Lavýrinthos

Por Roiben

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"Ängstigt euch nicht vor dem Tod, denn seine Bitterkeit liegt in der Furcht vor ihm." - Sokrates Viellei... Mais

Vorwort
Prólogos
1.1 Moíra - Schicksal
1.2 Moíra - Schicksal
2.1 Tragoúdi - Gesang
2.2 Tragoúdi - Gesang
3.1 Dóry - Speer
3.2 Dóry - Speer
4.1 Neró - Wasser
4.2 Neró - Wasser
5.1 Psalída - Ranke
5.2 Psalída - Ranke
6.1 Óneiro - Traum
6.2 Óneiro - Traum
7.1 Ámmos - Sand
7.2 Ámmos - Sand
8.1 Aínigma - Enigma
8.2 Aínigma - Enigma
9.1 Aetós - Adler
9.2 Aetós - Adler
10.1 Trélla - Wahnsinn
10.2 Trélla - Wahnsinn
11.1 Thermótita - Hitze
11.2 Thermótita - Hitze
12.1 Skotádi - Dunkelheit
12.2 Skotádi - Dunkelheit
13.1 Fóvos - Angst
13.2 Fóvos - Angst
14.1 Apóleia - Verlust
14. 2 Apóleia - Verlust
15.1 Diamáchi - Streit
15.2 Diamáchi - Streit
16.1 Skiá - Schatten
16.2 Skiá - Schatten
17.1 Ékstasi - Trance
17.2 Ékstasi - Trance
18.1 Kynigós - Jäger
18.2 - Kynigós - Jäger
19.1 Ypéfthynos - Schuld
19.2 Ypéftyhos - Schuld
20.1 Archí - Anfang
20.2 Archí - Anfang
20.3 Archí - Anfang
21.1 Stagónes - Tropfen
21.2 Stagónes - Tropfen
22.1 Dexiá - Recht
23.1 Mystikó - Geheimnis
23.2 Mystikó - Geheimnis
24.1 Ptósi - Sturz
24.2 Ptósi - Sturz
25.1 Ktíni - Bestien
25.2 Ktíni - Bestien
26.1 Pónos - Schmerz
26.2 Pónos - Schmerz
27.1 Elpída - Hoffnung
27.2 Elpída - Hoffnung
28.1 Asfáleia - Sicherheit
28.2 Asfáleia - Sicherheit
29. Omorfiá - Schönheit
30. Epílogos
Danksagung & Nachwort

22.2 Dexiá - Recht

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Por Roiben

„Warum seid Ihr hier?", fragte Calypso. Einen Moment später zuckte sie zusammen, als sie bemerkte, was sie gesagt hatte. „Verzeiht, ich will nicht unhöflich erscheinen!"

„Neugier ist keine Schande und Fragen sind ein kostenloses Gut", erwiderte Nemesis. Sie sprach ohne Anspannung oder Macht in der Stimme, als würde sie sich gerade mit den anderen Waschweibern des Dorfes über die neusten Ereignisse unterhalten. „Alle sieben Jahre fließen göttliche Mächte ins Labyrinth. Nicht nur die Olympier suchen diesen Ort auf, auch wir niederen Götter", sagte sie und verengte die Augen zu kleineren Schlitzen, „sind daran, unsere Teile zu holen."

„Welche Teile?", fragte Lyra vorsichtig. Wie beim Löwen zuvor war ihre Gruppe geteilt worden – Calypso und Eos auf der einen Seite, Lyra auf der anderen, zwischen ihnen das Biest.

„Die Olympier suchen Helden", sprach Nemesis. „Wir suchen Opfer." Der Blick in ihren Vogelaugen wurde gierig, als sie die Kinder besah.

Eos schluckte. Er spürte Calypsos Finger an seiner Haut und war dankbar dafür, dass sie sich an ihn hielt. Wenn sie in seiner Nähe war – so redete er sich ein – dann würde er sie besser beschützen können. Nemesis war ihm zuvor wie eine der neutralen Gottheiten im Gedächtnis geblieben. Die Geschichten, die sich um diese Verkörperung der Rache rankten, waren geprägt von Gerechtigkeit und Bestrafung der Hybris der Menschen. Sicherlich würde sie nicht ohne jeden Grund genau ihre Gruppe aufsuchen.

