Uralte Fassung (1): Twos - Di...

MaraPaulie tarafından

319K 17.1K 4.7K

Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... Daha Fazla

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel

3K 163 29
MaraPaulie tarafından

Kapitel 55

Der Tempel der Orakel


~Mile~

Ein Fehltritt wäre unverzeihlich. Und es wäre auch der letzte, den sie sich jemals leisten können würden. Das war pure Logik, denn sie hatten es ausgetestet. Sabrina hatte eine murmelgrosse Eiskugel in ihrer Hand wachsen und dann hinunterfallen lassen. Nicht einmal das Echo hatte sie mehr erreicht, so tief ging es hinab.
Die Treppe war zwei Meter breit. Links und rechts davon war... nichts. Nur eine unschätzbar grosse Leere. Ab und zu schlängelte die schier endlose Wendeltreppe an der Steinwand entlang, doch das war eher selten der Fall. Meist klaffte auf beiden Seiten der Treppe einfach nur der Abgrund wie ein riesiges, schwarzes Maul, das darauf wartete, dass einer von ihnen ausrutschte und fiel. Es gab kein Gelände, das einen Sturz aufhalten könnte.
Die Treppe selbst wurde von einem regelrechten Netzwerk aus Querbalken gehalten, die aus den Wänden wuchsen wie lange, glatte Finger.
Stalagmiten und Stalaktiten wuchsen wie Unkraut aus den Stufen oder Querbalken und manchmal versperrten ihnen ein paar der Stalagmiten den Weg. Jedes Mal mussten sie mit halsbrecherischen Klettermanövern um einen der spitzen, glatten Berge herum kraxeln.
»Gedankenlesen, Träumen, Ninjakräfte, Feuer, Eis, Blitze, Supersinne... Alles schön und gut«, brummte Sabrina zum etwa fünften Mal seit sie ihren Abstieg begonnen hatten, »aber warum haben diese blöden Urherrscher bei der Aufteilung ihrer Kräfte nicht einmal ans Fliegen gedacht?!«
Das war eine berechtigte Frage. Auch Mile hatte sie sich schon einige Male gestellt und hatte sich mittlerweile eine Theorie zurechtgelegt: »Vielleicht haben sich ihre Kräfte erst mit der Zeit entwickelt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die vier Urherrscher einfach dagestanden sind, mit den Fingern geschnippt und sich gewünscht haben, Gedanken lesen oder Blitze schiessen zu können. So stand es doch auch in dem Buch. Die Herrscher veränderten sich. Was, wenn sie anfangs einfach nur diese Welt erschaffen, sich die Verantwortungen untereinander aufgeteilt und sich nach diesen verändert haben. So legte man fest, dass der Lichterlord über den Sommer wachen müsste und daraufhin ging diese Aufgabe so auf ihn über, dass er zum Feuerbändiger wurde. Oder bei der Eisprinzessin: Sie war für die Träume verantwortlich. Sie hat Wunschträume und Alpträume, sowie Traumwesen und so erschaffen und irgendwie ist sie dann automatisch zur Traumreisenden geworden. Wer kann das schon sagen?«
Sabrina blinzelte ihn an und lachte dann. »Mile«, kicherte sie, »über was du dir immer den Kopf zerbrichst. Das gerade war eine rhetorische Frage.«
Mile nickte und lachte ebenfalls. Er wusste, dass Sabrina keine Antwort erwartet hatte, aber so war er nun einmal. Er machte sich gerne Gedanken über die Dinge, liebte Geschichten wie diese und teilte sie nur zu gerne mit seiner Schwester. Auch wenn diese seine Begeisterung nicht teilte.
Die nächste halbe Stunde schwiegen sie beide und konzentrierten sich nur auf die glitschigen Treppenstufen vor ihnen. Langsam spürte Mile seine Muskeln ganz schön. Morgen würde er sich kaum aus dem Bett bewegen können vor Muskelschmerzen. Seine Füsse anzusehen traute er sich gar nicht erst. Da er ja barfuss war und ohne schützende Solen den Berg hinaufgeklettert war, waren sie sicher ganz wund, doch er spürte sie kaum. Die Stufen waren so kalt und nass, dass sie jeden Schmerz betäubten.
Irgendwann brach Sabrina das Schweigen. Nicht durch eine Wiederholung der Bemerkung über die Urherrscher und das Fliegen, nein sie sagte: »Irgendwie habe ich schon die ganze Zeit ein Déjà-vu.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mile und starrte den Hinterkopf seiner Schwester an. Sie hatten sich darauf geeinigt, hintereinander zu gehen, da sie somit beide in der Mitte der Treppe gehen konnten, so weit weg von den beiden Abgründen wie möglich.
»Erinnerst du dich an die Nacht?«, flüsterte sie geheimnisvoll und Mile konnte ihrer Stimme anhören, dass sie lächelte.
»Welche Nacht?«
Sabrina hob die Stimme, sodass ihr Echo laut und klar durch den Berg schallte: »Die Macht des vollen Mondes, der Wolf auf sehnsüchtiger Jagt, in der Nacht des monatlichen Jahres, niemals wird der Zeitpunkt vertagt.«
Mile strahlte und rief: »Das ist eine Zeile aus der Prophezeiung. Sie handelt von der Nacht, als wir das Portal im Wald von Wolfsbach entdeckten!«
»Genau. Weisst du noch, wie das war? Wir haben uns aufgeteilt und sind durch den Wald gelaufen und haben nach irgendwas gesucht, das übernatürlich aussah. Himmel, wenn man bedenkt, wie viele Dinge sich seither verändert haben. Wie viel geschehen ist...«
»Und dann war da dieser Wolf. Oskar. Dieser Wolf und seine Mondsucht. Er ist mal wieder durch das Portal in die sterbliche Welt und dann hat er dich entdeckt. Er hat dich angesprungen und dann bin ich dir zu Hilfe gekommen. Dann sind wir ihm hinterher und im nächsten Moment war da dieser Fels auf der Lichtung«, murmelte Mile.
»Und dann sind wir hinterher. Und das meine ich mit Déjà-vu. Wir sind in die Höhle in diesem Fels und auch dort war so eine glitschige, gruselige Treppe und im nächsten Moment waren wir in der Märchenwelt«, erklärte Sabrina und ging dann verträumt ihren Erinnerungen nach.
Mile sah alles noch ganz genau vor sich. Fast war es, als würde er einen Film sehen. Einen Film aus Erinnerungen, seinen Erinnerungen. Doch so fühlte es sich nicht an. Wie konnte dieses Leben das seine gewesen sein? Dieser Junge, dieser Mile Beltran, das Waisenkind, dieser Sonnenschein... Das war er jetzt nicht mehr. Er war noch immer Mile, der Optimist, der Bruder, Mile Beltran... Aber auch er hatte sich verändert. Er war ernster geworden, hatte gelernt zu kämpfen und zu töten. Und er war, wirklich wahr, das erste Mal in seinem Leben kein guter Bruder gewesen. Und das traf ihn. Dabei war das immer ein Teil seiner Identität gewesen. Er hatte das so gewollt, war auch irgendwie stolz darauf gewesen. Und dann... dann hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt. Die Adoption, die so mysteriös verlaufen war, die Tallos, ihr neue zu Hause... Und auf einmal hatte Mile das Gefühl gehabt, ein normales Leben führen zu können. Ein normales Leben, auf seine eigene, verdrehte art. Natürlich war es nur eine Illusion gewesen. Eine Illusion von dem was hätte sein sollen. Mit seinen Eltern. Mit Eira und Ignatz und Sabrina. Und es wäre gottverdammt normal gewesen. So hatte er sich Freunde gesucht, hatte Sabrina... vergessen. Nein, nicht vergessen. Er hatte sie bei Seite geschoben. Weil er das normale Leben hatte schmecken wollen. Und es hatte gut geschmeckt. Nach Schule und Junge und Mädchen und Hausaufgaben und Abhängen und Kino und Party und Musik und Freunde und Spass... Aber natürlich war es eine Illusion gewesen. Denn Sabrina war seine Familie, damals die einzige, die er gehabt hatte und natürlich liebte er sie. Und dann war Red gekommen. Sie war keine Illusion. Niemals würde er sie so bezeichnen. Nein, Red war echt. Wie ein Wunsch, der in Erfüllung gegangen war. Wie ein Traum in Fleisch und Blut. Und Red hatte er nicht teilen müssen. Nein, Red war Red und er war Mile und sie gehörten zusammen. Red war ein Teil von ihm, so wie auch Sabrina zu ihm gehörte. Doch auch hier hatte er den gleichen Fehler gemacht, dieses Mal noch schwerwiegender. Er hatte versucht, sich mehrere Welten zu errichten. Die Welt mit Red und die andere mit Sabrina. Aber das konnte er nicht, das durfte er nicht und das wollte er auch nicht mehr. Er war nur glücklich, wenn Sabrina glücklich war. Und er war nur glücklich, wenn er Red hatte. Und Red war glücklich, wenn er es war, also wenn Sabrina es war und dann war da diese eine Variable, die er nicht einberechnet hatte.
Früher war es doch so einfach gewesen. Sabrina und er. Diese kleine Welt, in der sie beide lebten. Und ihre Atmosphäre war aus reiner, guter Luft gewesen, die niemand anderes atmen konnte. Und dann war alles gut gewesen.
Dann hatte er angefangen Fehler zu machen und Sabrina war verschwunden. Sie hatte sich alleine auf eine Reise begeben. Meine Güte, sie war ja nicht das erste Mal ohne ihn irgendwo hingegangen. Aber diese Mal war es anders gewesen. Erstens hatten sie zuvor gestritten. Und zwar weil er Fehler gemacht hatte. Er hatte ihren Eril verletzen wollen. Mit einem Sinduin. Er hatte versucht, sich einzureden, dass er das ja nicht mit Absicht gemacht, diesen Sinduin ausversehen beschworen hätte und alles nur ein Missverständnis gewesen war, aber das stimmte so auch nicht. Er hatte diesen Eril nicht leiden können, aber Sabrina hatte damals Gefühle für den Elf gehabt. Und er hatte einfach weiter gemacht. Er hatte den Elf beinahe umgebracht und am Ende hatte er sich nicht einmal einstehen können, etwas Schreckliches getan zu haben.
Und Sabrina war gegangen und zu ihm zurückgekehrt. Und er hatte sich so gefreut. Sie war glücklich gewesen. Für einen Moment.
Da war sie für einen Moment gewesen. Ihre Welt, ihre eigene Welt mit der Atmosphäre die niemand ausser ihnen atmen konnte. Und dann war sie gekommen, die Variable, die er nicht gesehen hatte.
Er hatte Red. Er hatte Sabrina. Er war vollständig. Doch Sabrina nicht. Denn sie hatte nun auch einen Teil von sich verschenkt. Nur mit ihm war sie nicht mehr vollständig. Ihr Herz gehörte nun auch einem anderen, ohne den sie nicht leben wollte. Und er, Mile, hatte wieder nicht zugehört, aufgepasst oder hingesehen.
»Ich bin ein Egoist.«
Sabrina zuckte zusammen und auch Mile erschrak vom Klang seiner Stimme. Er hatte, ohne es zu wollen, seinen letzten Gedanken laut ausgesprochen.
»Okay?«, fragte Sabrina gedehnt und drehte sich zu ihm um. Mile blieb stehen. Etwa drei Treppenstufen trennten sie voneinander. Sabrinas Haare leuchteten im Schein seiner Flamme. Mile versuchte sich daran zu erinnern, wie sie als kleines Kind ausgesehen hatte. Es gelang ihm nicht.
»Ich bin ein Egoist«, sagte er noch einmal. Er wusste nicht wieso, aber es fühlte sich richtig an.
Sabrina legte den Kopf schief.
»Ich bin ein Egoist. Ich bin ein Egoist. Ich bin ein Egoist«, sagte Mile und er fühlte sich leicht. Scheisse, das tat auf eine irrationale Weise gut.
»Sagtest du bereits«, meinte Sabrina. Sie runzelte besorgt die Stirn. »Geht es dir gut?«
»Nein«, antwortete Mile. »Mir geht es nicht gut, weil ich ein Egoist bin. Und das will ich nicht. Das tut dir weh und es tut mir weh. Ich will das nicht mehr und ich würde es rückgängig machen, wenn ich könnte und ich habe so einen Mist geredet und Schreckliches angerichtet.« Himmel, es war fast wie eine Droge!
»Okay, du hast... Mist geredet... Ich weiss nicht, was du willst, Mile. Eigentlich redest du gerade eben auch Mist...«, murmelte Sabrina und sah zu ihm auf.
»Ja, ich weiss. Aber ich habe so einen Unsinn geredet. Ich habe dich in der Schule alleine gelassen, weil ich das Gefühl hatte, so könnte ich ein normales Leben haben, aber das war einfach nur rücksichtslos und gemein und naiv. Dann habe ich Red kennen gelernt und dich erneut von mir gestossen. Und du hast Eril kennen gelernt und dann war ich eifersüchtig und wollte ihn von dir fern halten und hab ihn vor lauter Egoismus beinahe umgebracht. Dann haben wir gestritten und du bist gegangen, um nach dem Mohn zu suchen. Und ich habe so viel falsch gemacht. Du bist zurückgekommen und ich wollte, dass wir wieder zueinanderfinden, wie früher. Aber du... du hast dich auch verändert und bist so stark geworden, du kannst ganz ohne mich so viel schaffen. Und du hast Hook. Aber ich wollte dich für mich, damit es wieder so ist wie früher, aber das ging ja nicht. Ich habe gesagt, er wäre gefährlich, aber das ist mir doch eigentlich gar nicht wichtig gewesen. Die ganze Zeit war ich nur ein Egoist. Aber ich habe es nicht gewusst. Ich habe wirklich geglaubt, er wäre nicht gut für dich, aber eigentlich... eigentlich bin ich ein Egoist. Ich habe alles kaputt gemacht, nur weil ich eifersüchtig war, wo ich dich doch selbst von mir gestossen habe! Ich habe die Schuld nie mir zustehen können, habe Ausreden gesucht, aber es stimmt nicht! Ich bin schuld, weil ich ein Egoist bin.« Mittlerweile schrie er. Er hatte zuvor schon laut gesprochen, doch nun schrie er. Und sein Echo wiederholte seine Worte.
»... hab ihn vor lauter Egoismus beinahe umgebracht«, rief das Echo.
»... so viel falsch gemacht«, brüllte es.
»... Du hast Hook, aber ich wollte dich für mich«, kreischte es.
»... weil ich ein Egoist bin«, schrie es.
Er schlang seine Arme um sich und verstand auf einmal gar nichts mehr.
Wieso?
Mit einem Mal schien es, als hätte ihm jemand die Augen geöffnet und ihm gezeigt, was die Wahrheit war. Er konnte einfach... verstehen!
Seine Echos waren schon beinahe verklungen, als plötzlich ein Neues hinzukam. Ein neues Echo.
Ein Schluchzen.
Mile sah erschrocken auf. Ihr Blick traf ihn wie ein Schlag.
»Du bist so ein....«, flüsterte Sabrina... und brach ab. Stattdessen stieg sie die drei Stufen, die sie trennte, hinauf und warf sich an ihn. Sie schlug auf ihn ein und weinte in sein Hemd und ihre Tränen waren so kalt, dass sie sich wie Nadelstiche anfühlten.


