein bester Kumpel und ich sitz hier rum und schmolle, weil ich sauer bin, dass er vor mir ne' Freundin abgekriegt hat, anstatt mich für ihn zu freuen. Das ist so blöd und unehrenhaft. Ich bin so ein Idiot!", rief er und schleuderte das Sofakissen quer durch den Raum. Er hatte sich so in Rage geredet, dass sich seine ganze Atmung beschleunigt hatte und er schien darüber selbst ganz erschrocken zu sein. Normalerweise verlor er selten so die Kontrolle. Das war eine ganz andere Seite, die Asahi heute von ihm kennenlernte. Asahi war ziemlich geschockt über seinen plötzlichen Gefühlsausbruch, der quasi aus dem Nichts kam.

"Sorry.", flüsterte er, "Aber, ich kann's einfach nicht abschalten. Es war okay, solange wir Kiyoko hinterhergeschwärmt haben, aber das war eben auch nichts Ernstes. Wir wussten ja beide, dass wir bei ihr keine Chance haben. Das mit seiner Neuen ist aber garantiert was Ernstes, ich weiß noch wie er mir den pinken Briefumschlag im Clubraum gezeigt und dabei gegrinst hat. Er war so glücklich und ich war so sauer. Und gleichzeitig kam ich mir wie der schlechteste Kumpel vor, den man haben kann. Ich würde es ihm so gerne gönnen aber immer wenn ich daran denke, wie die zwei zusammen sind, ist mir zum Kotzen zumute.", Nishinoya schaute Asahi mit einem Blick an, der Bände sprach. Noch nie hatte Noya so viel über sein Innenleben vor ihm preisgegeben. Es war seltsam, weil er ihn nicht so kannte, aber gleichzeitig fühlte er sich geschmeichelt, dass er ihn angerufen hatte. Nicht Suga oder Daichi, die in solchen Dingen sicher kompetenter waren als er und auch nicht Hinata, mit dem er gut befreundet war, sondern ihn. Es zeigte ihm, dass Noya ihm vertraute und er würde lügen, wenn er sagen würde, dass es ihn nicht berührte.
"Findest du das doof? Du kannst ruhig ehrlich sein, ich halt das aus." meinte Noya niedergeschlagen, "Sag mir, dass ich ein Idiot bin, der seinen Scheiß zusammenkriegen soll!" Die Aussage beunruhigte Asahi dann doch.
"Selbst wenn ich das denken sollte, was würde es dir bringen? Du kannst doch nichts für deine Gefühle." Beim letzten Satz verzog Noya angewidert das Gesicht. Gefühle. Von sowas hatte er sich selten aus der Ruhe bringen lassen, zudem seine Gefühlsausbrüche meist sowieso positiver Natur waren und nicht so extrem destruktiv wie die jetzigen.
"Mit meinen "Gefühlen" setze ich unsere Freundschaft aufs Spiel und das ist ätzend. Es ist ja nicht nur wegen dem Brief, ich fühl mich seit einiger Zeit schon so komisch wenn ich in Ryus Nähe bin.", Asahi dachte einen Moment über seine Aussage nach. Er ist eifersüchtig weil Tanaka eine Freundin hat und fühlt sich komisch, wenn er in seiner Nähe ist. Hm...

"Ich werd immer so nervös, wenn er irgendwas zu mir sagt oder mich anschaut, als ob er ein Fremder für mich wär. Dabei kennen wir uns seit der Grundschule. Letztens hat er mich nach einem Trainingsspiel umarmt und ich bin so zusammengezuckt, dass ich ihm auf die Nase gehauen hab. Total bescheuert!" Asahi schaffte es gerade noch ein Lachen zu unterdrücken. Der Kleinere ließ sich davon nicht aus seinem Redefluss bringen.
"Wenigstens hat sie nicht geblutet, aber ich wollte nicht, dass sich das wiederholt, also bin ich auf Abstand gegangen. Ich wollte ja auch nicht, dass er mich für einen Vollidioten hält. Aber ich kann auch einfach nicht ohne ihn. Er ist mir...wichtiger als alles andere und ich will nicht, dass das zwischen uns steht.", beim letzten Satz glaubte Asahi einen feuchten Glanz in Noyas Augen erkennen zu können, bevor dieser mit dem Kopf schüttelte und wie angestochen vom Sofa aufsprang.
"Ich hol uns was zu trinken.", sagte er mit brüchiger Stimme und sprintete in die Küche, als ob er vor etwas flüchten müsste.
Asahi schaute ihm besorgt hinterher. Schließlich drehte er sich wieder um, stützte sein Kinn auf den Handflächen ab und dachte nach. Der Fernseher lief immer noch, keiner von beiden hatte den Anstand gemacht ihn auszuschalten. Immer noch schlugen sich riesige, hässliche Monster und Roboter gegenseitig die Köpfe ein, diesmal ohne Lautuntermalung, was den übertrieben gewalttätigen Szenen eine gewisse Komik verlieh.