„Ich bin nicht ohne jeden Grund hier, Sterblicher", sagte sie, ohne ihn anzusehen.

Das Blut gefror in seinen Adern und sein Herz schlug bis an seinen Kehlkopf. Würde er nicht bereits mit dem Rücken zur Wand stehen, dann würde er noch weiter zurückweichen.

„Es ist eine Sache, wenn ihr mich als die Personifikation der Rache kennt – und es ist wahr, ja. Ich bin eine Rächerin, aber ich bin weitaus mehr als das. Ich bin der Zorn, ich bin die Gerechtigkeit und ich bin die Strafe." Nemesis' Stimme war ruhig, aber Eos konnte die unterdrückte Wut darin nur allzu gut vernehmen.

Es war, als wäre der gesamte Gang in Eis getaucht. Der Junge zitterte am gesamten Körper, jedes Härchen an seinem Körper reckte sich dem Himmel entgegen.

„W-Wir haben nichts falsch gemacht", flüsterte Calypso, auch wenn ihre Worte im Zittern ihrer Lippen untergingen.

„Ihr nicht", sagte Nemesis und Eos wollte schon erleichtert aufatmen. Doch dann wandte die Vogeldame den Kopf gänzlich zu Lyra. „Sie hingegen schon."

„Was?" Lyra stolperte zurück. Für einen Moment lockerte sie den Griff um ihren Dolch, dann festigte sie ihn wieder. „Was wollt Ihr damit sagen?"

„Glaubt nicht, ich würde nur die großen Könige der sterblichen Welt richten", antwortete Nemesis. „Wenn es in meine Angelegenheiten fällt, dann könnt ihr euch sicher sein, dass ich jeden bestrafe, der gegen meine Regeln verstößt. Kinder, Diener, Adlige, Könige – vor meinem Gericht sind sie alle gleich!" Die Federn auf Nemesis' Kopf richtete sich auf, als wären sie mit der Energie eines Gewitters geladen.

Beinahe meinte Eos, dass die Luft knisterte. Angst durchfloss seinen Körper. Hitze rann ihm durch die Glieder. Er wusste nicht, was es war, aber etwas an ihren Worten erinnerte ihn an Dionysos und gerade dieser Gedanke war es, der die Panik in seinem Kopf zu einem Sturm werden ließ.

„Welche Regeln? W-Was habe ich getan?", fragte Lyra voller Angst. Ihre Hände zitterten, ihre Lippen bebten.

Statt einer Antwort, ließ Nemesis den Apfelzweig in ihrer Hand verschwinden, ehe sie mit ihren Fingern knackte. Der Nebel, der sie zuvor eingehüllt hatte, wickelte sich um ihre Hand. Als er sich wieder verflüchtigt hatte, waren Nemesis' Finger verschwunden. An ihrer Stelle zerriss eine grauenhafte Pranke oder Kralle die Luft. Was genau es war, konnte Eos nicht sagen, aber es ließ ihm das Herz stillstehen.

„Mit meiner Rechten urteile ich", sagte die Gottheit und hob ihre andere Hand hoch, die, die keine grauenhafte Pranke war. Die glitzernden Steine an ihrem Handgelenk warfen bunte Schatten auf die Wände. „Mit der Linken richte ich", fügte sie hinzu. Die Kralle riss an der Luft, als wäre sie ein verwundetes Reh. „Und ehe kein Sterblicher etwas verbrochen hat, kann ich nicht richten. Es ist das uralte Gesetz der Gerechtigkeit, welches mir von meiner Mutter auferlegt wurde." Ein düsterer Blitz durchzog ihr Gesicht, als sich ihre Augen zu so schmalen Schlitzen verengten und ihr Schnabelmund zu einem breiten Grinsen wurde. „Ich werde richten und ich kann nicht aufgehalten werden."