~Sabrina~

Die Wahrheit war wie Leben spendendes, klares Wasser und wie zerstörendes, brennendes Höllenfeuer. Sie war wie sanfter Nebel auf der Haut und wie glühendes Eisen im Fleisch. Wie Küsse weicher Lippen. Wie Schläge harter Fäuste. Wie eine Umarmung. Wie ein Schnitt. Wie Liebe. Wie Hass. Wie Gut. Wie Böse.
Denn Mile hatte ihr die Wahrheit erzählt.
Sie war so unglaublich froh, endlich zu wissen, was in Mile vorgegangen war, wieso er sie so oft enttäuscht, verletzt und ja, verraten hatte.
Und sie war wütend. So wütend. Er hätte ihr doch einfach sagen können, was los war. Er hätte einfach nur mit ihr reden können!
Also kämpfte sie mit Freude und Wut, drückte sich an ihren Bruder, heulte und schluchzte und schrie und schlug mit ihren Fäusten auf seine Brust ein.
»Es tut mir leid«, hauchte Mile immer wieder. »Es tut mir leid. Es tut mir leid.«
Irgendwann war sie zu erschöpft zum Weinen, zu müde zum Schreien und zu verwirrt zum Schlagen. Stattdessen begann sie zu reden, unkontrolliert, als hätte jemand anderes von ihrer Zunge und ihren Lippen Besitz ergriffen. So blieb sie ruhig und hörte ihrer Stimme einfach nur zu.
»Ich aber auch, Mile. Ich bin auch nicht besser, bin eine Egoistin. Ich wollte dich doch genauso für mich. Du hast Freunde gefunden, was mir so schwer fällt und ich wollte dich nur für mich und habe dir deine Freunde nicht gegönnt. Und dann war da diese Welt, die ich mit dir entdecken wollte, weil das etwas war, das nur wir teilten. Das war die Chance für mich, dich wieder nur für mich zu haben. Aber dann war da Red. Ich hielt die Liebe auf den ersten Blick für ein Märchen, aber wie wir wissen, sind Märchen wahr. Ich war so wütend, als du Red mir vorgezogen hast und ich habe Red gehasst für jeden Atemzug, den sie tat. Und du warst nicht da, Mile, also habe ich nach jedem Strohhalm gegriffen, an dem ich mich festhalten konnte. Und so hielt ich mich an Eril fest, der mich nur zu gern mit sich nahm. Und als du versucht hast, mich von ihm zu reissen, da habe ich dich von mir gestossen. Und als ich dann ohne dich nach dem Mohn gesucht habe, da musste ich lernen, alleine klar zu kommen. Und dann traf ich Hook. Bei ihm hatte ich das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. So wie ich ihm helfen konnte, seiner Vergangenheit den Rücken zu zukehren, so setzte er mein zerrissenes Herz wieder zusammen. Und Eril, der ja nur mein Strohhalm gewesen war, wurde lästig, da ich gelernt hatte, ohne ihn zu stehen. Doch als ich mich von ihm trennen wollte, erfuhr ich, dass auch ich nur ein Opfer war. Ein Opfer seiner vorgespielten Liebe und meiner hilflosen Naivität und meinem panischen Wunsch nach jemandem, der mir Halt geben könnte. Und wieder half mir Falk. Dann war meine Welt in Ordnung, nur du hättest noch gefehlt. Aber als ich zurückkam, zurück zu dir, da war ich nicht mehr die gleiche und du warst so weit weg. Ich wusste nicht, wie ich mit all diesen Veränderungen umgehen sollte, doch du warst schneller als ich und hattest deine Entschlüsse bereits gefällt. Du wolltest mir Falk nehmen. Als du nicht da gewesen warst, war er für mich da. Er war kein Ersatz für dich, falls du das glauben solltest, nein, Falk war etwas vollkommen neues, etwas, das du nicht für mich sein konntest. Und all das war doch nur meine Schuld. Weil ich feige bin, Mile. Ich habe mir eingeredet, alleine glücklich zu sein und dass ich nur dich brauchen würde, doch ich habe dabei keine Rücksicht auf deine Wünsche genommen. Und als ich Falk traf, der mir diese ganz neue Welt gezeigt hat, eine Welt, in der ich selbst stark sein kein, wo ich bin und sein kann... Da habe ich vergessen, dass auch du in meine Welt gehörst. Du bist nicht nur der Bruder der Sabrina, die traurig, schwach und hilflos ist. Du bist auch jetzt mein Bruder, der für mich da ist und zu mir gehört. Aber ich habe dich betrogen, Mile. Ich hatte Angst, dir zu sagen, dass du nicht mehr der einzige ist, der nun in meinem Herzen wohnt. Und nur, weil ich Angst vor Veränderungen habe. Ich hatte Angst, was geschehen würde, wenn die alte und die neue Sabrina ihre Welten vereinen. Ich bin also noch schlimmer als du, Mile. Ich bin nicht nur egoistisch, ich bin auch feige. Feige und Egoistisch. Ein egoistischer Feigling. Eine feige Egoistin!« Nun schrie auch sie und ihre Stimme überschlug sich wie die eines Kindes. Und wieder kreischte das Echo all die furchtbaren Offenbarungen durch die Dunkelheit, bis sich die Echos überlagerten und zu einem Chaos aus Schreien wurde, das sich zu einem unverständlichen Getöse zusammenballte und schlussendlich wie ein grausam hämisches Lachen klang.
Und dann gehörte Sabrina wieder sich selbst, als wäre sie erlöst, von einem Bann befreit und nun war sie es, die sprach. Mehr zu sich selbst als zu ihrem Bruder sagte sie: »Es... stimmt...«
Als würden ihre Worte eine eigene Zauberkraft besitzen, schienen jene mit ihrem frischen, neuen Echo die alten zu verscheuchen. So verschwanden all die Echos im nichts. Sie lösten sich aus ihrer geballten Ladung aus Schuld und verstreuten sich in der Dunkelheit, wo sie endgültig verstummten.
Und dann tropften nur noch die Stalaktiten auf Stalagmiten und Eistränen fielen auf Stein oder in die Tiefe, während die anderen Tränen, die so heiss waren, dass sie augenblicklich verdunsteten, in die Höhe schwebten, wo sie sich überall in der Luft verteilten.
Nun presste Sabrina wieder ihr Gesicht auf Miles Bauch, wo der Stoff seines Hemds noch immer nass von ihrem vorherigen Gefühlsausbruch war.
Irgendwann lösten sich die Geschwister voneinander. Zu messen war die vergangene Zeit einzig in der Ungenauigkeit unzähliger Tränen und genau so vielen Entschuldigungen.
Sabrinas Wangen brannten. Rote Flecken hatten sich auf ihnen gebildet, so wie immer, wenn sie viel geweint hatte und Sabrina war sich dessen bewusst. So legte sie ihre Hände auf die brennenden Stellen und liess ihr Eis seine kühlende Arbeit tun.
Mile, der ebenfalls viel geweint hatte, sah ihr stumm zu. Seine Wangen waren von Natur aus immer leicht gerötet, was seiner Hitze zuzuschreiben war. Rote Flecken bekam er nie, dafür waren seine Augen gerötet.
»Es tut mir so...«
»Wehe!«, knurrte Sabrina. »Sonst fang ich sofort wieder an zu heulen!«
Sie legte den Kopf in den Nacken und seufzte tief. Dann sah sie wieder Mile an, der stumm zurückstarrte. Ein irres Lachen kroch ihre Kehle hinauf, doch sie bekämpfte es mit aller Kraft. Der Schock sass tief, aber sie konnte jetzt trotzdem nicht ausflippen. Sie durften sich das nicht durchgehen lassen.
»Was war das?«, platzte es aus Mile heraus. »Das... das gerade war nicht normal!« Er blinzelte erstaunt und sah sie mit grossen Augen, als wäre er über seine eigenen Worte erschrocken.
»Keine Ahnung, aber ich weiss, was du meinst«, antwortete sie wie ferngesteuert. Schonwieder!
Mile nickte und er erklärte: »Das ist, als würde ich sprechen, ohne es zu wollen. Als würde ich kontrolliert werden. Sabrina, ich schwöre, alles was ich vorhin gesagt habe, das... keine Ahnung. Das war so eigenartig. Als du mir dein Déjà-vu mit der Höhle, die uns in die Märchenwelt gebracht hat, erzählt hast, da habe ich darüber nachgedacht, was alles passiert ist und dann... Auf einmal war es, als hätte mir jemand die Augen geöffnet. Was ich gesagt habe, alles, das ist mir klar, ist die Wahrheit. Aber das... das habe nicht ich herausgefunden. Es war, als würden meine Gedanken gelenkt werden. Und was ich gesagt habe, das habe nicht ich gesagt. Auf einmal waren da all diese Erkenntnisse über mich und ich musste sie loswerde. Es war wie ein Rausch. Ich habe geredet und doch war nicht ich es... Was ist das?«
Sabrina lief ein Schauer über den Rücken und sie antwortete: »Ich weiss es nicht. Aber bei mir war es noch schlimmer. Alles was gesagt habe, ist wahr. Es ist die Wahrheit, aber das wurde mir erst klar, nachdem ich es gesagt habe. Ich habe nicht nachgedacht, ich habe einfach angefangen zu sprechen, ohne es zu wollen.«
Mile wurde bleich und er flüsterte: »Das macht mir Angst.«
»Panische Angst«, stimmte sie zu und schlug sich die Hände vor den Mund. Auch das hatte sie nicht sagen wollen. Sie hatte das Gefühl der Panik noch nicht einmal richtig identifizieren können, da waren die Wörter schon über ihre Lippen gekommen, wie von einer unsichtbaren Macht hervorgelockt.
Was war das?!
Sie presste die Lippen fest aufeinander, damit sie auch ganz sicher zu bleiben würden. Mile biss die Kiefer zusammen, das erkannte sie an seinen Muskeln unter den Ohrläppchen, die so stark hervortraten.
