Box Nr. 7

By ananasdream

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»Die ganze Zeit ging ich davon aus, du wärst auch nur jemand, dem ich nicht trauen kann, aber du warst die ga... More

v o r w o r t
P r o l o g
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By ananasdream

𓆈

D I E Verzweiflung stammte nicht ausschließlich von den Blumengestecken, die die komplette Fußgängerzone zu Ehren des Frühlingsfestes schmückten. Meine Nase reagierte zwar empfindlich gegenüber dem stechenden Lavendelgeruch, doch mindestens genauso schlimm war, weitere Handschriften im Postkasten vorzufinden. Meine letzte Antwort bestand aus einem Satz, denn mehr hatte ich nicht geschafft, über mich zu bringen: Tut mir leid, dass du dich so einsam fühlen musstest.

Es gab mehr zu sagen, keine Frage, aber woher bekam ich die Gewissheit, dass die richtige Person den Zettel herausnahm? Der nächste Schriftaustausch bestätigte meine Bedenken nur. Optisch gab der Brief viel her. Das Briefpapier faltete sich im Origamistil zu einem Schwan zusammen. Der Kopf passte nicht ganz in den Kasten hinein, weshalb er leicht eingeknickt war. So edel wie das aussah, traute ich mich kaum, das Papier zu entfalten.

Die Neugierde siegte und im Inneren des Vogels sah es nicht hässlicher aus. Die Schwänenköpfe bedeckten das cremeweiße Schreibpapier. Sie vermischten sich mit dem Hintergrund. Dass sie nicht zu Hundertprozent transparent waren, peppte es auf. Mit einem Schönschreibfüller hatte jemand, der definitiv die Kunst der Kaligraphie beherrschte, verschnörkelte Sätze verfasst. Für die wenigen Worte, die dort standen, erschien mir der Aufwand zu groß.

Es ehrt mich, fortan mit dir einen Briefwechsel zu betreiben. Sei versichert, dass du dich niemals für die Probleme anderer entschuldigen solltest. Jeder verantwortet sein Glück selbst, das habe ich im Laufe meines Lebens auf schmerzvolle Weise erfahren. Wenn dir etwas daran liegt, mehr darüber aufzuschnappen, melde dich bei mir.

Liebste Grüße

Nein, mir lag tatsächlich äußerst wenig daran, mehr über den liebsten Verfasser zu erfahren. Diese unterschiedlichen Nachrichten stiegen mir zu Kopf. Es gab einen nachvollziehbaren Grund, warum wir das Projekt zu zweit angingen. Ich beschloss alle Schriften, die die Großschreibung beherrschten und sauber schrieben, bewusst zu ignorieren und auszusortieren. Meinen Fokus schenkte ich dem Verfasser, der eventuell Arian war.

Leider ließ eine Antwort von ihm auf sich warten. Bis zu dem Tage, wo ich beschloss, eine ausführliche Nachricht an ihn adressiert zu verfassen.

Ist dir aufgefallen, dass wir nicht nur zu zweit sind? Das finde ich ziemlich befremdlich. Gerne würde ich ausschließlich mehr über dich erfahren. Deine letzte Nachricht lässt mich nicht los. Es ist grausam, dass Menschen einen so vernachlässigen. Leider kann ich mir deine Misere gar nicht vorstellen. Dir jetzt ausführlich von meinen zu erzählen, käme der Situation gleich, als würde ein Weltkrieg ausbrechen und ich mich über die steigenden Benzinpreise beschweren.

Da wir zu Beginn jedoch vereinbart hatten, ehrlich zu sein und unsere eigenen Probleme auszuführen, werde ich das hiermit tun. Es brennt mir etwas auf der Seele, das unbedingt gesagt werden muss. Es gab eine Zeit in meiner Kindheit, auf die ich nicht stolz bin. Damals hatte mich meine beste Freundin verlassen, ohne dass ich den Grund dafür kannte. Zwar kam sie schnell wieder, lieferte mir aber nicht sofort die Erklärung für ihr Fernbleiben. Zum selben Zeitpunkt erfuhr ich, dass meine Eltern mir ebenfalls etwas verschwiegen.