Im nächsten Moment teilte sie sich in zwei. Nemesis riss sich selbst in der Mitte durch. Ihre rechte Hälfte, die Eos und Calypso zugewandt war, behielt ihre menschlichen Attribute – ihr Gesicht war eine schöne Furche, ein Antlitz der Könige. Schnabel und Schlitzaugen waren verschwunden, stattdessen sah sie aus wie eine Prinzessin, mit roten Lippen, einer schmalen Nase und hellen Augen. Wäre Eos nicht zur Salzsäule erstarrt, dann wäre er rot geworden. Sie war eine Frau der Träume.

Die linke Hälfte, die in Lyras Richtung gewandt war, hatte die raubvogelgleichen Züge beibehalten. Dafür hatte sie ihre menschlichen Attribute verloren. Ihr Körper war dem eines Löwen gleich, ihr Schweif peitschte durch die Luft, ihre Gliedmaßen waren vier krallenbesetzte Pranken, von denen eine lichtfarbene Flüssigkeit tropfte. Ihr Kopf war der eines Raubvogels mit dem spitzen Schnabel voller Zähne und den gelben Augen, zwischen den Schnabelhälften drang eine hellgrüne Zunge hervor, die gierig in die Luft leckte. Schwarze Federn bedeckten ihre Kopfhaut und sogen jedes Licht im Gang in sich auf.

Lyra schrie panisch auf und ließ ihren Dolch fallen. Er fiel klirrend und klappernd zu Boden, der Schall seines Aufpralls hallte im ganzen Gang wieder. Das Mädchen fummelte an seinem Gürtel herum, ihre Schwertscheide rutschte ihr beinahe aus den Fingern, als sie die Klinge hervorzog.

„Ein Kampf ist unnötig!", rief Nemesis' rechte Hälfte während ihre linke lediglich knurrte und mit dem Schnabel klapperte. „Der gerechte Zorn kann nicht umgangen werden!"

„Was soll das?", rief Calypso und drückte sich noch weiter gegen die Wand, während Nemesis' rechte Hälfte sie süßlich angrinste. „Lasst sie gehen! Sie hat nichts verbrochen!"

„Du kannst nicht mehr wissen, als die Rache der Gerechtigkeit", sagte sie.

Der Schweif ihrer anderen Hälfte peitschte laut knallend durch den Gang.

„Reiß!", rief sie dem Untier zu.

Nur auf diesen Befehl wartend, sprang Nemesis' linke Hälfte los. Lyra duckte sich und warf sich beinahe auf den Boden, während die Pranken die kalte Luft zerrissen. Ein lautes Knurren hallten in ihren Ohren wieder.

„Lyra!", rief Eos, der seine Stimme wiedergefunden hatte. Er packte sein Schwert und stürmte los. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Hände schwitzten, als er sich an Nemesis' menschlicher Hälfte vorbeidrängeln wollte.

Seine Sicht wurde verdeckt, als Nemesis mit einem Mal die Hand nach oben riss und sie ihm ins Gesicht drückte. Ihre Finger legten sich über seine Augen und seine Nase und hielt ihn an Ort und Stelle gebannt. „Niemand interferiert mit meinem Gericht", sagte sie kühl. Sie stieß ihn mit einer unerwarteten Kraft nach hinten und Eos stolperte, ehe er mit einem schmerzhaften Fall zu Boden ging. Sein Brustkorb ging in Flammen auf.

Unter Nemesis' noch ausgestreckten Arm konnte er sehen, wie Lyra ihre Klinge erhoben hatte und immer tiefer in den Gang getrieben wurde. Das Biest fletschte seine Zähne und klapperte zugleich mit dem Schnabel, auch wenn Eos nicht wusste, wie das überhaupt möglich war.