Von der Panik getrieben, alle Vorsicht wegen der schleichenden Angst vergessen, schnellte Sabrina vor und packte die Hand ihres Bruders. Dann hetzten sie die Treppe hinab. Sie riskierten ein Stolpern, Ausrutschen und Stürzen. Was konnte schon schlimmer sein als das, was so einfach in ihrem Unterbewusstsein lesen konnte, ohne zu zögern Dinge offenbarte, die sie selbst noch nicht über sich wussten, in ihren Körper schlüpfen und Kontrolle über ihr Sprechen und Sagen übernehmen konnte?
Doch je tiefer sie in das Innere des Berges eindrangen, je mehr Stufen sie hinabsprangen, je weiter sie hinabstiegen, desto schlimmer wurde es.
»Ist es nicht erschreckend, dass unser eigenes Unterbewusstsein und das, was wir nicht von uns wissen, mehr Angst einjagt, als alles andere auf der Welt?«, rief Sabrina über das krachende Echo ihrer Schritte hinweg. Schnell presste sie sich eine Hand auf die Lippen, als könnte sie so die Worte wieder in ihren Mund zurückbefördern. Sie wollte nicht reden! Sie wollte nicht sprechen! Und bevor sie es verhindern konnte, schrie sie sich selbst an: »Aufhören! Nein! Aufhören! Geh weg! Schweig! Sei ruhig!«
Auch Mile begann zu schreien. Keine Worte, nur ein langgezogener Laut, der keine Bedeutung hatte, sondern nur verhindern sollte, dass irgendetwas anderes über seine Lippen kommen konnte.
Irgendwann ging ihnen beiden jedoch die Luft aus und sie mussten eine Pause machen, um nicht vor Erschöpfung umzukippen. Sie setzten sich auf die Stufen und lehnten sich mit den Rücken an einen Stalagmit, der den ungefähren Durchmesser eines Autoreifens hatte und Mile knapp überragte. Atemlos kauerten sie da, lauschten den Echos, ihren mittlerweile selbstverständlichen, dauerhaften Begleitern und versuchten, sich aufs Nichts-Sagen zu konzentrieren. Natürlich half das nichts und schon sprudelte es aus Mile heraus: »Sind es unsere unterbewussten Wahrheiten, die uns Angst machen, oder ist es die Tatsache, dass wir die Kontrolle über unsere Stimme, Zunge und Sprache verloren haben?«
»Beides. Aber wieso will Mondkind uns durch diese Hölle jagen? Was hat das alles für einen Sinn?«, war Sabrinas Antwort.
»Wollte sie, dass das passiert? Damit wir uns endlich die Wahrheit ins Gesicht sagen?«
»Fragen und Rätsel. Wie Irrlichter schwirren sie um uns herum wie Motten um Licht. Dabei ist es doch gerade umgekehrt. Wir stecken in der dunklen Ahnungslosigkeit fest, während die klärende Lösung einfach nicht greifbar ist!«
Mile schüttelte den Kopf, als könnte er sich so selbst zum Schweigen bringen. Er sprang auf, zog Sabrina auf die Füsse und sie rannten weiter.
»Ich hab dich lieb«, keuchte Mile.
Sabrina musste lachen, obwohl sie eigentlich am liebsten weinen würde. Sie sah ihren Bruder an. Von einem plötzlichen Belustigung überwältigt und ohne von jener unsichtbaren, beängstigenden Macht dazu gezwungen zu werden, witzelte sie: »Und das kannst du erst zu mir sagen, wenn du von irgendwas kontrolliert wirst?« Sie lachte wieder und stutzte. Beinahe hätte sie vergessen, weiter zu rennen und wäre fürchterlich gestürzt, doch sie fing sich. Vollkommen entgeistert starrte sie Mile an.
Es war weg!
»Das geht mir nun einmal gerade durch den Kopf. Ich kann nichts dagegen tun. Ich sage, was ich denke und jetzt geht mir nun mal durch den Kopf, wie sehr ich dich liebe und dass ich dich beschützen muss!«, erklärte er und sah sie an. Sofort bemerkte er ihren Blick. Besorgt drückte er ihre Hand fester und fragte: »Sabrina? Ist alles in Ordnung?«
»Scheisse, ja!«, jubelte sie, was Mile nur noch besorgter aussehen liess.
»Nein, nein. Was ist jetzt passiert? Ich will das nicht, ich will das nicht!«, murmelte Mile und presste sich wieder eine Hand vor den Mund, um die Wörter in sich einzusperren.
Sabrina lachte auf und schüttelte den Kopf. Aufgeregt rief sie: »Mile, es ist weg! Es hat mich... losgelassen. Du darfst nicht dagegen ankämpfen. Sag einfach, was du denkst. Du musst nur deine Gedanken aussprechen. Freiwillig, verstehst du?«
Ihr Bruder sah sie misstrauisch an und presste seine Hand nur noch fester auf seine Lippen.
»Lass das!«, befahl sie und blieb stehen. »Herrgott, sonst bin ich doch die Zicke, die niemandem vertrauen will.«
Mile starrte sie an, als wäre sie gerade in einem Ufo vom Himmel gefallen.
Sie verdrehte die Augen und forderte: »Sag einfach, was du denkst!«
Mile sah sie noch eine Weile etwas verwirrt an, dann liess er seine Hand sinken. Trotzdem hatte er die Zähne fest zugebissen.
»Entspann dich und sprich aus, was du denkst. Glaub mir doch, du Blödkopf«, schimpfte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
»Blödkopf? In einer so brenzligen Situation kannst auch nur du deine Verbündeten beleidigen. Ganz klar, du bist es«, rief Mile. Seine Worte mochten als Witz gemeint sein, doch sein Gesicht hatte noch immer etwas Zögerliches und Ängstliches. Das änderte sich jedoch schlagartig und er strahlte.
»Tatsächlich! Nichts zwingt mich mehr, zu sprechen! Sabrina, du bist ein Genie!«
Sie lachten und fielen sich um den Hals.
»Lass mich etwas versuchen«, warnte Sabrina und konzentrierte sich. Wieder presste sie die Lippen aufeinander und wartete ab. Augenblicklich verspürte sie einen inneren Druck und ohne, dass sie es steuern konnte, begann sie zu reden: »Konzentrieren, konzentrieren. Ob es ganz weg ist? Vielleicht hat es aufgehört. Nein, hör auf. Verdammt...«
Mile lachte und er tadelte sie: »Du forderst es immer wieder heraus, oder?«
Sabrina streckte ihm die Zunge heraus und brummte: »Ich wollte es ja nur mal versuchen. Wie es aussieht, müssen wir so weitermachen wie bisher. Wir labern, was uns gerade durch den Kopf geht. Ohne nachdenken. Ich hoffe, dass das nicht allzu peinlich wird...«
Mile wurde rot und sofort platzte es aus ihm heraus: »Klasse, musstest du das sagen? Jetzt muss ich dich fragen, ob es irgendwie gestört ist, dass ich es scharf finde, wenn Red ihren inneren Wolf ausbrechen lässt?«
Sabrina lachte, hörte jedoch sofort wieder damit auf, wurde erst weiss und dann knallrot. Mit schicksalsergebenem Gesicht ratterte sie so schnell sie konnte: »Toll, keine Ahnung. Wir sollten uns 'nen Psychiater suchen gehen. Du fährst auf dein Wolfsmädchen ab und ich steh aus irgendeinem Grund total auf diesen Haken! Wir sind bestimmt beide total gestört.«
Nun musste Mile lachen, doch glücklicherweise hatte er seine Gedanken beisammen und er schlug vor, das Thema zu wechseln und weiter zu gehen.
Sabrina stimmte zu und sie sprang einige Stufen zu ihrem Bruder hinab, der sich umdrehte und... erstaunt stehen blieb. Sabrina tat es ihm gleich.
»Stand die schon die ganze Zeit da?«, fragte Mile verwirrt.
Sabrina zuckte die Schultern und antwortete genauso verwirrt wie ihr Bruder: »Keine Ahnung. Du Giraffe hast mir die Sicht auf den Rest der Treppe versperrt. Aber ich glaube auch, dass die vorher noch nicht da war...«
Circa zehn Treppenstufen unter ihnen stand eine Tür. Da war kein Türrahmen und auch keine Wand. Sie stand einfach so auf einer der Steinstufen. Sie schien eine vollkommen normale Tür zu sein, als aus Holz mit Türklinke und einem Schlüsselloch, durch das ein fahler Lichtstrahl fiel. Doch dieses Licht konnte auf keinen Fall von der Rückseite der Holztür Stammen, denn dort war es genauso düster wie auf ihrer.
»Was nun? Ich hab immer noch Angst und von Grusel-Türen, die aus dem nichts erscheinen, halte ich nichts«, gestand Mile zerknirscht. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Sabrina ihren Bruder wegen seiner Furcht aufgezogen, doch da es ihr momentan kein bisschen anders ging als ihm, liess sie es sein. Also murmelte sie: »Ich denke nicht, dass wir eine Wahl haben. Entweder gehen wir da durch oder wir können den ganzen Weg zurück nach oben kraxeln.«
»Dann los«, seufzte er und sie trabten vorsichtig und etwas zögerlich die letzten Stufen hinab. Dann standen sie vor der Tür.
»Ich werde noch kurz unsere Lichtverhältnisse hier etwas anpassen«, warnte Mile sie. »Man weiss ja nie, was einen hinter einer Tür aus dem nichts erwartet.«
Mile hob beide Hände. Die Linke ballte er zur Faust, wodurch er die schwebende, goldene Flamme, die sie die ganze Zeit als einzige Lichtquelle begleitet hatte, löschte. Gleichzeitig schnippte er mit der Rechten, wodurch er einer kleineren Flamme das Leben schenkte, die jedoch nur die Grösse die eines Teelichts hatte.
»Bereit?«, fragte Mile.
»Nein«, antwortete Sabrina. »Scheisse, wenn man immer die Wahrheit sagen muss, ist man echt uncool.«
Er lächelte. Kurz, aber warm. Dann streckte er die Hand aus und drückte langsam die Türe auf.


