Der Tag der Tage nimmt seinen Lauf - Teil 1

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Ich bekam gar nicht mehr mit, wie wir die restliche Strecke bis zu unserer Turnhalle, in der der Abschlussball stattfinden sollte, zurücklegten. Das Einzige, was ich wahrnahm, war mein keuchender Atem, der kalte Schweiß auf meiner Stirn und das gleichmäßige Brummen der Klimaanlage, die vergeblich versuchte die Wärme von draußen zu bekämpfen. Aber ebenso wie ich musste sie einsehen, dass man gegen manche Dinge eben machtlos war.

Schwankend hiefte ich mich aus dem Auto, während mein Vater mir galant die Tür aufhielt. Die Schwüle des frühen Abends umhüllte mich und nun bekam ich zusätzlich zu der Übelkeit auch noch einen Anfall von Schwindel. Haltsuchend griff ich nach dem Arm meiner Mutter, die schnell an meiner Seite aufgetaucht war. Sie kannte das ganze Theater ja bereits. Meine Eigenarten waren schon eine Sache für sich. Aber naja, was sollte ich dazu sagen... Es war perfekt, der Abend konnte beginnen!

Als ich meine Tante schon von weitem an ihren weißen, auf Hochglanz polierten Mercedes-Benz gelehnt sah, die sich gerade ihre Haare im Seitenspiegel richtete, wäre ich am liebsten in die andere Richtung gelaufen und hätte mich unter einem Auto verkrochen. In meiner Verfassung nun auch noch diese ekelerregende Person auf mich loszulassen, grenzte an Körperverletzung. Aber was sollte ich schon machen. Meine Tante tat, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ohne dass man sie daran hindern konnte. Da waren auch meine Eltern machtlos dagegen, die beide nur zu genau wussten, wie sehr ich diese Person verabscheute.

Schließlich entdeckte meine Tante uns, was ich bis zum letzten Moment versucht hatte zu vermeiden. Wild winkend kam sie auf uns zugeeilt, wenn man das überhaupt eilen nennen konnte. Sie stöckelte wild auf ihren 10 cm High Heels herum, mit denen sie nicht einmal richtig laufen konnte und wackelte dabei wild mit ihrem Hintern. Dazu hatte sie einen knielangen, schwarzen Rock und eine türkisfarbene Bluse an, die meiner Meinung nach viel zu viel Einblick zuließ. Aber das war ihr Ding. Sie musste damit den ganzen Abend herumlaufen.

"Hallo ihr drei!",

trällerte sie fröhlich und drückte mir links und rechts einen Kuss auf die Backe. Ihhhhhh! Hoffentlich hatte ich jetzt nicht ihren roten Lippenstift im Gesicht hängen. Sonst konnte ich wirklich als Clown durchgehen.

"Hallo",

war das Einzige, was ich hervorbringen konnte. Zu mehr war ich nicht im Stande. Nachdem meine Tante auch noch an meinen Eltern ihr Begrüßungsritual vollzogen hatte, wandte sie sich wieder mir zu, wobei mich ihre kleinen, blauen Augen abschätzig von oben bis unten musterten.

"Heute ist also dein großer Tag. Du hast das Abitur hinter dir. Auch wenn ich sagen muss, dass wir früher eindeutig schlauer gewesen sind, nicht wahr Susanne? Sieht man ja an der PISA Studie. Die Jugend von heute wird immer dümmer. Erstaunlich, dass überhaupt noch so viele das Abitur schaffen. Vor allem du, mit deinen Kinderfantasiegeschichten, in die du immer die Nase steckst. Solch ein Quatsch! Hätte ich echt nicht gedacht, aller Achtung",

seufzte meine Tante gequält auf, wobei sie doch tatsächlich meinte, sie mache mir damit ein Kompliment. Jaaaa die Jugend von heute, schlimm! Zu nichts mehr zu gebrauchen... Ich erwiderte nichts darauf.

"Und ohhhh, Susanne! Was ist das da für ein prüdes Kleid, das deine Tochter trägt? Geht sie auf einen Seniorennachmittag?",

fuhr sie unbeirrt fort, als sei ich gar nicht mehr anwesend. Ich schnappte nach Luft. Das hatte sie doch gerade nicht wirklich... Die Augenbrauen meiner Mutter schnellten unheilvoll in die Höhe, doch sie ging ebenfalls nicht weiter auf die Sticheleien ihrer Schwester ein. Das hätte sowieso nur in einer sinnlosen Diskussion geendet, die den ganzen Abend überdauerte. Stattdessen drückte sie mich noch einmal fest an sich, sodass ich ihre vertraute Nähe spüren konnte, was mir wieder etwas Kraft gab.

Leuchte für mich ~ LeseprobeWhere stories live. Discover now