„Kümmert euch nicht um mich!", rief Lyra, doch ihre Worte gingen im nächsten Moment in ein schmerzhaftes Stöhnen über, als die Bestie mit seiner Kralle ihren Unterarm aufriss. Das Mädchen fluchte und trat zu, verfehlte den Brustkorb ihres Gegners allerdings und strauchelte.

„Nein!", schrie Calypso. Sie drängte sich an Eos vorbei, der sich gerade aufrappelte. Sie war schnell, aber nicht schnell genug, um Nemesis' Arm auszuweichen. Wie bei dem Jungen zuvor, drückte die Göttin sie einzig mit ihren Fingerspitzen zurück, sodass sie schwer atmend auf dem Boden aufkam, die beiden Schilde auf ihrem Rücken klapperten ihre eigene Musik. „Hört auf! Sie hat nichts falsch gemacht!"

„Das entscheide immer noch ich", zischte die Rachegöttin. Ihr schönes Gesicht konnte nicht über den Fakt hinweghelfen, dass sie gierig über die Schulter blickte, als Lyra ein weiteres Mal erwischt wurde. Dieses Mal ging ihr Schrei in Mark und Bein über.

„Wir müssen ihr helfen!", sagte Calypso aufgebracht und zerrte an Eos' Arm, der die Augen zusammenpresste und versuchte, ihre Lage einzuschätzen. Panik rann durch seine Glieder. „Los!"

„Ich weiß", erwiderte er genervt und schüttelte ihre Hand ab. Seine Finger suchten die Scheide an seinem Gürtel und mit einer schnellen Bewegung löste er die Halterung. Er wusste nicht, ob sie an der menschlichen Hälfte vorbeilaufen könnten, wenn sie schnell genug wären, aber er wollte es auch nicht herausfinden, aus Angst, dass genau diese Sekunden zählen würden. Eos ließ sein Schwert zu Boden fallen und das laut Klappern entlockte der Göttin lediglich ein schwaches Lächeln, als sie seine Waffe im Staub liegen sah.

Einen halben Augenblick später allerdings hatte er sein Ziel fest in den Blick genommen, holte weit aus und schleuderte die bronzene Schwertscheide über ihren Kopf hinweg. Der bereits schmerzende Brustkorb explodierte in einem flammenden Meer aus Pein. Sein stummes Gebet reiste gen Olympus, seine Fingernägel gruben sich tief in sein Fleisch, aber er blieb nicht stehen und wartete. Nemesis' Blick verfolgte das geworfene Objekt überrascht und, wie erwartet, griff sie mit beiden Händen nach oben und fischte es aus der Luft.

Eos allerdings hatte weitergedacht. Er zerrte eines der Schilde von Calypsos Rücken, holte erneut aus und schleuderte den flachen Bronzeschutz wie eine Diskusscheibe. Es fühlte sich an, als würde sein Atem in der Lunge verdunsten, so sehr schmerzte es ihn mittlerweile, aber er ließ sich keine Sekunde zur Ruhe, nicht ehe er wusste, dass Lyra sicher war.

Nemesis riss die Augen auf. Sie ließ Eos' Schwertscheide zu Boden fallen, doch selbst sie konnte nicht schnell genug reagieren. Der Schild raste an ihr vorbei und schlug der bestialischen Hälfte gegen den Hinterkopf.

„Du wagst es!", rief sie aus. Statt der erwarteten Wut klang Nemesis eher erstaunt – beinahe beeindruckt.

„Was zum –", sagte Lyra, die erstarrt war, als der Schild ihren Gegner getroffen hatte, sich aber ihren Vorteil nicht nehmen ließ und mit glänzenden Augen nach vorne rannte. Ihre Klinge drang tief in den Torso des überraschten Monstrums. Das widerliche Geräusch brechender Knochen und zerreißenden Fasern hallte im Labyrinth wieder. Als sie das Schwert wieder herauszog, kam das würgereizbringende Bluttropfen dazu. Das Mädchen wartete allerdings nicht, bis der löwenartige Greifvogel zusammenbrach, sondern rammte die Klinge mit einem animalischen Aufschrei direkt unterhalb des Schnabels in die Haut.