~Sabrina~

Frische, kühle Luft wehte ihnen entgegen. Sabrina atmete tief. Nebel kroch über die Schwelle, floss über ihre Füsse und schon bald standen sie knietief in den weissen Schwaden. Mehr passierte nicht. Besonders beeindruckend war das, was auf der anderen Seite der Türe lag, auch nicht. Nun, eigentlich konnte man gar nichts erkennen, denn da war nichts aus Nebel. Nur eine weisse, wogende Wand. Andererseits war es ja schon ein Wunder. Schliesslich stand diese Türe mitten auf der Treppe und wider jedem Gesetz der Natur lag hinter ihr nicht der Rest der Stufen, nein, sie war der Eingang zu einem völlig neuen Ort!
Mile seufzte. Er klang fast schon enttäuscht, was Sabrina zum Schmunzeln brachte.
»Es kann halt nicht überall aussehen wie auf 'nem LSD-Tee-Trip«, zog sie ihn auf. Etwas misstrauisch beugte sie sich vor, um so vielleicht durch den Nebel etwas erkennen zu können. Fehlanzeige. Nur diese milchig weisse Suppe...
»Ich dachte nur, das ganze würde hier etwas... spektakulärer aussehen. Nur weil wir ja jetzt alle von Mondkinds Schnitzeljagt-Prophezeiungs-Rätseln gelöst haben. Da sollte doch die Show erst richtig losgehen«, lachte Mile und wollte einen Fuss über die Schwelle setzen, doch Sabrina hielt ihn am Arm fest.
»Halt! Was, wenn das schonwieder so eine Rätselfalle ist? Wir haben jetzt schon mehr als einmal schmerzhaft lernen müssen, dass man hier auf nichts vertrauen darf. Das Erdbeben war ja wohl der beste Beweis dafür!«, zischte sie.
Er schüttelte sie ab und meinte: »Wenn wir es nicht versuchen, werden wir es niemals herausfinden.«
»Aber... Mile!«
Er grinste und zischte verschwörerisch: »Folge mir!«
Sabrina schnaubte und tat wie geheissen. Sie liess ihrem Bruder den Vortritt, dann schritt auch sie über die Schwelle.

Ihre Füsse landeten in weichem Gras und sofort entspannte sie sich. Mit jedem Atemzug, den sie tat, jeder Sekunde, in der der Nebel sie in seiner kühlen, nassen Umarmung festhielt, jedem Augenblick, den sie hier an dem Ort hinter der Tür verbrachte, fühlte sie sich geborgener, ausgeglichener und entspannter.
Dies war kein schlechter Ort, das wusste sie. Die Aura hier war so... ruhig, friedlich und so... unantastbar rein...
»Spürst du das?«, fragte sie ihren Bruder im Flüsterton.
Mile stierte konzentriert durch den Nebel. Ohne sich zu ihr umzudrehen fragte er: »Was denn?«
»Na...«, hauchte sie und suchte nach Worten, »Diese Ruhe. Es ist hier so friedlich.«
Nun drehte Mile sich zu ihr um und musterte sie. Sein Gesichtsausdruck schwankte stetig zwischen Belustigung und Sorge. Er legte den Kopf schief und gluckste: »Geht's dir gut?«
Sabrina nickte, schloss die Augen und seufzte.
»Okay...«, hörte sie ihn sagen. »Also, spüren tu ich nicht wirklich irgendwas. Es ist hier etwas zu kühl für meinen Geschmack und die Luftfeuchtigkeit ist auch kaum auszuhalten. Und ruhig... Ja, das kann ich bestätigen. Blöd ist, dass dieser Nebel einem einfach jede Sicht nimmt!«
Sabrina öffnete wieder ihre Augen und sah sich selbst etwas genauer um. Tatsache, man erkannte kaum etwas in dieser Suppe. Mile stand einen knappen Meter von ihr entfernt und schon konnte sie ihn kaum noch erkennen. Sie drehte sich einmal im Kreis und stellte noch etwas ärgerliches fest.
»Au man, Mile!«, rief sie und deutete in den Nebel.
»Häh?«, war die extrem geistreiche Bemerkung ihres Bruders, als er ihrem ausgestreckten Zeigefinger folgte.
»Da ist nichts!«, rief Sabrina aufgebracht.
»Sabrina, was ist denn mit dir los?«, fragte Mile, nun zu hundert Prozent besorgt.
Sabrina schlug sich vor die Stirn und rief: »Oh Himmel, Mile! Da. Ist. Nichts!«
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Da war nichts. Da, wo vorher etwas gewesen war. Nichts. Nicht mehr...
»Die Tür«, hauchte Mile, als er endlich verstand. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. »Sie ist weg!«
Sabrina schnaubte: »Oh! Wow, Captain Obvious! Sabitz! Hoffentlich sind wir hier richtig. Wenn nicht, haben wir echt Pech und werden in Mondkinds Birne bis an unser Lebensende festsitzen. Oh halt! Stimmt ja! Wir sind unsterblich. Toll.«
Mile runzelte die Stirn. Er lief zu der Stelle, wo zuvor das Portal ins LSD-Land gestanden war und untersuchte den Boden. Ein länglicher, quadratischer Streifen plattgedrückten Grasses war der einzige Hinweis darauf, dass hier zuvor etwas gestanden hatte. Sonst war da nichts.
»Vergiss es. Da ist nichts mehr«, maulte Sabrina frustriert. Aber so leicht liess sich ihr Bruder nicht unterkriegen. Wie sie es zuvor getan hatte, drehte sich nun auch Mile einmal um sich selbst. »Blöder Nebel«, brummte er verärgert. »Hier erkennt man einfach gar nichts!«
»Vom Regen in die Traufe«, kommentierte Sabrina schulterzuckend.
Mile lächelte sie warmherzig an, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. Dabei war ihr weder zum Scherzen zumute noch konnte sie den Witz in ihrer Aussage finden.
»Findest du? Diese dürren, gesichtslosen Anzugstypen waren mein absolutes Highlight dieser Schnitzeljagt des Horrors. Dagegen ist so ein bisschen Nebel doch gar nichts. Und aus dieser Höhle raus zu kommen war auch eine echte Erleichterung.«
Sabrina nickte und meinte dann: »Wo wir gerade dabei sind... Ich glaube, dieser Wahrheitsfluch oder was auch immer das war, hat sich aufgelöst. Ich kann jedenfalls denken, an was ich will, ohne gleich alles wieder auszuplappern.«
Mile hielt kurz inne, zog die Augenbrauen hoch und presste die Lippen aufeinander. Ein paar Sekunden später entspannten sich die Gesichtszüge ihres Bruders und er nickte. »Stimmt!«
»Gut, nachdem wir das ausgetestet haben, können wir uns jetzt über das nächste Problem aufregen«, seufzte Sabrina.
»Wohin jetzt?«, brachte Mile es auf den Punkt.
»Als wir aus der Tür raus sind, haben wir in die Richtung«, sie deutete irgendwo in das weisse Nichts, »gesehen. Ich denke, das wäre die sicherste und einfachste Lösung.«
Mile nickte und setzte sich in Bewegung. Sabrina tat es ihm nach.