Obwohl sie, anders als deine, immer für mich da waren, brach eine Welt in sich zusammen. Ich nahm an, es liefe eine Art Verschwörung. Bis zu dem heutigen Tage habe ich mich nie mit meiner Freundin ausgesprochen. Irgendwann vertraute sie sich mir an, als sie bereit dafür war, aber ich schaffte es nicht, diese Geste zu erwidern. Zu viel war passiert. Leute, die mir mitteilten, ich würde ihnen am Herzen liegen, stieß ich von mir. Da war eine Stimme, die flüsterte, es verbockt zu haben. Ihr glaubte ich und schwieg, aus Angst, ansonsten alle zu verlieren.

Zu hören, dass dich deine Mitschüler verstoßen haben, macht mich traurig. Mit diesem Brief möchte ich dir sagen, dass es nicht unbedingt daran liegt, weil du weird bist. Jeder hat mit sich selbst zu kämpfen. Wenn ich deine Geschichte höre, frage ich mich, warum ich mit der Sache nicht besser umgehen konnte. Sie kommt mir wieder einmal viel dramatischer vor. Dass ich einen Fehler gemacht habe, der nicht gerechtfertigt ist, weiß ich zwar schon länger, aber es erneut vor Augen geführt zu bekommen, schmerzt.

Sich ein Hobby zur Ablenkung suchen - Improtheater - scheint mir eine gute Idee.

Sorry!

Und das letzte Wort drückte nicht mal im Entferntesten aus, wie leid es mir tat. Vielleicht demonstrierte es die klitzekleine Träne, die überraschenderweise auf das Papier im Mamormuster tropfte. Überraschend deshalb, weil ich damals, nach Abbrechen des Kontakts mit Arian überhaupt nicht geweint hatte. Nicht mal, als ich Fallsberg und meine beste Freundin zurückließ.

In dem Chaos auf dem Schreibtisch versuchte ich, ein Taschentuch zu finden. Buntstifte mischten sich mit Filzstiften. Dazwischen lag irgendwo meine Schere. Anstatt dass die Blöcke und Papiere in ihre vorgesehene Halterung lagen, bedeckten sie die komplette Arbeitsfläche. Blumen, Mamor, leere Blätter - ach, und da hatte ich die Textmarker hingelegt.

Ich schaltete meine Schreibtischlampe an, die sich in einem Messingbogen nach unten beugte. Ein paar Charakterkarten aus meinen liebsten Serien steckte ich mit einer Wäscheklammer zurück an ihren rechtmäßigen Platz direkt über den Schreibtisch. Die Gitterwand half mir, nicht vollkommen unterzugehen. Den Laptop und die Tastatur legte ich auf den Container neben mir. Tief durchatmen!

Ich fand keine Taschentücher, dafür eine Rolle Bastband. Einen Faden, etwa eine Handspanne breit, schnitt ich ab und band ihn um das eingerollte Papier. Den Brief legte ich in die Halterung, die eigentlich für das Briefpapier vorgesehen war. Das Vibrieren meines Handys ließ mich zusammenfahren. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass es eine Gruppenachricht von unserer Kummerkasten-Truppe war.

FRÜHLINGSFEST!!!
Larson Tahiri

Wer ist dabei?
Larson Tahiri

Ist die Frage ernst gemeint?
Dina Kallinovsky

ICH!!!
Idiot, der einen sitzen lässt und alles vergisst

Ich grinste und freute mich, dass unsere Gruppe sich auch außerhalb des Studiums so hervorragend verstand. Schnell öffnete ich den Chatverlauf.