Eos' Herz war dem Brechen nah, so schnell schlug es gegen seine Rippen. Er atmete tief ein und schloss die Augen, um den Schmerz zu regulieren, der ihm beinahe das Bewusstsein genommen hatte. „Den Göttern sei Dank." Calypsos Stimme wehte ihm entgegen und einen Moment später warf sie sich ihm in die Arme. Sein Körper verkrampfte sich umgehend, als sie erleichtert seufzte und ihr Atem seinen Nacken kitzelte. Ihre Berührung war sanft, reichte aber aus, damit seine schmerzende Brust sich noch weiter zusammenzog.

„Beeindruckend", erklang Nemesis' Stimme. „Selten sehe ich solch ein Engagement unter euch sterblichen Kindern."

„Wir können unsere Freundin schlecht sterben lassen!", rief Calypso aus und löste sich von Eos. Ihr Gesicht war gerötet, aber er konnte nicht ganz erkennen, ob es vor Wut oder Scham war. „Und Ihr könnt sie nicht für etwas bestrafen und dann nicht sagen, worum es überhaupt geht!"

Nemesis legte den Kopf schief. „Wahrlich", erwiderte sie. „Wahrlich, wahrlich. Vielleicht habe ich mich auch einfach geirrt."

„Was!?", schrie Lyra aufgebracht und wütend. „Geirrt? Ich glaube, ich zeige Ihnen mal –"

„Lyra", rief Eos laut, seine Stimme ein tosender Orkan im Gang. Selbst Nemesis schien überrascht zu sein und hob ihre Augenbrauen an.

Ihre bestialische Hälfte verblutete derweil lautlos auf dem Boden.

Sein Blick fand ihre stürmische Augen und sie funkelte ihn an. „Beruhige dich", sagte er, auch wenn er wusste, wie schwer es ihr fallen musste. Er selbst konnte seine Emotionen Nemesis gegenüber kaum zügeln, doch er wusste, dass ein falsches Wort für sie alle einen Freifahrtsschein in den Hades bedeuten würde.

„Was hast du –", fragte Calypso, doch er hob die Hand und unterbrach sie sofort.

Nemesis lächelte ihn an, doch ihre Schönheit konnte ihn nicht mehr trügen. Sie war eine göttliche Schlange. „Beeindruckend", sagte sie erneut. „Ihr könnt euch glücklich schätzen. Mein Greif ist eine tödliche Bestie, welcher niemals seine Beute ziehen lässt." Ihr Blick bohrte sich in Eos' Augen. „Gerechtigkeit und Rache sind zwei Seiten eines großen Ganzen. Um die eine zu verstehen, muss man die andere kennen. Ich räche, aber ich bin gerecht, andernfalls hätten die Olympier mir mein Amt schon längst genommen. Du", sie wandte sich nun direkt an Lyra, die schwer atmend, mit brennenden Augen und blutverschmierter Kleidung vor ihr stand, „hast eine Strafe verdient, aber", Nemesis hob die Hand, bevor Lyra oder Eos wieder laut werden würden, „der Tod ist vielleicht nicht gerechtfertigt." Ein süßliches Lächeln nahm ihre Lippen ein. „Auch eine Göttliche kann sich irren, wisst ihr."

„Was heißt das jetzt?", fragte Calypso leise.

„Heißt, ich kann das Leben deiner kleinen Freundin verschonen." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

Eos zuckte unwillkürlich zusammen und der plötzlichen Hand an seinem Arm zu schließen, Calypso ebenso.

Die Göttin vor ihnen kicherte, ein Geräusch, das aus ihrem Mund wesentlich angsteinflößender klang, als jeder Fluch, den sie aussprechen könnte. Es machte sie noch unberechenbarer, als sie ohnehin schon war. Was hatte sie als nächstes vor und warum ließ sie zu, dass Lyra sich wieder zu Eos und Calypso begab? Und warum wollte sie Lyra bestrafen? War der kurze handgreifliche Ausrutscher früher am Tag schon genug, damit sie ihr einen Greif auf den Hals hetzen würde?