Es war, als würde man versuchen, mit geschlossenen Augen eine gerade Linie zu malen. Gut, ein kleines bisschen konnten sie sehen. Trotzdem. Es war ja schwer genug, bei guter Sicht nicht vom Kurs ab zu kommen, aber das hier war... praktisch eine Aufgabe der Unmöglichkeit!
Da Miles Feuer ständig ausging, da die Luftfeuchtigkeit viel zu hoch war, war nun Sabrina dran mit Licht machen. Ihrer Meinung half der blaue Schein ihrer Eiskugel überhaupt nicht, aber Mile, dieser zwanghafte Optimist, bestand fest darauf, so mehr sehen zu können, also liess sie ihr Eis wo es war.
Viel verpassen taten sie durch den Nebel eigentlich nicht. Da war kein Baum, kein Fels, nichts als Gras und weisse Suppe. Dieser Ort musste fürchterlich langweilig aussehen, ohne den Schleier, der jede Sicht auf ihn verbarg.
»Wenn wir wenigstens sicher sein könnten, noch in die richtige Richtung zu laufen. Wir sind bestimmt schon weit vom Weg abgekommen«, murmelte Sabrina frustriert.
»Ich dachte, wir scheissen hier aufs Schicksal?«, fragte Mile mit einem süffisanten Grinsen.
Sabrina legte den Kopf schief und seufzte tief. Sie konnte sich jetzt nicht auf Miles Witzeleien einlassen. Sie hatte genug von all ihren ausserkörperlichen Reisen. Sie wollte wieder zurück in die Realität. Aber natürlich musste Mondkind es ihnen mal wieder absichtlich schwer machen.
»Sieh mal!«, rief Mile und deutete geradeaus. Voller Hoffnung riss Sabrina den Kopf hoch und folgte Miles ausgestreckten Zeigefinger, doch sie konnte nichts erkennen.
»Kann es sein, dass du gerade mal wieder deine Lichterlordkräfte einsetzt und ich das was du siehst, nicht sehen kann? Das hoffe ich jedenfalls für dich, denn wenn nicht, muss ich dich leider in die Klapse einweisen lassen, Bruderherz«, schnaubte sie etwas genervt.
Mile blinzelte, dann sah er sie an und lächelte. »Erwischt. Manchmal vergesse ich einfach, dass du nicht...«
»Ja, ich habe keine Super-Sinne. Ich darf mich mit meinen eigenen Flüchen begnügen. Aber egal. Was hast du gesehen, Mile?«
Er zuckte mit den Schultern und antwortete: »Eine Felswand. Sie ist nicht weit entfernt.«
»Okay, aber ich verstehe jetzt nicht ganz, inwiefern uns das jetzt weiterhilft.«
»Es ist etwas, an dem wir uns orientieren können.«
»Und wie stellst du dir das vor, Kolumbus?«
»Wir könnten an dieser Wand entlanglaufen. Wer weiss, vielleicht entdecken wir ja etwas.«
So liefen sie weiter, bis sie tatsächlich auf die Felswand stiessen. Sie war aus massivem, dunkelbraunem Granit. Sie war rau, doch trotzdem zu glatt, um an ihr hinaufklettern zu können. Sie bot keine Risse oder Vorsprünge, an denen sie sich hätten hochziehen können, darum beschlossen sie, wie Mile es vorgeschlagen hatte, einfach an der Wand entlang zu gehen.
Mit jedem Schritt sank Sabrinas Laune mehr. Sie hasste es, so ziellos herumzuirren. Sie wussten ja nicht einmal, nach was sie suchen mussten.
Mile hingegen schien mit jeder Minute aufgeregter zu sein. Seine Schritte wurden immer beschwingter und fedriger. Und auf einmal lächelte er.
»Was?«, fragte Sabrina gedehnt.
Mile grinste noch breiter. Seine Waldaugen blitzten frech.
»Was?«, schnaubte sie und wedelte drohend mit dem Zeigefinger. »Mile, ich frage nicht noch einmal.«
»Ich glaube ich höre sie. Mondkind. Sie... Ich glaube, sie singt«, erklärte er.
»Und das sagst du erst jetzt?!«, keifte sie.
»Sabrina, ich war mir anfangs nicht ganz sicher, ob das wirklich Mondkind ist. Was... was, wenn das erneut irgendeine Falle ist? Aber...«
»Aber was?«
»Aber ich habe das Gefühl... nein, kein Gefühl, ich weiss es ist Mondkind. Etwa dreihundert Meter in die Richtung, in die wir gerade gehen.«
Sabrina musterte ihren Bruder. Sie wusste, was er meinte. Tja, Mile und seine Eingebungen...
»Dann los«, seufzte sie. »Führe uns in Richtung Mondkind!«


~Mile~

Eigentlich sollte er das ja nicht geniessen dürfen. Es war nicht fair und auch ziemlich gemein. Schliesslich hatte Sabrina einfach immer riesen Pech. Trotzdem war es immer wieder köstlich, wie sehr es sie aufregte, wenn er etwas konnte und sie nicht. Vor allem da sie – was ihm absolut ehrlich leid tat – durch ihre Fähigkeiten eher verflucht als begabt war.
»Weisst du eigentlich, wie sehr ich dich hasse?«, brüllte Sabrina gegen den Wind. Sie presste ihre Oberschenkel noch fester gegen seine Flanken und krallte sich extra fest an seiner Brust fest. Das tat sie absichtlich, das wusste er genau.
»Nö, Schwesterherz, ich weiss nur, wie sehr du mich liebst«, rief er und schmunzelte.
Nachdem er seiner Schwester erzählt hatte, dass er dank seiner übernatürlichen Sinne Mondkind hören und sie beide zu ihr führen könnte, waren sie Mondkinds Stimme gefolgt. Doch da sie kaum vorankamen, hatte Mile seiner Schwester angeboten, sie zu tragen. Tja, nun rannte er durch diese Nebelwelt mit Sabrina Huckepack auf seinem Rücken. Um fair zu sein, anfangs war sie nicht ganz freiwillig auf seinem Rücken gelandet, er hatte sie sich über die Schulter geworfen. Erst nachdem sie einige Minuten auf seinen Rücken eingeschlagen hatte, hatte er ihr angeboten, sie auf eine angemessenere Weise zu tragen. So hatte sich ihre jetzige Situation entwickelt.
»Du bewegst dich auf dünnem Eis, grosser Bruder. Auf sehr, sehr dünnem Eis«, drohte sie und liess ihren Körper ein wenig, aber trotzdem spürbar, abkühlen.
»Wie das Schicksal es nun einmal festgelegt hat, bin ich, süsses, kleines Schwesterchen, der Lichterlord. Wie du mir, so ich dir«, lachte er und sein Körper wurde zur menschlichen Herdplatte.
Sabrina quiekte und Mile liess die Hitze abebben.
»Hey! Das hat weh getan!«
»Zier dich doch nicht so. Als ob dich das bisschen Hitze verletzen könnte.«
Sabrina schnaubte und rief: »Bescheuertes Schicksal. Ich wäre niemals so verantwortungslos gewesen und hätte dich zum Lichterlord gemacht. Du bist echt gemeingefährlich, Mile. Wirklich ein sehr unfähiges Schicksal. Man sollte es bestrafen.«
»Du willst das Schicksal bestrafen? Wie denn? Das Schicksal ist... das ganze Universum«, antwortete Mile.
»Ich werde schon noch herausfinden, wie ich das Universum bestrafen kann, glaube mir«, verkündete sie voller Überzeugung. Dann lachten sie beide. Es war herrlich, wie sie miteinander herumalbern konnten.
Doch im nächsten Moment verschlug es Mile das Lachen.
Er konnte etwas riechen...
Altes Holz, Vögel, Pergament und Moos.
Er kannte diesen Geruch.
»Mondkind«, hauchte er und erschrak, als er bemerkte, dass der Wind seine Worte nicht mehr schluckte. Ohne es zu realisieren, war er stehen geblieben.
»Willst du mich umbringen?! Wieso bleibst du einfach stehen? Du hättest mich beinahe erneut durch die Gegend geschleudert. Nur, dass hier kein See ist, in den ich fallen könnte und ich will wirklich nicht testen, wie gut dieses Matschgras Stürze abfängt, okay?«, zischte Sabrina ihm ins Ohr. Ihre Stimme war gedämpft. Seine Schwester gehörte zu den temperamentvollsten Frauen, die er kannte, doch auch sie musste bemerkt haben, dass hier etwas anders war. So sprach sie jetzt leiser. Kluges Mädchen!
»Ich rieche... Mondkind... glaube ich. Altes Holz, Vögel, Pergament und Moos... So riecht sie, das weiss ich...«, murmelte er und starrte in den Nebel.
Sabrina zappelte auf seinem Rücken herum und knurrte: »Ich kann nichts riechen. Aber die Gerüche, die du beschreibst, die passen zu Mondkind. Kein Wunder. Die Kleine hat Jahrzehnte zusammen mit Vögeln, Dieben und Bekloppten in einem alten Baum gewohnt. Ich glaube kaum, dass man da nicht irgendwann riecht wie sie es jetzt tut.«
»Ich... kann die Quelle des Geruchs nicht ausfindig machen. Er ist so fein, kaum als Hauch zu bezeichnen. Und dieser Nebel ist nicht gerade hilfreich. Es ist fast so, als würde er versuchen, den Geruch zu überlagern... Versprich mir, jetzt einfach mucksmäusschen still zu sein, verstanden? Bist du es nicht, werden die Sinneseindrücke mich überrollen. Also sei jetzt bitte ganz still!«, flüsterte Mile. Sabrina sagte nichts, was Mile Antwort genug war. Und dann hatten all seine Sinne auf die höchste Stufe aufgedreht. In der realen Welt wäre das unerträglich gewesen. All die unendlich vielen Wesen... Alleine ein vollkommen aufgedrehter Gehörsinn hätte ihn da umgebracht, doch hier... Oh Himmel, hier...
Er fühlte alles pulsieren. Jeder Grashalm der sich mit den Luftströmen bewegte, wirbelte ebenfalls etwas Luft auf und diese traf auf Miles Haut. Er spürte, wie das Leben lebte und ihn berührte mit Windhänden aus Universum. Er konnte den Nebel singen hören. Wie er wogte und wallte und tanzte. Er kroch um sie herum und verschluckte alles wie ein grosser, weisser Ozean. Dabei rauschte er wie helle, kalte, scharfe Atemzüge. Atemzüge des Nebels wie ein Lied aus nichts. Und er sah, was er noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah, wie Kleinstes sich zu Grossem fügte. Unzähliges wie eines. Atome und Moleküle und Winzig wie Riesig. Und dann benutzte er seine Nase. Sofort riss er auch den Mund auf, denn was er riechen konnte... am liebsten hätte er sofort alles verschlungen. Wie die alberne Fantasie eines Kindes, so wurde es zu seinem sehnlichsten Wunsch die Welt zu verspeisen. Er atmete Nebel aus Atomen und er schmeckte jeden Stoff, den die Natur erschaffen hatte. Kein Gourmetkoch jeder existierenden oder nicht existierenden Welt könnte jemals in irgendeiner Zeit, nicht Zukunft, nicht Vergangenheit, nicht Gegenwart, nicht einmal in der Ewigkeit so etwas zubereiten, wie Mile es nun schmecken und riechen konnte.
Und so schaltete er sich ab.