Asahi nutzte den ruhigen Moment, um über die Situation nachzudenken. Er hatte keine Ahnung von Liebesdingen. Sicher, er hatte den ein oder anderen Liebesfilm gesehen und auch mal einen Shoujo Manga gelesen, aber er wusste, dass fiktionale Darstellungen zu dem Thema überzogen und unrealistisch waren. Erfahrungen hatte er ebenfalls keine, wenn man das eine Fiasko auf seiner alten Mittelschule vernachlässigte, das er sich geschworen hatte zu vergessen. Trotzdem war er sich sicher, dass Noya mehr für Tanaka empfand, als er zugeben wollte. War das Liebeskummer? Wenn ja, dann war er froh, dass ihm sowas größtenteils erspart geblieben war. Nishinoya schien ja wirklich sehr darunter zu leiden.
Noya war soeben mit zwei Gläsern Limo zurückgekommen und reichte Asahi eins davon, bevor er seins in einem Zug austrank und auf den Tisch knallte. Zögernd nahm Asahi einen Schluck von dem zuckrigen Getränk und stellte sein Glas auf den Tisch neben Noyas. Die beiden schauten sich einen Moment an. Keiner wusste so richtig, was er sagen sollte, bis Asahi etwas tat, was sonst gar nicht sein Ding war. Er ergiff die Initiative.
"Ich glaube, du empfindest mehr für Tanaka, als nur Freundschaft.", sagte er mit fester Stimme und wurde im gleichen Moment nervös. Jetzt würde Noya bestimmt wütend werden und alles abstreiten, vielleicht würde er ihn auch gleich vor die Tür setzen. Asahi traute sich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Als er es doch tat, hatte er jede Art von Reaktion erwartet, aber nicht diese.

Nishinoya war vollkommen ruhig und blinzelte einmal, zweimal...Seine Augen bekamen wieder diesen seltsamen Glanz bevor er sich ruckartig von ihm wegdrehte und sich mit dem rechten Handgelenk hektisch über die Augen rieb.
"Noya, hey...", flüsterte Asahi und legte seine Hand auf Nishinoyas schmalen Rücken, als ein Schluchzen seinen Körper zum Erbeben brachte. Jetzt fühlte sich Asahi richtig mies, es war nicht seine Absicht gewesen, seinen Teamkamerad zum Weinen zu bringen. Es tat ihm weh, den sonst so fröhlichen und selbstbewussten Noya so aufgelöst zu sehen und zu wissen, dass er zum Teil daran schuld war.
"Tut mir Leid.", sagte er, doch der Angesprochene schüttelte nur den Kopf.
"Nein, entschuldige dich bloß nicht!", ranzte er ihn an und schniefte, "Du hast doch gar nichts falsches gesagt." Asahi legte tröstend einen Arm um seine Schulter um ihm Halt zu geben und zu zeigen, dass er für ihn da war. Noya wehrte sich nicht. Er akzeptierte es einfach. Er hatte es aufgegeben seine Tränen zurückzuhalten, nachdem er Asahi scheinbar eh schon alles offenbart hatte, was in ihm vorging. Er war niemand, der viel oder oft weinte aber manchmal war es besser, es zuzulassen. Asahi hoffte nur, dass er die Situation nicht als allzu erniedrigend empfand und sich infolgedessen noch mehr abkapselte. Er wollte nicht seinen Stolz verletzen aber vielleicht war das auch gerade einfach notwendig.
Sie saßen noch eine ganze Weile so da, bis Noya sich soweit beruhigt hatte, und das Wort ergriff.
"Ich kann nicht in Ryu verliebt sein.", sagte er als würde er kalte, harte Fakten rezitieren. Die Hände, die auf seinen Knien ruhten, hatte er zu losen Fäusten geballt. Seine Augen waren gerötet und er sah ziemlich elendig aus. "Das geht einfach nicht. Das würde nie funktionieren."
"Ist es, weil ihr beide Jungs seid? Oder weil du auf Mädchen stehst?", hakte Asahi nach.
"Nichts von beidem. Ich hätte nicht mal was dagegen, bisexuell zu sein. Ich meine, Suga ist doch auch bi, da sagt auch keiner was. Ich bin auch nicht homophob oder biphob oder wie man das sonst nennt. Soll doch jeder lieben wen er will. Aber das hier ist was Anderes, das kann man nicht vergleichen."
"Wie lange trägst du denn die Sache schon mit dir rum?", fragte Asahi und Nishinoya zuckte mit den Schultern.
"Kein Plan. Ein paar Wochen, vielleicht einen Monat. Ich dachte, ich würde es mir nur einbilden. Es hätte ja eh keine Zukunft gehabt. Aber dann kam Ryu mit diesem bescheuerten Brief an und seitdem hab ich irgendwie...Angst ihn zu verlieren. Total bekloppt, ich weiß. Wir sind ja immer noch Freunde. Aber jetzt sitzt er wahrscheinlich mit dieser Hi-dingsbums auf einer Bank und kuschelt mit ihr, vielleicht küssen sie sich sogar, und das regt mich auf. Ich will an ihrer Stelle sein und mit ihm diese ganzen doofen, kitschigen Pärchensachen machen, die man halt so macht. Aber Ryu würde das nie wollen. Er steht ja nicht mal auf Jungs.", seufzte Nishinoya resigniert und rieb sich mit der Hand über die eh schon geröteten Augen.

