Fehldiagnose

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Joshua ahnte schon, dass Shane ein Problem hatte, als er auf ihn zu kam. Anstatt eines Lächelns hatte er ein Stirnrunzeln aufgesetzt. „Joshua?", fragte er ihn leise. „Kann ich kurz unter vier Augen mit dir sprechen?" Joshua nickte und wandte sich von seinem Rechner ab. „Komm rein.", forderte er ihn auf und Shane schloss die Tür. „Ich habe ein Problem.", begann der Pfleger dann auch prompt und setzte sich auf einen leeren Stuhl neben Joshuas Schreibtisch. „Wie du weißt, habe ich nicht so viel Ahnung von Medizin... Aber ich habe das Gefühl, dass Dr. Finnley dabei ist, einen Patienten falsch zu behandeln..." Joshua zog interessiert eine Augenbraue nach oben. „Wie kommst du zu dieser Vermutung?", fragte er nach. Shane fühlte sich sichtlich unwohl. „Nunja...", sagte er gedehnt. „Mr. Potts ist ein etwas herunter gekommener älterer Herr. Sie vermutet, dass er seine Kopfschmerzen vorgibt, um Aufmerksamkeit zu bekommen, weil CT und MRT nichts gezeigt haben. Aber ich glaube, dass er wirklich Schmerzen hat. Außerdem ist er der Typ Mensch, der anderen nicht gerne zur Last fällt. Du weißt, diese Patienten, die erst nach einem Pfleger rufen, wenn es eigentlich schon zu spät ist - wenn überhaupt. Gestern habe ich ihn dabei überrascht, wie er versucht hat, sein Nachthemd unter dem Wasserhahn zu waschen, weil er sich darauf erbrochen hat. Dr. Finnley will ihn morgen nach Hause schicken, aber mir ist nicht wohl dabei..."

„Hast du schon mit ihr darüber geredet?", wollte Joshua wissen. Shane sah bedrückt zu Boden. „Ich trau mich nicht.", nuschelte er dann. „Sie ist so... herrisch..." „Und deswegen willst du, dass ich mit ihr rede?", vermutete Joshua. Shane sah hoffnungsvoll auf. „Würdest du das tun?", fragte er. „Ich weiß sonst nicht, was ich machen soll..." Joshua seufzte. „Eigentlich mögen es Ärzte nicht, wenn man sich ungefragt in ihre Fälle einmischt.", meinte er. „Ich kenne Dr. Finnley noch nicht wirklich, deswegen glaube ich, dass ich bei ihr abblitzen werde, aber wenn du willst, kann ich ja mal versuchen, mit ihr zu reden." Shane wirkte erleichtert. „Danke, Joshua!", rief er. „Das wäre toll!" Joshua blieb ernst. „Danke mir nicht zu früh.", entgegnete er. „Wie gesagt, wahrscheinlich wird sie nicht auf mich hören wollen." „Das ist mir egal.", sagte Shane. „Ich will nur alles versucht haben, ehe sie Mr. Potts nach Hause schickt. Wenn sie auf dich nicht hört, wird sie auf mich erst Recht nicht hören..."

***

„Dr. Finnley?", fragte Joshua vorsichtig, als er das Ärztezimmer betrat. Die Frau mit dem strengen Zopf, die alleine an einem Tisch saß, sah von ihrem Smartphone auf. „Hallo Dr. Greenbeam.", begrüßte sie ihn emotionslos. „Was kann ich für Sie tun?" Joshua setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Jemand vom Pflegepersonal ist vorhin an mich herangetreten.", begann er mit möglichst freundlicher Stimme. „Es ging um einen Ihrer Patienten, Mr. Potts, den Sie morgen entlassen wollen." Die Frau runzelte die Stirn. „Jemand vom Pflegepersonal?", wiederholte sie skeptisch. „Wer denn?" „Das spielt keine Rolle.", entgegnete Joshua neutral. „Die Pflegekraft war der Meinung, dass Mr. Potts tatsächlich Kopfschmerzen hat und nicht simuliert. Ich wollte Sie bitten, den Patienten noch einmal eindringlicher zu untersuchen." Dr. Finnley schmunzelte. „Sie lassen sich von einer Schwester zu mir schicken?", erkannte sie. „Um mir zu sagen, was ich zu tun habe?" „Es ist nur eine Bitte.", sagte Joshua. „Keine Aufforderung. Und ja, ich vertraue auf die Meinung einer Pflegekraft, wenn es um die Einschätzung von Patienten geht. Sie verbringen viel mehr Zeit mit den Patienten, als es Ärzte je könnten, und lernen sie somit besser kennen. Deswegen bitte ich Sie, Ihre Einschätzung noch einmal zu überdenken." Die Augen der Ärztin wurden kalt. „Die Bitte ist angekommen.", sagte sie dann knapp und wandte sich wieder ihrem Smartphone zu. „Dann kann ich jetzt meine Pause weiterführen?" Joshua schluckte einen bitteren Kommentar herunter. „Ja.", sagte er stattdessen und stand auf. „Falls Sie meine Hilfe benötigen, können Sie sich bei mir melden."

***

Sam trat überrascht einen Schritt zur Seite, als Joshua aus dem Ärztezimmer stürmte. „Oh hallo, Josh!", begrüßte er ihn, doch sein Freund sah ihn nicht an. „Hallo Sam.", sagte er nur. „Tut mir leid, aber ich muss gerade mal allein sein." Sam sah ihm einen Moment hinterher, dann schlug er die Richtung ein, aus der Joshua gekommen war. Im Ärztezimmer fand er lediglich Dr. Finnley vor, die ihm nur mit einem knappen Blick von ihrem Smartphone und einem winzigen Lächeln begrüßte, bevor sie wieder auf ihr Handy guckte. Er erkannte, dass die Ärztin offensichtlich der Grund für Joshuas unterdrückte Wut war und goss sich einen Kaffee ein, um zu überlegen, ob er sich heraushalten oder einmischen sollte.

FehldiagnoseWhere stories live. Discover now