~Sabrina~

Sie versuchte so flach zu atmen, wie sie nur konnte. Sie wusste, wie es war, von zu vielen Sinneseindrücken auf einmal attackiert zu werden. Gut, bei ihr waren es fremde Gedanken und nicht ihre eigenen Sinne, doch sie war sich sicher, dass auch diese einen mit Leichtigkeit Höllenqualen leiden lassen könnten. Also versuchte sie sich so unscheinbar wie möglich zu machen. Sie sah Mile nur zu. Er stand ohne Regung da. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, denn er hatte ihr den Rücken zugedreht.
Zwar frass die Ungeduld sie beinahe auf, doch sie hatte ja keine andere Wahl, als zu waren. Also wartete sie. Sie wartete. Und sie wartete und sie wartete und wartete und wa...
Mile kippte um. Wie eine Marionette, der man gleichzeitig alle Fäden durchgeschnitten hatte. Einfach so. Da lag er.
»Mile? Mile?«, rief sie und kniete sich neben ihren Bruder. Er lag auf der Seite, also drehte sie ihn auf den Rücken, um ihn besser schütteln zu können. »Lass das! Das ist nicht witzig«, fuhr sie ihn. Wut war einfach noch immer die beste Verteidigung gegen Angst. Trotzdem konnte ihr Zorn, mit dem sie versuchte die quälende Sorge um ihren Bruder wegzuwischen, den Kloss, der sich langsam aber sicher in ihrem Hals festsetzte, nicht vertreiben. Denn natürlich wusste sie, dass Mile sie nicht erschrecken wollte. So konnte niemand zusammenbrechen. So, als wäre auf einen Schlag alles weg. Kraft, Leben, Wille, Verstand... Und Mile war ein beschissener Lügner, was ihn auch zu einem beschissenen Schauspieler machte. Und ausserdem war das nicht sein Stiel. Wenn er ihr einen Schrecken einjagen wollte, versteckte er sich hinter einer Ecke und sprang dann mit Gebrüll aus seinem Versteck. Das hier, das spürte sie, war anders.
»Mile? Was ist los?«, fragte sie und schüttelte ihn weiter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie weinte. Es war einfach zu viel. Sie hatten es doch so weit geschafft! Und nun klappte ihr Bruder einfach so zusammen?
»Mile! Verdammt, du sollst aufwachen!«, schluchzte sie und klatschte ihm eine. Keine Reaktion. Also schrie sie ihn an, er solle aufwachen, er solle endlich aufwachen. Durch den verschwommenen Vorhang ihrer Tränen sah sie, wie ihr Bruder den Mund aufriss und... schmatzte?!
Sie keuchte: »Was zum...«
»Dummi! So ein Dummi!«
Sabrina riss den Kopf hoch. Sie blinzelte die Tränen weg und starrte in die violetten Augen ihrer Cousine.
»Mondkind?«, rief Sabrina erschrocken und zuckte zurück. »Wo kommst du denn her?«
Das Mädchen, das auf einmal wie aus dem nichts neben ihr stand, zuckte die Schultern und meinte: »Ich habe dich schreien gehört und da bin ich zu dir gekommen. Aber wir müssen uns beeilen, sonst werden die anderen ganz böse.«
»D... die anderen?!«, stammelte Sabrina vollkommen perplex.
»Ja, die schimpfen. Sie haben gesagt, ich darf nicht helfen kommen. Das ist aber gemein. Aber ihr müsst es doch schaffen, weil ihr sonst nicht alle retten könnt, also ist es mir egal, was die anderen sagen werden.« Während die Kleine sprach, watschelte sie zu Miles Kopf, bückte sich hinab und bohrte ihre Finger in die lockere, feuchte Erde. Sie zog einen ordentlichen Dreckklumpen heraus und stopfte diesen in Miles aufgerissenen Mund.
»Bist du verrückt?!«, kreischte Sabrina und stiess Mondkind zur Seite, um ihren Bruder davor zu bewahren, an Mondkinds „Sandkuchen" zu ersticken.
»Nein, lass das! Sabrina, siehst du es nicht? Dein Dummi-Bruder hat seine Augen und Ohren und sein Berührgefühl ausgemacht. Das einzige, das er jetzt noch kann, ist zu riechen oder schmecken. Dummi. So ein Dummi«, plapperte sie und stellte sich Sabrina in den Weg.
»Bitte was?«, fragte Sabrina verwirrt. Irgendetwas an Mondkind war anders. Irgendetwas war nicht wie sonst. Irgendetwas...
Mile bäumte sich auf und hustete...


~Mile~

Er liess alle seine Sinne abstumpfen, bis er sie sich kaum noch daran erinnern konnte, sie jemals besessen zu haben.
Nur nicht seinen Geruchs und Geschmackssinn. Den liess er, wie er war. Vollkommen und ausfüllend und so unverzichtbar. Und so konnte er die Welt verspeisen...
Doch auf einmal war da etwas... Es drängte sich in die Vollkommenheit und breitete sich aus. Wie ein stetiger Tropf Tinte, der das klare Wasser blau werden liess und das so lang, bis es beinahe schwarz gefärbt war. Also wehrte sich Mile. Er versuchte die Tinte, die nicht in seine Vollkommenheit gehörte, auszublenden. Er wollte sie verscheuchen, wegjagen, verbannen. Wieso nahm es ihm seinen Frieden? Mit einem Mal hasste Mile diesen Eindringling. Er hasste ihn mit aller Kraft und der Flammenhass übernahm seine Sinne. Er wollte dieses Etwas, diese Tinte, diesen Eindringling brennen lassen. Er wollte sehen, wie die Flammen ihn verschlingen würden. Er wollte dem wütenden Fauchen des Feuers lauschen. Er wollte die Hitze auf seiner Haut spüren. Er wollte den beissenden Qualm riechen und er wollte Asche auf seiner Zunge schmecken.
Also aktivierte er all seine Sinne.

Er lag im Gras und spuckte Erde. Etwas schrie ihm ins Ohr. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu kapieren, dass Sabrina ihn anbrüllte: »Du hast 'se ja wohl nicht mehr alle! Bist du bescheuert! Was sollte denn das?!«
Mile konnte nicht antworten. Er konnte eigentlich nicht einmal mehr atmen!
»Da machst du eins Super-Mile, strengst deine Mega-Sinne an und dann? Dann fällst du um wie ein nasser Sack, glotzt wie ein Toter ins Nichts, bewegst dich nicht, sagst nichts...«
»Sinne... abgestellt... konnte... nur...«
»Wieso stellst du deine Sinne ab? Ich habe dich angeschrien, habe dich geschüttelt, dir eine geknallt... Aber du hast nicht reagiert.«
Mile spuckte noch einmal aus, dann drehte er sich zu seiner Schwester um. Sie hatte geweint, das konnte man noch immer sehen. Nun... jetzt weinte sie nicht mehr. Sie war nur noch stinksauer.
»Wieso habe ich Erde im Mund, Sabrina?«, fragte er und verzog das Gesicht.
»Weil dein einziges Lebenszeichen war, deine Klappe so weit aufzureissen, dass ich schon gedacht habe, du würdest dir gleich den Kiefer ausrenken. Aber stattdessen hast du nur geatmet und so komisch geschmatzt.«
»Und da wirfst du mir Erde in den Rachen?«, fragte Mile entgeistert. Er richtete sich auf und hustete. Die verdammte Erde!
»Nein«, zischte Sabrina, »das war sie!«
Miles Blick folgte Sabrinas ausgestrecktem Zeigefinger und erfasste...
»Mondkind?«
Tatsache. Da stand sie. Keine zwei Meter entfernt. Das kleine Mädchen mit dem grossen Geheimnis. Um sie herum schien der Nebel sich zu lichten, als würde das Kind ihn verscheuchen.
»Hallo Mile«, kicherte sie mit ihrer samtenen, glockenhellen Stimme. »Tut mir leid, das mit dem Dreck in deinem Mund. Aber so viel Riechen und Schmecken, das ist eine ziemlich doofe Sache und man muss zu bösen Sachen greifen. Auch wenn es Dreck ist. Du darfst das nie wieder, hörst du? Du darfst nie, nie wieder einen deiner Sinne abschalten! Wenigstens hast du deinen Geschmacks-und Geruchssinn aufrechterhalten, die sind leicht gesund zu machen...«
»Ah... okay...«, stammelte Mile und starrte seine Cousine an. Sie sah beinahe aus wie immer. Diese unnatürlichen, weisen Kinderaugen, das schwarze Haar, in das Perlen, Glöckchen und bunte Bänder eingeflochten war, die helle Haut, die magere Gestalt, ja, sogar ihr typisches, bodenlanges Kleidchen hatte sie an. Und natürlich war sie barfuss. Nur etwas an ihr war neu... Da waren Ketten. Kein Schmuck. Ketten. Schwer und aus poliertem Eisen. Sie waren so dick wie Miles Handgelenk. Die Kette wand sich um Mondkinds Hals, führte zu ihren Handgelenken und weiter zu ihren Knöcheln, wo sie je mit eisernen Schnallen an besagten Körperteilen befestigt waren. Mondkind schien sich zwar frei bewegen zu können, doch das Eisenband um ihren Hals erschien Mile doch etwas zu eng.
Mile sah zu seiner Schwester, denn diese Ketten hatten ihn nun doch aus der Fassung gebracht. Wieso trug Mondkind diese Dinger? Was sollte das hier?
Sabrinas Gesichtsausdruck nach, schien seine Schwester die Ketten erst jetzt zu bemerken. Sie musste zuvor wohl zu sehr von seinem... Zusammenbruch abgelenkt gewesen sein...
»Mondkind? Was... was sind das für Ketten?«, fragte Mile und ging auf seine Cousine zu. Er liess sich vor ihr auf die Knie nieder und streckte die Hände aus, um die Kleine von ihrer schweren Last zu erleichtern, doch Mondkind schob sie mit einer unerwarteten Kraft und Entschlossenheit weg.
»Das ist schon richtig so, wie es ist, Mile. Keine Sorge, mir geht es gut. Viel wichtige ist, ob ihr beide die Reise gut überstanden habt?«, besänftigte sie ihn.
»Gut überstanden?«, quiekte Sabrina mit einer etwas zu schrillen Stimme. »Ob wir... Gut überstanden?! Okay, wenn man mal nicht hinzuzählt, dass wir von gruseligen, gesichtslosen Anzugtypen gejagt wurden, aus mörderischen Höhen abgestürzt sind, von einem Erdbeben verschüttet und durch eine Psycho-Wahrheit-Höhle um den Verstand gebracht wurden, Mile in dieser Nebelwelt beinahe zu einem katatonischen Fleischsack mit übernatürlichem Geschmacks-und Geruchssinn mutiert ist... Dann ja. Ja, unsere Reise war die reinste Wellnesscour. Scheisse, Mondkind! Was ist hier nur los? Was sollte das alles? Erst träumst du mich zum Zeitpalast, wo ich beinahe abgemurkst worden bin und nun hast du Mile und mich hierher bringen lassen wo wir – mal zur Abwechslung – auch fast krepiert sind!«
Mondkind legte den Kopf schief und fragte: »Hat man euch denn nicht gewarnt? So eine Reise ist sehr gefährlich.«
»Ach, echt?«, antwortete Sabrina mit gnadenlos übertriebenem Sarkasmus.
»Ja! Ja, echt!«, schwor Mondkind, die es tatsächlich ernst meinte.
Mile runzelte die Stirn. Irgendetwas an Mondkind stimmte nicht. Da war etwas an ihrer Art... Er kannte die Kleine zwar noch nicht so lange wie seine Schwester es tat, doch trotzdem war er sich sicher, dass sich das Mädchen nicht so verhielt, wie er es von ihr gewohnt war. Dieser Gedanke liess ihm keine Ruhe und er fragte: »Mondkind? Könntest du uns bitte erklären, wieso wir hier sind? Und warum du diese... Schnitzeljagt für uns veranstaltet hast? Und bitte klär mich darüber auf, wieso du gekettet bist, denn lange werde ich das nicht mit ansehen....«
Mondkind sah zu Boden und hüpfte von einem Fuss auf den anderen. Etwas kleinlaut sagte sie: »Ich weiss auch nicht alles. Aber ich kann ganz schlecht Geschichten erzählen. Ich will es euch zeigen. Die anderen können euch mehr erzählen als ich. Aber wir müssen uns jetzt beeilen. Sie haben bestimmt schon gemerkt, dass wir weg sind!«
Sie.
Mile lief ein Schauer über den Rücken.
Sie.
Er erinnerte sich daran, wie Sabrina, Red, Falk und er Nebelfinger und dem Hutmacher gegenübergestanden war. Vor dieser Reise. Und da hatte Nebelfinger sie auch er wähnt.
Sie.
Wer waren... sie?
Mile richtete sich auf. Er drehte sich zu seiner Schwester um, ging zu ihr und nahm ihre Hand in seine. Er wandte sich wieder an Mondkind und sagte: »In Ordnung. Wir folgen dir, Mondkind.«


