Kapitel 2

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Mit einem schrillen Piepton wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich brauchte ein Weile, bis meine Augen bereit waren ihre Umgebung wahrzunehmen. Ich drehte mich herüber zu Amy. Es war mir ein Rätsel, wie sie bei diesem Lärm seelenruhig weiterschlafen konnte. Dabei war es doch ihr Wecker, der an diesem frühen Morgen die nächtliche Stille unterbrach. Ihr Wecker. Panik stieg in mir auf. Auf einmal realisierte ich die Situation. Wenn Amys Wecker bereits klingelte, musste es weitaus später sein, als ich dachte. Höchstwahrscheinlich sogar zu spät, wie ich erkannte, als mein Handydisplay hell in mein vom Morgen zerknittertes Gesicht schien. Mist. Die Vorlesung begann bereits in 15 Minuten. Für mich ein unmöglicher Kampf gegen das Raum-Zeit-Kontinuum. "Amy!", versuchte ich den Wecker zu übertönen, in der Hoffnung auf ein erfolgreicheres Ergebnis. Sie grummelte in ihr Kissen hinein. "Amy! aufstehen!" Ich unterstützte meine Versuchungen mit leichtem Anstupsen. Als sich die Reaktion nicht deutlich veränderte, entschied ich mich, meine sowieso knappe Zeit lieber in Anziehen und improvisiertes Frühstuck zu investieren. Vorher fiel ein kurzer Kontrollblick auf mein Handy. Noch immer keine neue Nachricht in meinem Mailprogramm. Knapp eine Woche war es nun her, dass ich der Wiener Staatsoper geschrieben hatte. Ein wenig enttäuscht legte ich Handy beiseite und schob ich den Laptop vom Fußende, auf dem wir uns gestern Abend zu zweit einen netten Opernkinoabend gegönnt hatten. Das machten wir des Öfteren. Laptop heraus, Popcorn gemacht, in die Decke eingekuschelt und auf YouTube eine Oper heraus gesucht, auf die wir uns einigen konnten. Jedes Mal wundervoll entspannend. Außer man vergisst vor lauter Drama auf der Bühne seinen Wecker für die Uni am nächsten Morgen zu stellen.

Ich schüttete mir im Bad eine Hand voll kaltes Wasser ins Gesicht, steckte mir die braune Haarpracht nach oben und putzte meine Zähne im Schnelldurchlauf. Zurück im Zimmer war ich in eine herumliegende Hose geschlüpft und stülpte gerade ein wahlloses Shirt über, als Amy, die noch immer grunzend im Bett lag, sich auf die andere Seite rollte. Ich packte schnell meinen Kram für die Vorlesungen ein, schwang mit einem hohen Bogen den Beutel über meine Schulter und näherte mich dem schlafenden Faultier. "Amy!", ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Dein Wecker hat schon vor 10 Minuten geklingelt. Du kommst zu spät!" Endlich zeigte sich ein wenig Reaktion und sie öffnete die Augen. "Mhhhh", grummelte sie erneut. Ich muss gestehen, dass ich das äußerst niedlich fand. "Guten Morgen!", lächelte ich sie an. Ihr Gesichtsausdruck war reichlich verwirrt. "Guten Morgen, aber was machst du denn noch hier?", fragte sie mit zerknitterten Stirnfalten. Normalerweise sehen wir uns morgens nie. "Vergessen Wecker zu stellen. Bin auch schon weg!", antwortete ich kurz, drückte ihr zum Abschied noch einen zweiten Kuss auf die Wange und verschwand in Windeseile aus der Wohnung.

Mit gekonnten Griffen schloss ich mein Fahrrad an den überfüllten Ständern vor der Universität an und biss in den aus der Küche mitgenommenen Apfel, während ich die schwere Eingangstür öffnete. Die hohen Gänge der Universität waren geisterleer. Meine hastigen Schritte unterbrachen die konzentrierte Stille im Gebäude. Sie verstummten, als ich vor Saal Nummer 6 stand. Ich war leicht außer Atem und hielt kurz inne. Ich kam nie zu spät und es war mir äußerst unangenehm. Vor allem gegenüber Herr Weber. Um seine Vorlesung nicht allzu sehr zu stören, hatte ich mich vor der hinteren Tür positioniert. Leise drückte ich die Klinke herunter und schlich mich vorsichtig an einen der letzten Tische. Herr Weber hielt mit seinen Ausschweifungen kurz inne, als sein Blick mich traf. Ich biss mir auf die Lippen und grinste ein wenig zu breit vor Verlegenheit. Meine Ankunft blieb natürlich auch bei den Kommilitonen nicht unbemerkt. Die Stille, die herrschte erschien mir viel zu lang und hätte mich im Boden versenken können. "Entschuldigung!", nuschelte ich beschämt. Herr Weber lächelte mich kurz kopfschüttelnd an. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, doch sein Lächeln verriet mir, dass ich mir um sonst Sorgen um seine Sympathie machte. Gerade hatte ich mich auf einen der hinteren Stühle fallen gelassen, erleichtert, dass ich nun endlich da war und die Situation einigermaßen heil überstanden hatte, da hörte ich meinen Namen. "Frau Morgenstern, Sie kommen gerade richtig." Ich schaute etwas verwirrt. Anscheinend nahm der peinliche Moment noch nicht sein Ende. "Ich kam am Wochenende in den Genuss Ihrer fantastischen Ausarbeitung der Bellini-Komposition und entschied mich Ihren Kommilitonen diese nicht vorenthalten zu wollen, damit sich hier alle einmal ein Beispiel nehmen können." Sein warnender Blick strich über die mehr oder weniger abwesenden Studenten vor mir. Eindringlich blieb er auf Tim hängen, der wieder einmal gelangweilt mit seinem Stift spielte und sich mühsam aufrichtete, als Herr Weber mit hochgezogenen Augenbraun seine Aufmerksamkeit erlangte. Erst jetzt bemerkte ich den großen Klavierauszug der Arie Ascolta, se Romeo t'uccise un figlio, die der brummende Beamer an die weiße Wand strahlte. Ein weinig stolz erkannte ich meine Handschrift, mit der ich säuberlich einige Stellen umkreist und Anmerkungen vernommen hatte. Ich spürte wie meine Ohren an Röte gewannen, die sich nicht auf das schnelle Radfahren von gerade eben bezog. Mein Lächeln aus Peinlichkeit verwandelte sich recht schnell in ein Lächeln aus Verlegenheit und Stolz.

Im Einklang des GesangesWhere stories live. Discover now