„Vorerst, zumindest."

„Was soll das heißen?", fragte Lyra wütend.

Eos legte ihr vorsichtshalber eine Hand auf den Arm, um sie im Falle des Falles von einer Dummheit abzuhalten.

Nemesis' ließ ihre Schultern ein wenig kreisen, wodurch die Edelsteine an ihren Handgelenken klimperten, dann wandte sie den Blick zu dem blutverschmierten Mädchen. „Du stehst noch vor Gericht", sagte sie lediglich, als würde das alle Antworten bereitstellen, die die Kinder sich wünschen würden. „Es ist nur eine Frage der Zeit."

„Darf ich etwas fragen?" Eos' Stimme zitterte, aber er versuchte ihrem starren Blick standzuhalten.

„Sprich, Kind", erwiderte Nemesis mit einem Ausdruck, als würde sie mit einem neugierigen Enkel reden. „Du kannst fragen, was du möchtest."

„Gut", sagte er und schluckte den aufkommenden Kloß herunter. „Wisst Ihr, was mit Lyras Schwestern ist? Sind sie am Leben?"

Lyra sog scharf die Luft ein und warf ihm einen erschrockenen Blick zu. Ihre Hand verkrampfte sich um den Griff ihrer Klinge.

Die Finger Calypsos, die sich tief in Eos' Arm bohrten, lockerten sich wieder.

„Oh?" Nemesis hob eine Augenbraue. „Du hättest alles fragen können, aber entscheidest dich für etwas, was nichts mit dir zu tun hat." Sie nickte, aber ob es ein wohlwollendes war, konnte er nicht gänzlich erkennen. „Beeindruckend. Willst du das auch wissen, Mädchen?", fragte sie an Lyra gewandt, die bei ihren Worten zusammenzuckte, als hätte sie mit der edelsteinbesetzten Hand ausgeholt.

Lyra öffnete den Mund, um zu einer Antwort anzusetzen, aber kein Laut entkam ihr, deswegen nickte sie lediglich, wobei sie unwillkürlich einen halben Schritt zurück trat und dabei der Wand immer näher kam.

„Hm." Die Rachegottheit tippte mit einem Finger gegen ihre Unterlippe, dann formte sich ein düsteres Lächeln auf ihrem Gesicht. Die Kinder wichen noch weiter zurück und Eos fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Wie ihr wünscht." Für einen kurzen Augenblick verloren sich Nemesis' Konturen und sie wurde neblig, doch es hielt nicht lang genug an, damit sich ein erschrockenes Keuchen in Eos' Kehle formen konnte, da hatte sie sich schon wieder materialisiert. „Ihr kamt zu viert hier an", sprach sie an Lyra gerichtet, „und zu diesem Zeitpunkt würdet ihr das Labyrinth nur zu dritt verlassen." Sie lächelte, als hätte sie dem Mädchen gerade eine wunderbare Gute-Nacht-Geschichte erzählt.

Der Ausdruck an Horror auf Lyras Gesicht ließ Eos das Blut im Körper zu Eis erstarren. Das Schwert fiel ihr laut klappernd aus der Hand. Das Mädchen zitterte und war bleich wie der Tod. Ihre Augen richteten sich auf einen fernen Punkt, weit entfernt von diesem Gang und ein beinahe lautloses Wimmern verließ ihre farblosen Lippen.

„Ich würde sagen, sie hat ihre Strafe erhalten", meinte Nemesis nonchalant und tat eine wegwerfende Handbewegung – eine Aktion, bei der Eos erneut zusammenzuckte. „Damit wäre meine Arbeit wohl getan. Ilia, komm, wir gehen." Sie schnipste mit dem Finger und dieses Mal stolperte der Junge tatsächlich einen Schritt zurück.

„Es lebt", hauchte Calypso angstvoll. Sie folgte Eos' Beispiel und wich zurück, ihr Blick auf die sich wieder bewegende Leiche des Greifen gerichtet.