~Sabrina~

Sie schleppte sich vorwärts. Bei jedem Schritt klirrten die schweren Ketten.
Es war ein Anblick, der einem das Herz brechen konnte. Mondkind, dieses kleine, geheimnisvolle Mädchen, das von der Last dieser Ketten beinahe in die Knie gezwungen wurde. Und doch war sie so willensstark und tapfer wie jeder Krieger in den Reihen der Rebellen. Denn sie liess sich nicht helfen. Egal wie oft die Geschwister ihrer Cousine helfen wollten, egal wie erschöpft Mondkind war, sie liess sie die Ketten nicht einmal berühren.
»Das ist meine Last«, sagte das kleine Mädchen mit dieser eigenartigen Weisheit und Ernsthaftigkeit, wie sie eigentlich kein kleines Kind besitzen konnte. »Das sind meine Ketten. Das ist meine Aufgabe. Niemand kann sie mir nehmen. Ich bin was ich bin. Das ist mein Fluch und ich werde ihn gewiss keinem anderen auferlegen.«
Aufgabe? Fluch?
Aber Mondkind wollte ihnen keine Antwort geben. Sie sagte nur immer wieder, sie würde es ihnen zeigen. Also liessen sie der Kleinen ihren Willen, auch wenn es sie quälte, zusehen zu müssen, wie sie sich quälte.
Der Nebel schluckte alles. Zeit und Raum, Licht und Schatten. Da war nur diese weisse Stille. Da waren keine Bäume. Da waren keine Felsen. Da war nichts. Nur das feuchte Gras unter ihren Füssen. Doch Mondkind kannte diese Welt. Kein Wunder, dies war ihre Welt. Ihr Unterbewusstsein. Das war sie. Darum schien sie keine Probleme zu haben, sich hier zu orientieren. Sie hatte eine Richtung eingeschlagen und hielt den Kurs. Wo ihre Füsse den Boden berührten, da schien der Nebel sich zurück zu ziehen. Tatsächlich bildete er eine Art Kuppel aus klarer Luft um sie.
Wie lange sie dem kleinen Mädchen nun schon folgten, das wusste Sabrina nicht. Die Zeit war hier kaum zu messen. Wie auch? Hier wurde es nicht hell oder dunkel. Hier gab es keine Sonne, keinen Mond und keine Sterne. Hier war nur Nebel.
Und irgendwann gelangten sie zu einem Abgrund. Als hätte ein riesenhaftes Wesen sein Schwert in den Boden gerammt und sich ein Stück der Welt abgeschnitten. Eine Kluft, so breit, dass man nicht auf die andere Seite sehen konnte, wie ein Riss in der Erde. Eine klaffende Wunde der Welt.
Mondkind sagte kein Wort. Sie ging einfach am Rande der Klippe entlang, ohne auch nur einen Blick in die Tiefe zu verschwenden.
Sabrina hingegen musste hinab sehen. Sie war beinahe enttäuscht, als sie feststellte, dass sie den Grund der Klippen nicht sehen konnte, denn der Nebel hatte sich auch hier ausgebreitet.
Und so gingen sie weiter. Irgendwann schien Mile die Langeweile nicht mehr aushalten zu können und er sang leise: »Ich muss durch den Monsun, am Abgrund entlang...«
Das brachte Sabrina zum Lachen und sie boxte ihren Bruder in die Seite. Dann wurde sie ernster. Sie sah zu ihm auf und fragte im Flüsterton: »Mile, wieso hast du das vorhin gemacht. Wieso hast du all deine Sinne abgestellt. Wieso hast du... mich alleine gelassen?«
Das schien ihren Bruder sehr zu treffen. Das schlechte Gewissen liess seine sonst so munteren Augen traurig werden und er legte ihr einen Arm um die Schulter. »Das war nicht geplant«, murmelte er. »Es tut mir wirklich leid, Sabrina. Aber du hättest das... fühlen müssen. Ich habe all meine Sinne voll aufgedreht. Aber dann habe ich einfach... alles riechen und schmecken können. Das war... als würde ich vom Leben selber speisen. Das war so wundervoll, so perfekt... Ich konnte kaum noch denken, ich wollte nur noch in diesem einen Sinn versinken und nie wieder auftauchen.«
Sabrina drückte ihn an sich und zischte: »Wehe du tust das nochmal. Diese Welt ist zu gefährlich. Wir sind doch gewarnt worden. Hier verliert man sich zu leicht selbst.«
Mile streckte den Arm aus und deutete in den Nebel. »Sieh mal«, meinte er aufgeregt.
Und dann sah Sabrina es auch. Den schwarzen Schatten im Weiss. Er war länglich und stand auf Stelzen, die vermutlich kilometertief bis zum Grund der Weltenwunde führte. Der Schatten begann etwa zehn Meter vor ihnen und hing an dem Rand der Klippe. Er führte immer weiter in den Nebel. Immer mehr Stelzen trugen ihn über die Klippen. Bestimmt auf die andere Seite...
Als sie näher kamen, erkannte Sabrina, was der Schatten war.
Eine gigantische Brücke.
Sie war so breit wie eine vierspurige Autobahn. Dicke Wände und Säulen aus einem leicht transparenten violetten Gestein trugen ein Dach aus Zinn. Der Boden der Brücke unterschied sich nicht von dem, auf dem sie gerade standen. Als hätte die Erde beschlossen, sich einen Finger wachsen zu lassen, der die andere Seite der Klippe berühren sollte. Das nasse Gras wuchs stark und gesund aus diesem Erdfinger wie ein schützender Pelz.
»Was ist das?«, fragte Sabrina staunend.
»Das ist die Brücke, die uns zu einem Ort führt, die nur auserwählte Personen betreten dürfen. Nur Wesen wie ich. Selten solche wie ihr. Aber ihr habt alle Prüfungen bestanden, auch wenn ich euch bei der letzten geholfen habe. Aber wir haben nicht genug Zeit, als hatte ich keine andere Wahl. Die anderen werden zwar böse auf mich sein, aber das macht nichts. Das macht nichts. Gar nichts«, murmelte Mondkind und setzte ihren Fuss auf die Brücke. Kurz hielt sie inne und atmete tief ein, dann lief sie weiter.
Unsicher sah Sabrina zu ihrem Bruder auf, der jedoch nur die Schultern zuckte und Mondkind nachlief. Also tat sie es ihm gleich und folgte den beiden.