Ist es nicht verboten, in Vielsgart zu studieren und das Frühlingsfest auszulassen?
Lennja Reinhardt

DAS HABE ICH AUCH GEHÖRT! ACHTUNG! ACHTUNG! Polizei kommt sonst.
Larson Tahiri

Ich bin dabei :). Würde so gegen späten Abend dazukommen.
Yuna (Germanistik)

Was hat Yunchen denn vorher vor?
Lennja Reinhardt

Bleibt mein Geheimnis!
Yuna (Germanistik)

Sie schreibt mir den nächsten Liebes- ähhh ... Kummerkasten-Brief!
Larson Tahiri

Laaarsoooon!
Yuna (Germanistik)

Ups, stimmt. Das sollte ja geheim bleiben.
Larson Tahiri

Er macht nur Scherze.
Yuna (Germanistik)

Na, so halb. Wer immer mit mir schreibt, ich sage hiermit offiziell: Wir haben da einen Vibe. Leider weiß ich echt nicht, ob das Yuna ist. An den Rest der Gruppe: Treffen wir uns um fünf Uhr bei Write on Paper, dem Ort unseres Vertrauens?
Larson Tahiri

Mir fiel auf, dass Larson das englische Wort Vibe benutze, hier aber auf Groß- und Kleinschreibung achtete. Das wollte nichts heißen - die meisten Lehramtsstudenten beherrschten die Rechtschreibung, ob sie es immer umsetzten, war die eigentliche Frage. Dass sich Arian bislang nicht am Gespräch beteiligt hatte, machte mich genauso stutzig. Alle schickten ihren Daumen in die Gruppe, nur er nicht.

In dem Moment, wo ich mich schon für das Frühlingsfest umzog, traf eine weitere Nachricht ein.

Sorry, muss absagen.
Arian Hoppe

Larson schickte daraufhin eine Reihe an Polizeisirenen in den Gruppenchat. Der Rest der Gruppe hakte nicht weiter nach. Sie dachten sich wahrscheinlich, Arian wäre nicht der Typ für eine Party. In der Uni wirkte er zurückhaltend. Ich beäugte die Nachricht jedoch länger ein wenig skeptisch. Zu Schulzeiten war er teilweise öfter feiern als ich. Dass sich das mit Beginn eines Studiums geändert haben sollte, bezweifelte ich. Ich befürchtete, dass er wegen mir nicht kam. Dann schlichen sich erneut die Worte aus dem Brief in meinen Verstand und stießen bitter auf.

Ich stopfte den cremfarbenden Strickpullover in meinen karierten Bleistiftrock. Die farblich passenden Overknees-Strümpfe zog ich nach oben. Nachdem ich mit den weißen Doc Martens und der schwarzen Umhängetasche das Outfit vervollständigt hatte, klickte ich auf Arians Profil, um ihm eine Privatnachricht zu senden.

Hey! Sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?
Lennja Reinhardt

Es nervte, dass Arian sich mit seinen Antworten so verdammt viel Zeit ließ. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, nicht auf ihn warten zu können. In der Küche verfrachtete Dina weiteres Obst in die Schale. Erst gestern war sie einkaufen. Sie bot mir auch regelmäßig an, mich daran zu bedienen. Ob ihr schlechtes Gewissen aus ihr sprach oder war sie genauso reich wie Larson Tahiri?

»Startklar?«, fragte ich und kontrollierte im selben Atemzug, ob Arian geantwortet hatte. Fehlanzeige.

Mein Outfit kommentierte sie mit einem Pfiff. Sie selbst trug eine einfache abgenutzte Jeans, ihre Lederjacke und ein lila Top, das in dem Farbton wie ihre Haarspitzen war. Es ähnelte ihrem Look von heute Morgen - oder war es derselbe?

Nickend nahm sie ihren Schlüssel vom Brett und stopfte ihr Portemonnaie in die Jackentasche. Eine Handtasche brauchte sie nicht.

»Warst du gestern Nacht noch feiern?«, fragte ich sie beiläufig, eigentlich nur, um ein Gespräch anzufangen.

Die simple Frage ließ Dina allerdings zusammenzucken. Ihre Augen wurden groß und sie schüttelte hektisch den Kopf. »Natürlich nicht! Ich würde dir mittlerweile echt Bescheid sagen, ich schwöre!« Sie dachte an den Vorfall am ersten Unitag zurück. Bei Partys war mir das nicht ganz so wichtig.