Mit einem ausgiebigen Strecken, als würde das Biest gerade von einem langen Schlaf aufstehen, erhob sie sich und kratzte mit den Krallen über den Boden, während sie zu Nemesis hinüberlief. Der lange Löwenschweif peitschte bei jedem Schritt durch die Luft. Die Wunden, die Lyras Klinge der Bestie zugefügt hatten, waren bereits verheilt, lediglich blutverschmiertes Fell erinnerte an die Verletzungen, die es erlitten hatte. Kaum hatte der Greif Nemesis erreicht, streckte es den blutigen Schnabel in die Höhe und die Rachegöttin strich ihm zärtlich darüber.

Dann sah es so aus, als würde der Greif vaporisieren. Er verdampfte, tropfte in widerlichen Lachen auf dem Boden, verschwand aber genauso schnell wieder. Der dichte, weiße Dampf umhüllte Nemesis und als er wieder verflog, waren sie und der Greif erneut miteinander verschmolzen.

Eos, der sich gerade an das menschliche Aussehen der Gottheit gewöhnt hatte, spürte, wie sich sein Magen beim Anblick des raubvogelähnlichen Gesichtes zusammenzog. Das grauenhafte Schnabellächeln Nemesis' brannte sich ihm in die Augen, als sie verschwand.

„Auf dann, ihr Helden. Mein Richtspruch wird verlangt." Mit diesen letzten Worten verflog Nemesis, aber selbst ohne ihre direkte Anwesenheit war sie noch deutlich zu spüren. Das Blut ihres Greifen bedeckte den Boden. Einige schwarze Federn lagen auf den Steinen, doch diese physischen Hinterlassenschaften waren nichts im Vergleich zu dem Horror, der Lyra eingenommen hatte.

Ihre Lippen bewegten sich stumm vor sich hin, in einem sich wiederholenden Rhythmus, als würde sie immer wieder dasselbe wiederholen. Nach einer Minute erkannte Eos, was sie lautlos sagte: „Sie ist tot."

„Oh Götter", hauchte Calypso an Eos' Seite. „Ihr Traum." Ihr Flüstern war leise gewesen, fast wie ein Atemzug, aber Lyra hatte ihn dennoch vernommen.

„Es kann nicht sein", brachte das andere Mädchen zustande. „Es kann nicht..."

Eos wollte nicht derjenige sein, der ihr sagen würde, dass es stimmen musste, wenn sie es von zwei verschiedenen Gottheiten gehört hatte. Er fühlte sich schuldig. Nur dank ihm wusste sie nun Bescheid. Hätte er Nemesis nicht darum gebeten, dann würden sie jetzt noch im Ungewissen leben, ob Lyras Traum wirklich nur das gewesen war, oder ob die Göttin Artemis tatsächlich mit ihr gesprochen hatte.

Dann wiederum fragte er sich, warum Artemis es Lyra sagen musste. Sie tat ihr damit keinen Gefallen, selbst wenn sie vielleicht davon ausging. Lyras Motivation im Labyrinth voranzukommen, war lediglich die Sicherheit ihrer Schwestern gewesen. Jetzt, wo diese nicht einmal mehr gewährleistet war, jetzt, wo klar war, dass es eine bereits nicht geschafft hatte... Wie sollte sie jetzt weitermachen können?

„Wir müssen weiter", sagte Lyra plötzlich mit dünner Stimme. Sie räusperte sich und versteckte die Tränen in ihren Augen nicht mehr. „Ich muss – wir müssen die anderen finden. Es ist noch nicht zu spät."

Weder Eos noch Calypso antworteten ihr sofort. Die beiden tauschten einen Blick und er schluckte. Calypsos Augen schwammen ebenfalls in Tränen und sie schluchzte leise vor sich hin.

„Bist du..." Er hustete. „Bist du dir sicher? Du – ich meine, wir könnten eine Pause gebrauchen."