Klar war, dass diese Brücke übernatürlich war. Sie schien vor Magie nur so zu pulsieren. Sabrina fuhr immer wieder mit den Fingern an der Steinwand entlang. Sie musste aus Amethyst bestehen, denn ihre Farbe war exakt die gleiche wie die des Whispers, den Mondkind um ihr Handgelenk trug. Amethyst... Die Farbe von Mondkinds Augen...
Die Brücke schien kein Ende zu nehmen. Ausserdem hatte Sabrina das Gefühl, dass sie immer steiler zu werden schien. Wann auch immer sie aus einem der Fenster sah, die in die Wände eingelassen waren, sah sie nur weissen Dunst.
Irgendwann sagte Mondkind: »Diese Brücke wächst. Sie steht seit die Urherrscher sie erbauen liessen und sie wird vermutlich erst dann aufhören, zu existieren, wenn die Märchenwelt es tut. Jeder Pfeiler, der die Brücke in die Höhe stemmt, steht für ein Leben. Und für jedes Leben, das endet, wächst die Brücke und ein neuer Pfeiler wächst aus dem Boden. Wenn ich irgendwann sterbe, werde ich auch einen Pfeiler bekommen.«
»Wie bitte? Was? Mondkind, was ist das?«, fragte Mile.
»Ich kann euch das nicht jetzt erklären. Erst wenn wir angekommen sind.«
»Wo denn? Wo werden wir ankommen?«, maulte Sabrina.
Mondkind seufzte. Sie drehte sich zu ihnen um und flüsterte: »Ich werde euch sagen, wo wir hingehen, aber ihr müsst mir versprechen, danach still zu sein. Sprecht kein Wort, bis wir angekommen sind. Dies ist ein heiliger Ort. Diese Brücke führt uns zum Tempel der Orakel. Und nun schweigt.«
Schweigen? Das fiel Sabrina nicht schwer, denn es hatte ihr tatsächlich die Sprache verschlagen.
Der Tempel der Orakel? Was hatte das zu bedeuten? Wieso waren sie hier? Was hatte Mondkind mit alle dem zu tun? Sie hatten doch nur herausfinden wollen, was Mondkinds Preis gewesen war. Dieser Preis, dieser unbeschreiblich hohe Preis, von dem Nebelfinger ihr erzählt hatte. Doch nun waren sie auf dem Weg zu irgendeinem Tempel?
Aber versprochen war versprochen und Sabrina sagte nichts. Auch Mile schwieg. So eilten sie weiter über die Brücke, die sie hoffentlich bald zu diesem Tempel führen würde. Zu diesem Ort, wo sie endlich ihre Antworten bekommen würden...

Jedem ist das Prinzip der inneren Uhr bekannt. Manchmal geht sie vor, manchmal nach und nur in seltenen Fällen stimmt sie immer. Ein Uhrwerk besteht aus Mechanik, aus kleinen Teilchen wie Zahnrädern, Schrauben und Bolzen. Und dann tickt es und dreht sich im Einklang miteinander und schenkt einem die Zeit die man hat oder eben nicht hat, haben will oder nicht haben will, sich wünscht, geschenkt bekommt oder einem weggenommen wird.
Und manchmal gehen Uhren kaputt. Dann bleiben sie stehen oder machen Fehler und so ist es ja eigentlich auch mit der inneren Uhr.
Wenn etwas nicht stimmt, dann läuft sie falsch. Beispielsweise wenn uns langweilig ist, da kann so manche Uhr einem vorspielen, die Zeit müsste doch eigentlich viel schneller verstreichen. Oder dann, wenn da diese Momente sind, von denen wir uns wünschen, sie würden niemals aufhören, doch dann sind sie schon verflogen und wir fragen uns, wie das so schnell gehen konnte.
Und in Mondkinds Nebelwelt, auf der Brücke die zum Tempel der Orakel führte, hier lief die innere Uhr auch nicht richtig. Langeweile oder schöne Momente hatten damit leider nichts zu tun. Schön wär's. Nein, hier war es das Nichts und diese Eintönigkeit, die einem vollkommen das Zeitgefühl verlieren liess. Die innere Uhr war kaputt, stehen geblieben, ging nach oder vor...
Mittlerweile waren Sabrinas Sinne schon so abgestumpft, dass sie die Veränderung gar nicht bemerkte. Sie war blind gewesen. Nicht lange, aber trotzdem blind. Blind vor frischem Gras, blind vor violetten Amethystwänden und blind vor weissem Nebel, doch nun war sie nicht mehr blind und sie sah die Veränderung.
Kein Gras mehr. Pflasterstein. Grau und abgeschliffen von der Zeit.
Sie hob den Kopf und fand sich an einem Ort wieder, der ganz anders war, als die Brücke, die sie hierher gebracht hatte. Es war auch keine Nebelwelt. Kein blauer Wald oder ein Blumenmeer und auch keine Höhle. Das hier war anders...
Säulen umringten sie. Säulen, so hoch und dick. Sie waren geriffelt und an beiden Enden durch feine Meisselarbeiten verschönert, so wie in griechischen Tempeln. Ebenso erinnerte auch das Dach, das von den Säulen getragen wurde, an die antiken Griechen. Sabrina drehte sich um, um hinter sich zu blicken. Sie sah die Brücke, die direkt an den Tempel ansetzte.
Das war dieser Ort nämlich. Ein Tempel. Ein alter, griechischer Tempel, wie er im Buche stand. Nichts als nackter Pflasterstein. Einzig ein rustikalen Altar, der in der Mitte stand. Er war aus Amethyst, wie die Wände der Brücke es gewesen war.
»Das ist er? Der Tempel der Orakel?«, fragte Mile mit gedämpfter Stimme. Mondkind antwortete ihm nicht. Sie lief geradewegs zu dem Altar. Sie reckte die Arme in die Höhe, legte ihre Hände auf die schwere Steinplatte und versuchte sich hoch zu ziehen. Sie war so klein, konnte kaum über die Kante sehen. Natürlich gelang es ihr nicht, sich hochzuziehen. Also lief Sabrina zu ihrer Cousine, um ihr zu helfen. Sie hob das kleine Mädchen hoch und setzte es auf den Altar. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, wie schwer Mondkind war. Das lag natürlich nicht an Mondkind selbst, schliesslich war sie ja nur ein vierjähriges Kleinkind und wog kaum etwas, nein, es waren die Eisenketten, die ihr Gewicht so nach unten zogen.
»Danke«, flüsterte die Kleine und nickte Sabrina zu.
Mile hatte sich mittlerweile zu ihnen gesellt, setzte sich neben Mondkind auf den Altar und liess die Beine schaukeln. »Und was machen wir jetzt?«, fragte er und liess seinen Blick von einer Säule zur anderen springen.
»Du wolltest uns doch etwas zeigen, nicht?«, flüsterte Sabrina, der dieser Tempel nicht ganz geheuer war. Auch hier kroch der Nebel zwischen den Säulen über den Pflasterstein und verschleierte die Wirklichkeit.
Mondkind sah Sabrina an und patschte mit ihrer Kinderhand auf den Altar. Sie wollte, dass auch sie sich neben sie setzte. Sabrina folgte ihrer Einladung.
Zu dritt sassen sie nun da. Irgendwo im Nirgendwo in einem Tempel auf einem Amethyst-Altar. Es verging circa eine Minute, dann atmete Mondkind tief ein, als hätte sie sich gesammelt. Ihre kleinen Kinderhände legten sich links und rechts auf die ihrer Cousine und ihres Cousins. Sie stiess die Luft, die sie zuvor so vielsagend scharf eingeatmet hatte, wieder aus und sagte dann: »Ihr seid hier, weil ihr Dinge wissen müsst. Wichtige Dinge. Über mich und...«
»Sie...«, setzte Mile Mondkinds Satz fort.
»Genau. Ihr müsst nun eure Augen schliessen. Wartet ab, bis ich euch sage, dass ihr sie wieder öffnen dürft.«
Mile schloss sogleich seine Lider, doch seine Schwester war wie immer etwas misstrauischer. »Was wird geschehen?«, fragte sie.
»Wenn ihr eure Augen wieder öffnet, werdet ihr meine Erinnerungen sehen. Bleibt einfach ruhig sitzen und passt auf, was geschehen wird«, antwortete die Kleine und schloss dann selbst ihre Lider.
Sabrina schluckte. Sie senkte ihren Blick auf ihre rechte Hand, die sich auf den rauen, kalten Stein des Altars stützte. Ihre Haut war schneeweiss. Durch ihre Adern floss kaltes Blut. Auf ihrer Hand lag die von Mondkind. Rosa und leicht schwitzig. Die Hand eines kleinen Kindes.
Sabrina hob ihren Blick und betrachtete ihre Cousine. Mit geschlossenen Augen sah sie aus, wie eine gewöhnliche Vierjährige. Nun gut, die Glocken, Perlen und Bänder in ihrem Haar stachen schon etwas aus dem Gewöhnlichen heraus. Aber davon abgesehen...
»Du musst mir vertrauen«, flüsterte Mondkind auf einmal. Kurz schreckte Sabrina zusammen, dann nickte sie. Sie wandte ihren Blick ab und schloss die Augen...


-------------

Hallo liebe Wattpader,

Ich befinde mich für schuldig in den Punkten: Langsam und Endlos.
Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, mich so lange nicht mehr gemeldet zu haben, aber bevor ihr die Augen verdreht und brummt: »Das sagt sie doch jedes Mal!«, will ich folgendes Verkünden: Ich habe noch fast dreissig unveröffentlichte Word-Seiten auf Lager, die ich noch heute hochladen werde. Eigentlich sollte das ein einzelnes grosses Kapitel werden, aber ich wollte euch nicht erschlagen und darum wird dieses Monster-Kapitel in drei kleinere aufgeteilt. Jetzt am Mittag eines, nachmittags das nächste und am Abend folgt das Finale. ;)
Ich schwöre, ich habe geackert wie eine Blöde.
Nächste Woche fangen bei uns die Herbstferien an. Bei manchen hören die Sommerferien gerade erst auf hahaha, ist das nicht ironisch? Na ja, jedenfalls ist die Zeit vor den Herbstferien meiner Meinung nach immer die schlimmste an unserer Schule. Darum hatte ich nicht so viel Zeit zum Tippen, was ich aber in der letzten Woche wieder aufholen konnte. Ausserdem liege ich seit gestern im Bett und bin sauerkältet, also habe ich jetzt wieder etwas mehr Zeit hehe^^...

Viel Spass,
Ihr werdet später noch einmal von mir hören ;P

Liebe Grüsse,
Eure Dreamy

P.S: WAS ZUR HÖLLE?! So viele Follower und Reads und Votes und Kommis?! Omg ich krepier! Danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke!!!!

Okumaya devam et

Bunları da Beğeneceksin

1.7K 95 17
lest einfach
2.1K 144 22
Aggressiver skandiiii 🥷🏼🎀
5.2K 220 16
Ein Buch mit ein paar Fakten über Two Mate (Band 1), sowie Second Mate (Band 2)
19.2K 745 13
Die Miya Zwillinge, Atsumu und Osamu, kennen Hinata seit ihrer Kindheit und sind beide die besten Freunde von ihm. Sie verbringen jede freie Minute z...