Ich legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Entspann dich. War nur eine Frage, weil du noch nicht da warst, als ich schlafen gegangen bin.«

»War joggen«, warf sie schnell ein. »Den Kopf frei bekommen.«

Ich brummte als Antwort. Innerlich fragte ich mich, ob es mir ebenfalls half, die Sache mit Arian nicht zu nahe an mich heranzulassen. Dazu müsste ich allerdings die Komfortzone verlassen, meine Decke zurücklassen und Schweiß und zottelige Haare in Kauf nehmen. Vielleicht in den Semesterferien, wenn ich neben dem Frühlingsfest nicht zur Uni musste.

Wir nahmen die Straßenbahn Richtung Innenstadt. Auf einem Sitzplatz direkt hinter einer Mutter mit seinem Sohn holte ich das Handy hervor. Keine Antwort von Arian. Ich checkte sein Profil, um seinen Onlinestatus zu kontrollieren. Verärgert stellte ich fest, dass er vor fünfzehn Minuten das letzte Mal online war. Die Nachricht traf mindestens zwanzig Minuten vorher ein. Der Harken hatte sich allerdings nicht blau gefärbt. Entweder hatte er diese Funktion ausgeschaltet oder er ignorierte mich stumpf. Nichtsdestotrotz musste er die Mitteilung in seinen Benachrichtigungen gesehen haben.

»Was ist los?«, fragte Dina. Das Fluchen war ihr nicht entgangen.

»Arian ignoriert mich. Ich wollte von ihm wissen, ob er wirklich nicht zur Party möchte oder es nur an mir liegt.«

Sie tätschelte mir mitleidig die Schulter. »Es liegt ganz sicher nicht an dir.«

Ich schüttelte mich, sodass sich ihre Hände von mir lösten. »Ach ja? Und warum ist er dann damals zu Schulzeiten feiern gegangen?« Sicher amüsierte er sich im Moment an einem anderen Ort. Einen, wo ich nicht mit meiner Anwesenheit glänzte.

»Wenn sie älter werden, ziehen sich viele zurück«, beharrte Dina weiterhin auf meine Unschuld.

»Trotzdem hätte er antworten können. Erst recht, wenn er vor fünfzehn Minuten online war.«

Mit einem tiefen Seufzen drückte sie sich gegen ihre Sitzlehne. Ein Piepen durchschnitt die Stille, weil sich die Türen öffneten. Der Gestank von Abgasen trug sich in die Straßenbahn. »Hast du schon mal mit ihm über alles gesprochen, was damals zwischen euch vorgefallen ist?«

Ich schüttelte den Kopf. Und je länger ich mich mit diesem Thema beschäftigte, desto scherwiegender kam mir der Fehler vor. Was, wenn er demnächst wirklich in eine Sekte einstieg? Meine Anwesenheit erinnerte ihn vielleicht an seine Einsamkeit. Das ertrug ich sicher nicht.

»Dann weißt du, was zu tun ist.« Leider war das nicht so leicht. Dem Gespräch wich ich nicht grundlos aus. Mir kam es so vor, eine Unterhaltung war so schwer, weil mittlerweile viel Zeit verstrichen war. Wo ansetzen? Wie erklärte ich die Tatsache, es über all die Jahre vor ihm geheim gehalten zu haben? Verstand er meine Geschichte überhaupt? Wenn ich einen weiteren Brief in den Kummerkasten warf, erreichte er ihn? Oder fand der Briefwechsel zwischen uns nur in meinem Kopf statt?

Ich rieb mir die schwitzigen Finger trocken. In diesen Brief sprach ich gegen eine Wand. Und die Antwort war nur eine Brise im Wind. Sie existierte, beeinflusste mein Leben aber nicht schwerwiegend. Außer, ich stellte mich auf ein Springseil, das über einen Abgrund gespannt war. Ein Gespräch mit Arian wird meinem Leben auf jeden Fall einen Stoß verpassen - und ich sorgte mich, in den Abgrund gerissen zu werden.

𓆈

AN:
Wer ist bereit für den Frühling und das Frühlingsfest, das bald ansteht? :)

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