„Nein", erwiderte Lyra. „Keine Pause, mir geht es gut. Wir – wir müssen weiter. Ich muss sie finden. Die anderen Gruppen, meine ich." Sie atmete schwer und schnell. Ihre Haut war blass und Spuren von Tränen glänzten auf ihren Wangen. Die Schatten, die das Labyrinth auf ihr Gesicht warf, gaben ihr ein bedrohliches Aussehen. Jetzt gerade hatte sie nichts mehr zu verlieren und sie würde nicht lange brauchen, bis ihr Geduldsfaden reißen würde. „Los!", rief sie.

Eos zuckte zusammen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, sein Magen zog sich zusammen und er wappnete sich auf einen Ausbruch. „Es tut mir leid", sagte er. „Ich – ich hätte nicht fragen sollen."

Anstatt, dass Lyra ihn anschrie, vielleicht sogar ihre Klinge auflas und sie ihm in den Leib rammte, sackten ihre Schultern in sich zusammen und sie ließ die Luft in einem traurigen Seufzer heraus. „Nein, das ist besser so. Ich..." Sie schluckte, es war ihr anzusehen, wie schwer ihr ihre nächsten Worte fielen. „Ich habe mich darauf vorbereitet, dass wir nicht alle hier rauskommen. Das Labyrinth ist nicht dafür gemacht, dass wir überleben. Ich weiß das, aber – es zu hören, tut trotzdem weh. Ich hatte gehofft und gebetet und", sie stockte für den Bruchteil eines Augenblickes und rieb sich über die Augen, „und ich wollte nicht, dass wir getrennt werden. Wenn wir wenigstens alle zusammen gewesen wären, dann hätte ich etwas tun können. Vielleicht hätte ich sie retten können. Aber so", rang sie mit tonloser Stimme nach Worten, „ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Selbst mit dem Wissen, dass nicht alle meine Schwestern überleben werden, bin ich hier hergekommen, in der leisen Hoffnung, dass ich wenigstens einer das Leben retten kann. Wir sind alle hergekommen, um meine kleine Schwester zu beschützen – aber wenn Medeia – wenn das stimmt, was Artemis gesagt hat, dann hat – dann hat sie Theia umgebracht. Ich kann das nicht glauben", fügte sie hauchend hinzu, ihre Stimme nur ein Bruchteil ihrer üblichen Selbst.

Es folgte eine beinahe greifbare Stille, so dicht und unangenehm, dass Eos meinte, sie verschleierte ihm die Sicht. Lyras Worte waren wie die Dolchklinge, die sie langsam wieder an ihrem Gürtel anbrachte; sie schnitten nicht tief, aber hinterließen widerliche Narben. Eos fühlte sich allein durch die Vorstellung eines Geschwistermordes fiebrig und krank. Er wollte sich überhaupt nicht vorstellen, wie es Lyra ergehen mochte. Sie konnte sich noch immer so gut zusammenhalten. Sie war stärker, als er gedacht hatte, aber dann wiederrum wusste er nicht, wie lange es dauern würde, bis sie brach. Irgendwann würde sie brechen. Sie konnte nicht alles ewig für sich behalten.

„Können wir bitte gehen", fragte sie leise, ihre Stimme von Tränen bedeckt und trüb.

„Natürlich", sagte Calypso. Das Mädchen ließ von Eos ab und ging zu Lyra hinüber, die nicht protestierte, als sie ihr einen Arm um die Schulter legte. Gemeinsam gingen sie weiter, Eos dicht hinter sich.

Sie ließen nicht nur die blutige Pfütze zurück, die den Gang trübte. Eos hoffte, dass sie auch Nemesis zurückließen. Um Lyras Willen.

„Theia", hauchte die Schwester. Hätte Eos nicht gesehen, wie sich ihre Lippen bewegt hätten, dann hätte er gedacht, er hätte sich das Geräusch eingebildet. „Ich finde dich."

Calypso drückte das Mädchen enger an sich und gemeinsam, schweigend, verließen sie den Gang und traten in einen neuen hinein, der sie dem Ende immer näherbringen würde.

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