Kapitel 3

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,,Was für eine Scheiße! Was für eine verdammte, verkackte Scheiße! Wichser! Dämliche Dreckswichser!''

Ich bin ziellos. Und wütend. Das bekommen sämtliche Steine, vorbei gehende Passanten und nun auch mein Rucksack zu spüren. Mit glühendem Gesicht feuere ich ihn gegen die Wand einer Unterführung und setze nochmal mit dem Fuß nach. Dabei treffe ich auf die Wand und heißer Schmerz zuckt durch meine Zehen und dann meine Wade hinauf. Tränen schießen mir in die Augen und ich sinke an der Steinwand hinab auf den Boden.

Sie haben mich nicht vergewaltigt. Fast bin ich so sauer, dass ich mir wünschte, sie hätten es. Gott sei dank haben sie das nicht. Dafür ist mein ganzes Geld, die Uhr, die mir meine Oma geschenkt hat und sogar meine fast leere Flasche Cola weg. Auch die Kreditkarte ist weg. Mein Handy. Ich kann nicht mal bei der Bank anrufen und sie sperren lassen. Alles ist weg. Einfach alles.

Ich weiß nicht, ob ich mich jemals so verloren gefühlt habe. Alles scheint sich wie in einer Spirale in ein großes und bodenlos schwarzes Loch zu drehen. Es reißt mich mit sich und für einen Moment kann ich die Tränen einfach nicht zurückhalten. Fast kühl rinnen sie über mein erhitztes Gesicht und ich schmecke sie salzige auf meinen Lippen. Ich lasse mich den Halt verlieren und die Vertrautheit dieses Gefühles ist zerschmetternd. Ich kenne dieses Gefühl. Nie wieder wollte ich es fühlen und doch hat es mich nun so fest im Griff wie zuvor. 

Instinktiv wandert meine Hand in meinen Nacken und meine Finger beginnen automatisch kleine, zärtliche Kreise zu ziehen. Sie fühlen sich nicht wie meine eigenen Finger an und alles um mich herum verschwimmt zu vergangenen Tagen. Der harte Boden weicht unter mir hinweg und wird zu einem warmen, weichen Couchpolster. 

,,Alles ist gut, Liebes'',höre ich ihre Stimme aus weiter Entfernung flüstern. ,,Alles ist gut, denn ich bin hier.''

Es ist seltsam. Diese Worte tun weh und beruhigen mich, denn sie legen sich wie eine lindernde Salbe über meine Panik. Dennoch reißen sie mich aus meiner Trance. Sie erinnern mich daran, warum ich überhaupt in dieser Lage bin. Mir fällt wieder ein, warum ich hier bin. Vielleicht verhießen diese Worte einst Heimat, doch ich habe kein Zuhause mehr. Und ich muss mich jetzt zusammenreißen, damit ich die Nacht nicht auf der Straße verbringen muss. 

,,Okay, July, reiß dich zusammen. Denk nach!''

Ich hieve mich hoch, entferne die kleinen Kiesel aus meiner Handfläche und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Das Gefühl von Schwäche weicht langsam aber sicher einem Sinn, den ich durch das viele Reisen dazu bekommen habe. Improvisation. In Situationen wie diesen muss man improvisieren. Auch wenn ich noch nie so mittellos gewesen bin, gibt es für alles eine Lösung. Nur fürchte ich wird diese Lösung dieses mal erfordern, dass ich über meine Grenzen hinaus gehe. Dass ich das Gesetz übergehe. Ich muss mir nun selbst helfen...

Während ich meine Sachen wieder zusammenscharre, mir alles überwerfe und losmarschiere manifestiert sich langsam aber sicher ein Gedanke in meinem Kopf. Er gefällt mir zunächst nicht, doch ich erinnere mich immer wieder daran, dass ich nichts mehr habe, außer die Klamotten an meinem Körper und die, die sich in meinem Rucksack befinden. Ich habe nicht wirklich eine Wahl...

Das Kopfsteinpflaster unter meinen dreckigen Sneakers mündet in eine Straße aus Asphalt. Vor mir erstreckt sich eine Fußgängerzone, die mit kleinen Läden, Restaurants und Spätis gespickt ist. Ich passiere einen kleinen Park und arbeite mich mit energischen Schritten voran und vorbei an geschlossenen Läden. Schnell wird mir klar, dass ich keine Kriminelle bin. Ich kann weder ein Schloss knacken, noch habe ich etwas, mit dem ich den kleinen Kiosk überfallen könnte, an dem ich nun vorbei laufe. Kurz kommt mir der Gedanke, vielleicht einfach erst mal nach Essen zu betteln, um über die nächsten Tage zu kommen und mir in dieser Zeit etwas zu überlegen. Doch desto weiter ich es aufschiebe, desto mehr würde ich wahrscheinlich den Mut dazu verlieren. In diesem Augenblick wallt noch das Blut des Überfalles auf mich in meinen Adern und meine Entschlossenheit und Angst, auf der Straße schlafen zu müssen, überwiegt. 