"Ihr solltet vielleicht bei Gelegenheit mal darüber reden.", schlug Asahi vor, doch Noya strafte ihn nur mit einem entrüsteten Blick.
"Das geht nicht! Was ist, wenn er mich dann endgültig hasst und nichts mehr mit mir zu tun haben will? Wenn er unsere Freundschaft beendet? Das wäre doch mega scheiße!"
"Würde er das denn wirklich tun?"
"Nein."
"Dann rede lieber mal mit ihm! Die Situation zwischen euch ist doch schon angespannt genug und wenn ihm eure Freundschaft wichtig ist, wird er es verstehen.", sagte Asahi und fühlt sich ein wenig, als wäre er Noyas persönlicher Therapeut, eine Rolle die eigentlich gar nicht zu ihm passte. Sonst war es immer Noya selbst, der auf ihn einredete, wenn er wegen eines vergeigten Angriffs mit sich haderte und sich die Schuld für alles gab. Aber im Moment wollte er einfach nur, dass es Noya besser ging und er sein Problem mit Tanaka in den Griff bekam. Nicht nur, dass es wichtig für die Stimmung im Team war, es war vor allem wichtig für Noyas Selbstbewusstsein.
Asahi hatte ja nichts von alldem gewusst. Sein Teamkamerad war einfach ein Meister darin, Dinge zu überspielen und war erst jetzt damit an seine Grenzen gelangt.

"Vielleicht sollte ich wirklich mit ihm reden. Aber ich weiß ja gar nicht, was ich ihm sagen soll, ohne mich total zu blamieren oder ihn zu beleidigen. Hast du vielleicht ne' Idee wie man sowas angeht?"
"Sorry, aber da bin ich überfragt. Du kennst ihn viel besser als ich. Ich bin dir da keine große Hilfe." meinte Asahi unsicher, der jetzt doch etwas überfordert war. Er war gut im Zuhören und Trost spenden, aber wenn es darum ging, handfeste Ratschläge zu erteilen, war er eine Niete. Noya schaute ihn daraufhin empört an.
"Mach dich nicht so runter! Du warst mir doch schon ne' große Hilfe!", widersprach er und klang schon wieder fast wie der alte Noya, der Asahi zurechtwies, wenn der aufgrund seiner Unsicherheiten mal wieder zu selbstkritisch mit sich war. Asahi musste bei dem Gedanke lächeln. So hatte er Noya kennengelernt und so mochte er ihn, auch wenn sie grundverschieden waren.
"Wirklich, danke. Aber, wehe du erzählst jemandem, dass ich deswegen geheult hab!", drohte er ihm und legte seinen bösen Blick erst ab, nachdem Asahi ihm lang und breit versichert hatte, dass er keinem auch nur ein Sterbenswörtchen erzählen würde.

