Kapitel 1: Unerwartete Enthüllungen

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»Die Gabe des Wahrheit-Sprechens ist mit der Entstehung der Dynastien verschwunden. Heute gibt es niemanden mehr, der sie beherrscht.«

Ceor Bluber Elluren, im 6. Jahrhundert


Die Perücke kratzte wieder einmal fürchterlich, als ich sie mir auf den Kopf setzte und sie sorgfältig befestigte. Kritisch verfolgte ich im Spiegel, wie ich mich von einer eher unauffälligen Brünetten in eine rassige Schwarzhaarige mit langen, schweren Locken verwandelte. Wobei die Betonung auf schwer lag.

In meinem Leben gab es eigentlich nur eines, was ich hasste, und das war die Notwendigkeit, eine Perücke tragen zu müssen.

In einer Gesellschaft, in der dein Name darüber bestimmt, wer du bist, und deine Dynastie, was du bist, hat jeder die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Es war beispielsweise undenkbar, einen Hero zu sehen, der nicht allzeit Wert auf respektable Kleidung legte. Niemand würde einen Juristen ernst nehmen, der sich wie ein Bauer oder ein Fischer kleidete. Allein dein Name bestimmte über deinen Charakter, deinen Beruf, dein Vermögen – und natürlich auch über dein Auftreten in der Öffentlichkeit.

Ich seufzte, als die verhasste Perücke endlich saß. Nun konnte ich mich dem Rest meines Kostüms für die Öffentlichkeit widmen. Auf die Wangen kam etwas Rouge, die Lippen malte ich blutrot an, die Augenlider leuchtend blau und die Wimpern grün. Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis im Spiegel, bevor ich in mein rotes Kleid und die bauschigen Unterröcke stieg. Dann legte ich meine Goldketten an, meine große, mit Juwelen besetzte Brosche und die großen Goldringe und fertig war meine Verwandlung.

Niemand, der mich vor einer Stunde gesehen hatte, als ich das Gasthaus betreten hatte, würde mich jetzt noch erkennen. Darauf legte ich großen Wert. Schließlich hatte ich eine Rolle zu spielen und mein Ehrgeiz ließ nicht zu, dass ich sie anders als perfekt spielte. Das schuldete ich meinen Kunden.

Ich verließ mein Schlafzimmer und betrat den geräumigen Salon nebenan. Zufrieden musterte ich meine Bühne. Die schweren, roten Vorhänge hingen an den Wänden und verdeckten die meisten Fenster. Lediglich eines, das auf eine schmale, dunkle Gasse hinausging, war noch frei. Dadurch lag der Eingangsbereich im Zwielicht, der Rest des Salons aber im Dunkeln. Niemand, der das Zimmer betrat, würde mich auf der anderen Seite des Raums im ersten Moment bemerken.

Langsam ließ ich mich im bequemen Ohrensessel nieder und drapierte meine Röcke, bis sie so lagen, wie ich es wollte. Perfekt! Das Schauspiel konnte beginnen!

Während ich auf die ersten Kunden wartete, schweifte mein Blick durch den Salon. Er war groß, so wie es sich für das beste Gasthaus der Stadt Lodessis geziemte, und mit edlen Teppichen, kostbaren Möbeln und dunklen Vorhängen ausgestattet.

Ich hatte die meisten sperrigen Gegenstände und den größten Teil der Dekoration entfernen lassen. Ich brauchte nur wenig für meine Auftritte. Zuallererst mein Kostüm. Einen bequemen Sessel mit einem kleinen Tisch. Ein Regal für meine Utensilien, auch wenn ich diese nur selten benötigte. Und natürlich Stühle für die Kunden.

Es war still im Zimmer, während ich wartete. Mein erster Kunde ließ sich Zeit, aber das war immer so. Ich war gestern in Lodessis eingetroffen und auch wenn die Stadtbewohner in den letzten Tagen schon Geschichten und Gerüchte über mich und meine Gabe gehört hatten, so erforderte es auch Mut – oder Verzweiflung –, der Erste zu sein, der mich aufsuchte. Doch nach vier Jahren in meinem Beruf hatte ich Geduld erlernt. Vorher war ich häufig impulsiv und spontan gewesen. Dafür hatte ich einen schmerzhaften Preis gezahlt ...

Ich unterdrückte den Gedanken rigoros, bevor meine Aufmerksamkeit von meiner Vergangenheit in Anspruch genommen werden konnte. Es zählten nur noch das Hier und Jetzt und die Zukunft, die ich mir mit meiner Gabe erschaffen wollte.

Die Magie der Lüge (Leseprobe)Where stories live. Discover now