Dennoch... desto mehr Geschäfte und Läden ich passiere, desto klarer wird mir, dass es nicht so einfach ist. Alles ist bereits geschlossen und in vereinzelten Restaurants sitzen sogar noch Menschen. Meine Schritte werden immer langsamer und die Hilflosigkeit droht mich beinahe wieder zu übermannen, da sehe ich es.

Es ist unscheinbar und liegt auf der anderen Straßenseite. Eine kaputte Laterne wirft flackerndes Licht auf eine kleine, gestauchte Frau mit Schürze, die gerade dabei ist, Stühle übereinander zu stapeln und mit einer Kette zu befestigen. Ich beobachte, wie sie ihre Arbeit beendet und dann wieder in das Restaurant geht, das sich ,,Papa Pippo'' nennt und offensichtlich italienische Küche anbietet. Auf einer kleinen Tafel wird das Tagesangebot beschrieben: Hausgemachte Tagliatelle mit Gorgonzola Sauce und Caprese. 

Während mein Magen ein forderndes Knurren von sich gibt, schleiche ich über die Straße und spähe durch das Fenster in den kleinen Gastraum. Die Frau wischt nun über die Theke und verschwindet dann durch eine Tür in einen Raum, der für meine Augen durch einen Vorhang verdeckt wird. 

Mein Blick fällt auf den Tresen, hinter dem sich auch sicherlich die Kasse befindet. Es scheint ein kleiner, familiärer Laden zu sein. Aus Erfahrung weiß ich, dass diese meistens ihre Kassen nicht verschließen oder den Schlüssel ganz in der Nähe aufbewahren. Manchmal liegen die Geldbörsen der angestellten Kellner auch noch herum und sind noch nicht abgerechnet. Ich könnte also Glück haben... Aber das Risiko ist riesig.

Mein Kopf jedoch entscheidet blitzschnell. Ich weiß, dass mein Zeitfenster klein ist. Ich muss schnell sein. Sehr schnell. Ich gehe die Schritte durch, während ich mich weiter auf den Laden zu bewege.

Rein.

Absuchen.

Zugreifen.

Verschwinden.

Geräuschlos bewege ich mich durch die Tür, indem ich sie aufdrücke und dann vorsichtig ins Schloss gleiten lassen. Aus dem Raum, in dem die Frau verschwunden ist, tönt lautes Klappern von Geschirr, das mich ein wenig ruhiger macht. So wird sie mich vielleicht immerhin nicht hören. 

Ich schlüpfe hinter den Tresen. Das Licht ist dämmrig. Mein Herz rast. Meine Hände sind schwitzig. 

Während meine Fingerspitzen den Tresen abtasten und meine Augen über die Arbeitsplatten zucken und die Kasse erblicken, lausche ich mit einem Ohr den immer noch andauernden Geräuschen aus der Küche. 

Die Kasse lässt sich nicht öffnen. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich kann nicht anders, als enttäuscht zu sein. Entgegen meines Willens legt sich wieder ein Schleier aus Tränen über meine Sicht und ich beginne zu zittern. Mir ist aber auch bewusst, dass ich gerade dabei bin, jemanden zu beklauen. Deswegen beiße ich mir auf die Innenseiten meiner Wange und mache weiter.

Jetzt sehe ich den kleinen Kühlschrank. Wieder taucht das Bild in meinem Kopf von den frischen Tagliatelle aus dem Tagesangebot auf. Meine Gedanken sind von meinem Instinkt gesteuert: Wenn ich schon kein Geld finde, könnte ich wenigstens etwas zu essen mitgehen lassen...

Als ich den Kühlschrank öffne, klappern die Flaschen in seiner Tür gegeneinander und ich erfriere in meiner Bewegung. Gelähmt starre ich auf den Vorhang, der sich nur weniger Meter von mir entfernt befindet und halte den Atem an...

Doch die Frau scheint durch das Klimpern ihres Geschirrs nichts gehört zu haben. Sofort beginne ich, meinen Rucksack zu öffnen und alles Mögliche hinein zu schaufeln. Das Geräusch meines Atems scheint ohrenbetäubend laut und auch sonst komme ich mir viel, viel zu laut vor. Doch das treibt mich nur noch mehr an und schon bald zwänge ich den Reißverschluss zu und als ich gerade aufstehen will, erblicke ich die Geldbörse.

Der Kühlschrank ist noch offen und strahlt angenehme Kälte auf meinen vor Adrenalin verschwitzten Körper. In einer fließenden Bewegung greife ich nach dem Portmonnaie, fühle das glatte Leder unter meinen Fingern und höre, wie das Kleingeld verheißungsvoll darin wie ein Goldschatz zu klingen scheint...

,,Hey! Was machst du da?'' 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 26, 2017 ⏰

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