Plötzlich zuckte Noya ohne Vorwarnung zusammen und wurde kreidebleich, sein ganzer Körper schien angespannt. Asahi war sofort alarmiert.
"Noya, was ist denn jetzt los?", fragte Asahi verunsichert und war auf alles vorbereitet.
"D-Das sind bestimmt nur meine Eltern. Kein Grund zur Sorge.", stammelte Noya, der trotz seiner Worte definitiv besorgt aussah.
"Was?" Seine Eltern? Wie kam er denn jetzt bitte auf seine Eltern?
"Das Handy in der Küche. Es vibriert.", lieferte Nishinoya ihm die Erklärung und Asahi verstand endlich, was er meinte. Was musste er ihn auch immer so erschrecken? Er wunderte sich trotzdem, dass er das Vibrieren seines Handys einen Raum weiter immer noch hören konnte. So laut wie er die Lautstärke am Fernseher gedreht hatte, hätte man denken können, er wäre schwerhörig.
Wie in Trance stand Noya vom Sofa auf schlurfte in die Küche um sein Handy zu holen. Als er zurückkam, starrte er nur verunsichert nach unten auf das Display.
"Es ist Ryu.", antwortete er dem fragenden Blick von Asahi. Er blickte von Asahi zu seinem Handy und wieder zurück bis er sich schließlich einen Ruck gab und sich dazu entschied den Anruf anzunehmen.
"Ja, Ryu? Wo bist du grad?", fragte er und seine Stimme klang dabei leicht zittrig. Er hatte keinen Lautsprecher an, also konnte Asahi nicht hören was Tanaka sagte, er konnte den Verlauf des Gesprächs nur an Noyas Mimik und dessen Worten erahnen.
"Wie, du willst jetzt vorbeikommen? N-Nein, ich hab kein Problem damit, wieso sollte ich ein Problem haben? Ja, ich hab sturmfrei. Okay, wir sehen uns dann. Ciao, bro!" Er hatte aufgelegt. Noya starrte eine Weile auf das Gerät in seinen Händen bevor er zu Asahi aufsah, der sich vom Sofa aus umgedreht hatte. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.
"Ryu meint, das Date wäre ein Disaster gewesen und er will gleich zu mir kommen. Scheiße, man! Ich bin überhaupt nicht vorbereitet, ich seh bestimmt noch total verheult aus!", beklagte sich Nishinoya und drehte im Wohnzimmer seine Kreise wie ein eingesperrtes Raubtier.
"Heißt das, er will das Date mit dir fortsetzen?", fragte Asahi verwirrt und war gleichzeitig auf eine seltsame Art und Weise amüsiert. War das die berühmte Ironie des Schicksals?
"So ein Quatsch!", blaffte Noya zurück und Asahi glaubte einen sanften Rotschimmer auf seinem Gesicht erkannt zu haben.
"Naja, zumindest habt ihr jetzt die Möglichkeit zu reden."
"Ich hätte nicht gedacht, dass du so abgebrüht bist, Asahi.", meinte Noya gespielt beleidigt und schob die Unterlippe vor, was ihn aufgrund seiner geringen Körpergröße wie ein trotziges Kind aussehen ließ und irgendwie niedlich war. Asahi konnte sich ein leichtes Grinsen darüber nicht verkneifen. Die Stimmung war zwar angespannt aber er merkte auch, dass Noya irgendwie gelöster wirkte als vorher. Vielleicht hatte seine Anwesenheit und die "Therapiestunde" mit ihm ja doch etwas gebracht.

Am Ende lief es darauf hinaus, dass Asahi sich irgendwann von Noya verabschiedete, um den Weg nach Hause anzutreten. Es war immerhin schon spät und draußen dämmerte es schon. Er war niemand, der gerne alleine im Dunkeln auf der Straße herumlief. Auch wenn mutmaßliche Schlägerbanden, die sich um die Zeit herumtrieben, wahrscheinlich mehr Angst vor ihm hatten, als er vor ihnen. Außerdem wollte er Tanaka das Feld räumen und durch seine Anwesenheit nicht noch für unnötige Missverständnisse sorgen. Er hoffte wirklich, dass sich zwischen den beiden alles klären würde und Nishinoya bald wieder der alte war.


Achterbahn der GefühleWhere stories live. Discover now