2. Räume

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Sie öffnet die Augen. Schaut sich um. Nicht schon wieder! Sie hat gehofft, dass es endlich vorbei ist. Sie steht auf. Reibt sich den Rücken. Der Holzfussboden ist hart. Wieder sieht sie die Uhr. Eine große Turmuhr aus schwerem Eichenholz. Sie wirkt erdrückend. Es ist elf Uhr. Die Uhr tickt. Unnatürlich laut. Es macht ihr Angst. Außer dem Ticken ist nichts zu hören. Sie hat eine Stunde Zeit. Das Zimmer sieht aus wie ein Arbeitszimmer, ein sehr altes Arbeitszimmer. Der Staub hat sich auf alles im Raum niedergelegt, auf den Tisch, die Stühle, den Boden, die Bodenvase, in der verwelkte Blumen stehen. Wie ein grauer Schleier der Zeit. Sie rüttelt an der Tür. Verschlossen. Was hat sie auch anderes erwartet. Niemals ist die Tür in einem der Räume geöffnet. Niemals ist sie auch nur einer Menschenseele begegnet. Die Uhr tickt weiter. Erinnert sie daran, dass sie nicht ewig Zeit hat. Sie wirft einen Blick auf den Tisch. Dort liegt eine Zeitung. Keine Bilder, viel Text. Obwohl die Sonne die Buchstaben schon verblichen hat, kann sie das Datum erkennen. 18. März 1902. Sie kramt in ihrem Kopf. Ob ihr das Datum bekannt vorkommt. Nein. Neben der Zeitung häufen sich einige Briefe. Schneeweißes Papier, blutrotes Wachsiegel. Einen Moment lang spielt sie mit dem Gedanken, einen der Umschläge zu öffnen. Verwirft ihn dann aber wieder. Was würde es ihr auch bringen. Richtig, nichts. Das Parkett knarzt unter ihren Füßen. Am anderen Ende des Raumes entdeckt sie eine Glasflasche auf einem Regal stehen. Gelbbraune Flüssigkeit. Sie geht hin. Knarz knarz. Sie schraubt den Deckel auf und riecht. Irgendwas Hochprozentiges, eindeutig. Warum erinnert sie sich an sowas, aber hat keinen blassen Schimmer, wie ihr eigenes Zimmer aussieht? Vorsichtig nippt sie und augenblicklich beginnt ihre Kehle zu brennen. Warum trinken Erwachsene dieses Zeug bloß? Sie stellt die Flasche wieder ab und geht zur wieder zurück zum Schreibtisch. Es kommt ihr sinnlos vor. Wie immer. Was erwartet sie auch. Einen Ausweg zu finden flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Dem Ganzen ein Ende setzten. Sie ignoriert sie. Sie nimmt Platz auf dem Lederstuhl, der vor dem Schreibtisch steht. Er riecht muffig. Ist aber bequem. Sie schließt kurz die Augen. Der Alkohol brennt immer noch. Dabei hat sie doch nur einen winzig kleinen Schluck genommen. Als sie die Augen wieder öffnet ist es sechs Minuten vor 12. Tick tock. Sie hat noch sechs Minuten Zeit. Aber wofür. Wie oft hat es sich schon wiederholt. Sie befindet sich in einem Raum. Die verschiedensten Arten von Räumen. Immer gibt es eine Uhr. Tick tock. Und nach einer Stunde verschwindet der Raum wieder. Und sie fängt von vorne an. Neuer Raum. Neue Hoffnung? Nein, nicht wirklich. Wie lange das schon so ist weiß sie nicht. Zu lange. Aber irgendwann muss es aufhören. Irgendwann hört alles auf. Der Zeiger der Uhr schreitet voran. Sie guckt ihm beim Wandern zu. Schließlich schlägt die Uhr zwölf Mal und ihr wird schwarz vor Augen. Sie liegt in einem Bett. Es ist nicht ihr Bett. Der sterile Geruch ist unter der Türschwelle durchgekrochen und fühlt das kleine Zimmer aus. Das Mädchen in dem Bett ist nicht bei Bewusstsein. Ihre Haut blass. Auf einem Holzstuhl sitzt eine Frau und weint. Ein Mann geht im Zimmer auf und ab. Sie haben frische Blumen mitgebracht. Und das Fenster geöffnet um den Geruch zu vertreiben. Neben dem Bett stehen medizinische Geräte. Biep biep. Ein Mann mit stürmischen grauen Haaren und einem weißen Kittel betritt das Zimmer, schüttelt ihnen die Hand, guckt betreten und redet etwas. Dann geht er wieder. Das Mädchen bekommt davon nichts mit.
"Hast du gehört, was er gesagt hat, Liebling? Ihre Gehirnströme sind aktiv. Sehr sogar."
Die Frau schluchzt auf. Der Mann legt ihr eine Hand auf die Schulter. Die Geste wird beruhigend.
"Sie wird aufwachen. Ich glaube daran."
"Nein wird sie nicht." Die Frau erhebt sich. "Ich gehe mich frisch machen." Mit diesen Worten verlässt sie das Zimmer. Noch auf dem Flur hört sie das laute Ticken der Uhr. Tick tock. Tick tock. Tick tock.

Der erste Teil dieses Buches, eine kleine Kurzgeschichte die ich mal während des Unterrichts angefangen und gerade eben fertig gestellt und überarbeitet hab.
xoxo <3

Das Dingsda-BuchHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin